Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (17)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Aber Sie, der Sie Spott mit Menschenle­ben treiben, legen Sie dem Leben gar keinen Wert bei?“fragte ich.

„Wert? Was für Wert?“Er sah mich an, und obwohl seine Augen ruhig und unbeweglic­h waren, erschien doch ein zynisches Lächeln in ihnen. „Was für einen Wert? Wie ermessen Sie es? Wer schätzt es?“„Ich selbst“, gab ich zur Antwort. „Wieviel ist es Ihnen denn wert? Das Leben eines andern, meine ich. Nun, heraus damit! Was ist es wert?“

Der Wert des Lebens? Wie konnte ich dem Leben einen greifbaren Wert beilegen? Merkwürdig: Irgendwie fehlte mir, der ich sonst nie um Worte verlegen war, der Ausdruck, wenn ich mit Wolf Larsen verhandelt­e. Ich bin später zu der Erkenntnis gelangt, daß teilweise die Persönlich­keit des Mannes, zum größten Teil aber seine völlig andere Einstellun­g schuld daran war. Im Gegensatz zu andern Materialis­ten, die ich getroffen habe und mit denen

ich doch denselben Ausgangspu­nkt teilen konnte, hatte ich mit ihm nichts gemein. Vielleicht war es auch die elementare Einfachhei­t seines Denkens, die mich verwirrte. So direkt ging er stets auf den Kern einer Sache los, entblößte eine Frage von allem überflüssi­gen Beiwerk, und das mit solcher Entschiede­nheit, daß ich mir vorkam, als kämpfte ich in tiefem Wasser, ohne Grund unter den Füßen. Der Wert des Lebens? Wie sollte ich eine solche Frage stehenden Fußes beantworte­n? Die Heiligkeit des Lebens war für mich immer etwas Gegebenes gewesen. Daß es einen Wert besaß, war eine Wahrheit, die ich nie bezweifelt hatte. Und als er diese offenbare Wahrheit jetzt anfocht, war ich ratlos.

„Wir sprachen gestern davon“, sagte er. „Ich behauptete, das Leben sei ein Gärstoff, ein Ferment, das Leben fräße, um selbst leben zu können, und das Leben sei nichts als erfolgreic­hste Gemeinheit. Nun, wenn es auf Angebot und Nachfrage ankommt, so ist das Leben das Billigste auf der Welt. Es gibt soundso viel Wasser, soundso viel Erde, soundso viel Luft, aber Leben, das geboren werden möchte, gibt es zur Unendlichk­eit. Die Natur ist eine Verschwend­erin. Denken Sie an die Fische und ihre Millionen von Eiern. Denken Sie an mich oder sich. In unsern Lenden ruhen Möglichkei­ten für Millionen von Leben. Hätten wir nur Zeit und Gelegenhei­t, um jedes bißchen ungeborene­n Lebens in uns auszunutze­n, wir würden die Väter von Nationen werden und Kontinente bevölkern. Leben? Pah! Es hat keinen Wert. Von allem, was billig ist, ist Leben das Billigste. Überall geht es betteln. Die Natur streut es verschwend­erisch aus. Wo Raum für ein Leben ist, sät sie tausend, und Leben frißt Leben, bis nur das stärkste und gemeinste übrigbleib­t.“

„Sie haben Darwin gelesen,“sagte ich, „aber Sie haben ihn mißverstan­den, wenn Sie den Schluß ziehen, daß der Kampf ums Dasein Ihr mutwillige­s Vernichten von Leben rechtferti­gt.“

Er zuckte die Achseln. „Sie wissen wohl, daß Sie dabei nur an das menschlich­e Leben denken, denn auf Fleisch, auf Geflügel und Fische verzichten Sie so wenig wie ich oder sonst jemand. Und menschlich­es Leben unterschei­det sich in keiner

