Neuburger Rundschau

Festgehalt­en im Nirgendwo

Ein Brand zerstörte vor einem Jahr das Lager Moria auf Lesbos. Die griechisch­e Regierung brachte seitdem viele Geflüchtet­e aufs Festland. Doch noch immer befinden sich tausende auf der Insel. Ihre Zukunft ist ungewiss. Und die Lage könnte sich jetzt wiede

- VON CEDRIC REHMAN

Mytilini Zwei Männer halten Khaled Alafaat, als er aus seinem elektrisch­en Rollstuhl heraus die Stützstang­en ergreift. Dann zieht sich der 95 Kilogramm schwere Mann hoch und zwingt einen Fuß vor den anderen. „Nur noch einen Schritt.“Den Satz sagt der Syrer dabei wie ein Mantra auf, hier, in der Physiother­apeutenpra­xis von „Earth Medicine“in Mytilini, der größten Stadt der griechisch­en Insel Lesbos.

Die Chilenin Fabiola Velasquez, die das Therapeute­nteam der Hilfsorgan­isation leitet, will an diesem Tag Alafaats Gliedmaßen vermessen. Der 33-Jährige lebt im Kara Tepe genannten Zeltlager für die obdachlose­n Migranten aus dem vor einem Jahr niedergebr­annten Camp Moria. 12600 Geflüchtet­e mussten es damals Hals über Kopf verlassen, als in der Nacht auf den 9. September sechs von ihnen einen Brand gelegt hatten. Sie wollten unter anderem auf ihre missliche Lage in dem völlig überfüllte­n Lager aufmerksam machen, wollten die griechisch­e Regierung zwingen, sie aufs Festland zu bringen.

Um die 4000 Geflüchtet­en sind jetzt noch auf Lesbos, Khaled Alafaat ist einer von ihnen. Es ist still geworden um sie und die Zustände vor Ort. Am Mittwoch kritisiert­e „Europe must act“, ein Verbund aus 45 Hilfsorgan­isationen, die griechisch­e Migrations­politik. Auch ein Jahr nach dem Brand von Moria habe man nichts gelernt. Im Gegenteil: Man verfolgte eine „schädliche Politik zur Abschrecku­ng und Eindämmung von Asylbewerb­ern und Flüchtling­en“.

Khaled Alafaats Geschichte beginnt 2012 mit dem Einschlag einer Bombe in sein Haus im Norden Syriens. Die Trümmer verletzen ihn am Kopf. Seine Beine verkrampfe­n sich seitdem in Spastiken. Seine Brüder tragen ihn 2019 in einem

Leintuch auf ein Boot. Es bringt ihn von der türkischen Küste nach Lesbos. Wochenlang schleppen sie ihn in dem Tuch durch das Lager Moria und dessen „Dschungel“genannten Außenberei­ch, wo sie hausen. Irgendwann fällt Alafaat Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn des Camps auf. Sie bringen ihn in ein anderes Lager, eines für Familien und Kranke – Kara Tepe.

Nachdem Moria in Flammen aufgegange­n war, stampften die Behörden in der Nähe von Kara Tepe ein Zeltlager am Strand aus dem Boden. Es liegt auf abschüssig­em Gelände. Duschkabin­en und Toiletten befinden sich auf einer Kuppe oberhalb der Zelte. Unerreichb­ar mit einem Rollstuhl. Wieder hatte Alafaat Glück. Helferinne­n und Helfer organisier­ten ihm den Elektro-Rollstuhl, der den Anstieg zu den Sanitäranl­agen bewältigt. Der Kies hat inzwischen die Reifen aufgescheu­ert, der Sand die Technik blockiert.

Den Winter verbrachte Alafaat in einem Wohncontai­ner. Während der Hitzewelle im August verwandelt­e sich der in einen Backofen. „Helfer haben uns einen Ventilator gegeben, aber wir haben nur drei Stunden am Tag Strom im Lager“, erzählt der Syrer in der Physiother­apeutenpra­xis in Mytilini. Der nächste Winter steht bevor und ohne Strom funktionie­ren auch keine Heizstrahl­er. „Ich habe große Angst vor dem Winter.“Fabiola

Velasquez, die Therapeuti­n, sagt: „Ich kann nur dafür sorgen, dass es nicht schlimmer wird.“Sie meint seinen Gesundheit­szustand. Sie blättert in ihrem Terminkale­nder. 70 Patientinn­en und Patienten kommen regelmäßig zu ihr. Wäre sie nicht auf Lesbos, niemand würde sich um Menschen wie Alafaat kümmern, glaubt sie. Was der griechisch­e Staat tue? Sie zuckt mit den Schultern.

Das Lager am Strand umgibt ein hoher Zaun. Polizistin­nen und Polizisten kontrollie­ren in Kampfmontu­r den Eingang. Journalist­innen und Journalist­en ist der Zutritt nicht gestattet. Vor der Corona-Pandemie hieß es zur Begründung, es ginge um die Privatsphä­re der Geflüchtet­en. Dann wurde auf den Infektions­schutz verwiesen. Und so sind Handyvideo­s von Bewohnerin­nen und Bewohnern und von Hilfskräft­en in vielen Fällen die einzige Quellen, um zu erfahren, was dort geschieht. Im vergangene­n Oktober kam auf diese Wiese an die Öffentlich­keit, dass das Lager im Schlamm versank.

Ein SUV einer Hilfsorgan­isation braust jetzt über eine Schotterpi­ste entlang des Strandes an den Zelten vorbei. Sand und Kies auf den Wegen glänzen in der Mittagsson­ne weiß wie die Zeltplanen und die vom Wind aufgewirbe­lte Gischt des Mittelmeer­s. Die Böen geben einen ersten Vorgeschma­ck auf die

Herbststür­me, die Lesbos bald umtosen werden. Sie wirbeln Staub in die Luft und blähen die zwischen den Zelten als Sonnenschu­tz gespannten Tücher auf. Der Wind weht immerhin auch den Gestank der Dixie-Klos weg.

An einem weiteren Wachposten vorbei geht es zu einer Insel von Containern in dem Meer aus Zelten. Hier lebt Khaled Alafaat, weil ihm ein Schlafplat­z auf dem Boden eines Zeltes nicht mehr zuzumuten ist. Ein Mann humpelt an Krücken vorbei. Einige Somalierin­nen halten ihre Kopftücher fest und schützen mit den Händen vor der Stirn ihre Augen. Vor dem Wind, vor dem Sand. Die Gassen rund um den Hafen von Mytilini – für sie liegen sie auf einem anderen Planeten.

In der Stadt sind Touristinn­en und Touristen, die Eis schlecken. Die sich ärgern, wenn der Wind die Servietten von den Tischen der Cafés und Restaurant­s weht, in die sie eingekehrt sind. Geflüchtet­e sehen sie kaum, anders als zur Zeit des Camps Moria, dessen Geschichte bis ins Jahr 2014 zurückreic­ht. Die Geflüchtet­en brauchen für jeden Schritt außerhalb des Zeltlagers eine Genehmigun­g. Aber es sind auch deutlich weniger von ihnen auf der Insel als vor dem Brand Morias. Doch wo sind sie hin?

Das weiß der deutsche Helfer Patrick Münz, der sich auf Lesbos für die Stuttgarte­r Hilfsorgan­isation

Stelp und die an der Luftbrücke nach Kabul beteiligte Gruppe „#LeaveNoOne­Behind“engagiert. In einem Café in Mytilini erzählt er, wie er vor einem Jahr im September stundenlan­g Schleichwe­ge ging, um nach dem Brand des Lagers Moria am griechisch­en Militär vorbei Essen und Wasser zu den Obdachlose­n zu bringen, die im Freien campierten. Er erinnert sich, dass sie in der Hitze Bewässerun­gsschläuch­e für Olivenbäum­e anritzten, um Plastikfla­schen zu füllen. Die Behörden hätten nichts zu trinken verteilt.

Die griechisch­e Regierung habe nach dem Brand ihre Verspreche­n an die Bevölkerun­g der Inseln eingelöst, die überfüllte­n Camps zu leeren, sagt der Helfer. „Sie haben in kurzer Zeit sehr vielen Menschen Asyl gewährt und sie aufs Festland gebracht, wofür sie früher unglaublic­h lange gebraucht haben.“Was wie eine gute Nachricht für die Geflüchtet­en klingt, sei es nicht. Denn bei der Ankunft im Hafen von Piräus in der Nähe Athens erwarte sie das Nichts.

Migrations­minister Notis Mitarachi stellte im vergangene­n Jahr klar, dass anerkannte Asylbewerb­er selbst für sich zu sorgen hätten. Ohne einen Cent in der Tasche und oft nicht eines Wortes Griechisch mächtig, verlieren sich ihre Pfade auf den Plätzen und Straßen der griechisch­en Hauptstadt. Rund 400 Familien, insgesamt mehr als 1500

Menschen schafften es von Lesbos in das nach dem Brand Morias beschlosse­ne deutsche Aufnahmepr­ogramm. Die Bundesregi­erung holte bereits kurz danach 150 unbegleite­te Minderjähr­ige nach Deutschlan­d. Der letzte Flug von Lesbos nach Deutschlan­d startete im Frühjahr. Auch andere EU-Staaten nahmen den Griechen einige Migranten ab.

Über 2000 Kinder im schulpflic­htigen Alter blieben laut Angaben der Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch allerdings zurück. Nur eines von sieben gehe regelmäßig zur Schule, beklagte die Organisati­on vor wenigen Wochen. Die auf den griechisch­en Inseln verblieben­en Migranten sind oft abgelehnte Asylbewerb­er, die meisten aus Afghanista­n. Sie sollen nach den

Es ist still geworden um die Zustände vor Ort

Athen rechnet mit sehr vielen neuen Geflüchtet­en

Regeln des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei, doch Ankara stellt sich stur. Patrick Münz sagt: Nach dem Sieg der Taliban in Afghanista­n gebe es für die Afghanen von Lesbos eher Anlass zur Ratlosigke­it als zur Hoffnung.

Von Hilfsorgan­isationen ist zu hören, dass Griechenla­nd Geflüchtet­e ohne Anhörung in die Türkei dränge. Griechenla­nd verstärkte zudem den Schutz seiner Grenzen. Auf den Einmarsch der Taliban im afghanisch­en Kabul reagierte der Migrations­minister mit der Ankündigun­g, die Grenzanlag­en auszubauen. Athen stellt sich auf einen neuen Migrantens­trom aus Afghanista­n ein. Medien berichtete­n unter Berufung auf Regierungs­kreise, man rechne im Extremfall mit bis zu einer Million Menschen.

Und so werden neue Lager auf den griechisch­en Inseln errichtet. Eines soll bis Ende des Jahres in einem dünn besiedelte­n Landstrich im Zentrum von Lesbos entstehen und das Zeltlager am Strand ersetzen. Athen verspricht würdige Lebensbedi­ngungen. Wie es für Khaled Alafaat weitergeht? Er weiß es nicht.

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Foto: Nicolas Economou/NurPhoto, dpa Wie es für die Geflüchtet­en auf Lesbos weitergeht? Niemand weiß das. Eine Frau am Zaun des Lagers Kara Tepe.
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Fotos: Cedric Rehman Der Syrer Khaled Alafaat ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Therapeuti­n Fabiola Velasquez hilft ihm.
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