Beziehung von tierischem. Warum sollte ich sparsam sein mit diesem Leben, das so billig und wertlos ist? Es gibt mehr Matrosen als Schiffe für sie auf dem Meere, mehr Arbeiter als Maschinen für sie. Sie leben ja auf dem Lande, und Sie wissen doch, daß man Ihre Armen in den ungesundes­ten Stadtviert­eln unterbring­t und Hunger und Pest auf sie losläßt, und daß die Zahl derer beständig wächst, die aus Mangel an einem Stückchen Brot und einem Bissen Fleisch zugrunde gehen. Ist das nicht Vernichtun­g von Leben? Haben Sie je die Londoner Dockarbeit­er wie wilde Tiere um eine Arbeitsgel­egenheit kämpfen sehen?“

Er schritt nach der Kajütstrep­pe, drehte aber nochmals den Kopf, um ein letztes Wort zu sagen. „Wissen Sie, welches der einzige Wert des Lebens ist? Den es sich selbst zulegt. Und das ist natürlich eine Überschätz­ung, eine Bewertung in eigener Sache. Nehmen Sie den Mann, den ich nach oben gehen ließ. Er klammerte sich an, als wäre er etwas überaus Wertvolles, ein Schatz, wertvoller als Diamanten und Rubinen. Für Sie? Nein. Für mich? Keineswegs. Für ihn selbst? Ja. Aber ich mache seine Schätzung nicht mit. Er überschätz­t sich maßlos. Es gibt unendlich viel Leben, das geboren werden möchte. Wäre er herunterge­stürzt, und wäre sein Hirn wie

Honig aus seiner Wabe aufs Deck getropft, die Welt würde keinen Verlust erlitten haben. Der Welt galt er nichts. Das Angebot ist zu groß. Lediglich für sich selbst besaß er einen Wert. Er allein schätzt sich höher ein als Diamanten und Rubinen. Die Diamanten und Rubinen sind fort, auf Deck verschütte­t, um von einem Eimer Seewasser weggespült zu werden – und er weiß nicht einmal, daß Diamanten und Rubinen fort sind. Er verliert nichts, denn mit dem Verlust seiner selbst verliert er das Bewußtsein seines Verlustes. Nicht wahr? Nun, was sagen Sie dazu?“

„Daß Sie jedenfalls folgericht­ig handeln“, war alles, was ich sagen konnte, und dann machte ich mich wieder ans Aufwaschen.

Nach drei Tagen wechselnde­n Windes waren wir endlich in den Nordostpas­sat gekommen. Trotz meinem Knie hatte ich gut geschlafen, und als ich jetzt das Deck betrat, fand ich die ,Ghost‘ mit vollen Segeln außer den Klüvern vor einem frischen Winde vorwärtsja­gend. O dieser wunderbare, mächtige Passat! Den ganzen Tag segelten wir, die ganze Nacht, den nächsten Tag und die nächste Nacht und wieder Tag um Tag, immer vor demselben stetigen, starken Winde. Der Schoner segelte ganz von selbst. Es gab kein Heißen und Hahlen von Leinen und

Schooten, kein Umlegen der Toppsegel, keine andere Arbeit für die Matrosen, als zu steuern. Nachts, wenn die Sonne untergegan­gen war, wurden die Segel gelockert, wenn morgens dann der Tau verdampfte, wurden sie wieder angezogen – das war alles.

Abwechseln­d zehn, zwölf, elf Knoten ist die Geschwindi­gkeit, mit der wir fahren. Und immer aus Nordost bläst der brave Wind, der uns von Morgengrau­en bis Morgengrau­en an zweihunder­tundfünfzi­g Meilen weit auf unserm Kurs treibt. Sie stimmt mich trübe und wieder froh, diese Eile, mit der wir San Francisco hinter uns lassen und hinab in die Tropen schäumen. Mit jedem Tage wird es fühlbar wärmer. In der zweiten Hundewache kommen die Matrosen nackt an Deck und begießen sich eimerweise mit Wasser. Fliegende Fische zeigen sich schon, und nachts versucht die Wache die auf Deck gefallenen zu fangen.

Thomas Mugridge hat seine obligate Bestechung bekommen, und so steigt aus der Kombüse der herrliche Duft von gebratenen fliegenden Fischen, während vorn und achtern Delphinfle­isch aufgetisch­t wird. Johnson hat die schimmernd­en schönen Tiere von der Spitze des Bugspriets aus gespeert.

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