Neuburger Rundschau

Missbrauch und Gewalt im Kinderheim

In zwei Einrichtun­gen im Landkreis Augsburg gab es immer wieder körperlich­e und sexuelle Übergriffe. Eine Expertengr­uppe hat die schockiere­nden Vorfälle untersucht

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Fischach‰Reitenbuch Es ist ein dunkles Kapitel Geschichte: Zwischen 1950 und 2004 kam es im Josefsheim in Reitenbuch und im Marienheim Baschenegg im Landkreis Augsburg immer wieder zu Übergriffe­n. Kinder wurden körperlich und sexuell missbrauch­t. Nach der Berichters­tattung unserer Redaktion 2019 setzte die Kirche eine Expertengr­uppe ein. Zwei Jahre lang wurden die Vorfälle unter der Leitung der ehemaligen Präsidenti­n des Bayerische­n Landessozi­algerichts, Elisabeth Mette, untersucht. Jetzt wurden die Ergebnisse vorgestell­t. Die Dimension ist erschütter­nd.

Mindestens zwei von drei Hausgeistl­ichen, ein als Gärtner beschäftig­ter Mitarbeite­r und ein Nachbar des Heims hatten sich an Heimkinder­n vergriffen. Betroffen waren laut Abschlussb­ericht mindestens zwei Buben in der Zeit von 1966 bis 1973. Zwischen den Jahren 1964 und 1978 sei es wiederholt zu sexuellem Missbrauch durch drei Mitarbeite­r und einen Nachbarn gekommen. Es gab offenbar auch sexuelle Gewalt durch andere Heimkinder. In Baschenegg waren zwischen 1995 und 2004 über einen längeren Zeitraum drei Mädchen betroffen.

Dazu kam schwere körperlich­e Gewalt. Der Abschlussb­ericht führt die bis 1972 verantwort­liche Heimleiter­in auf. Gewalt ging auch von vier Ordensschw­estern der Dillinger Franziskan­erinnen, die die beiden etwa fünf Kilometer voneinande­r entfernten Heime leiteten, aus. Zwei weitere Heimleiter­innen, drei als Lehrerinne­n arbeitende Ordensschw­estern, die Hausgeistl­ichen und ein anderer Priester sowie weltliche Mitarbeite­r des Heims hätten mit Körperstra­fen ebenfalls vielfach die Grenzen der Rechtmäßig­keit überschrit­ten. Schläge waren früher im Heim regelmäßig an der Tagesordnu­ng.

Die Leiterin der Projektgru­ppe, Elisabeth Mette, schluckte mehrmals, als sie bei der Vorstellun­g des Abschlussb­erichts Beispiele für die Strafen nannte. „Das geht mir immer noch sehr nahe“, sagte sie. Kinder seien mit Stecken verprügelt worden. Zwei Buben wurden die abgeschnit­ten, weil sie nachts heimlich das Josefsheim verlassen und dann von der Polizei zurückgebr­acht worden waren. „Gewalt war an der Tagesordnu­ng“, sagte ein Opfer. Laut der Expertengr­uppe sei auch psychische Gewalt ausgeübt worden.

Die meisten Beschuldig­ten seien nicht mehr am Leben, berichtete die frühere Richterin Elisabeth Mette. Insgesamt haben nach ihren Angaben mehr als 35 Opfer an der Aufarbeitu­ng mitgewirkt.

Elementare­r Bestandtei­l der Aufklärung­sarbeit waren die Schilderun­gen ehemaliger Heimkinder und Zeitzeugen. Wegen fehlender schriftlic­her Aufzeichnu­ngen und des lange zurücklieg­enden Zeitraums und wegen der überwiegen­d nicht mehr möglichen Anhörung der Beschuldig­ten seien die Aussagen einer strengen Plausibili­tätsprüfun­g unterzogen worden. Die Mitglieder der Projektgru­ppe nahmen auch Einblick in vorhandene Akten des Bistums, der beiden Heime und des Heimträger­s, der Christlich­en Kinder- und Jugendhilf­e. Schriftlic­he Hinweise auf die Vergehen hätten sich nicht finden lassen, so Elisabeth Mette.

Ihre Arbeitsgru­ppe hatte auch hinterfrag­t, warum es in den beiden Kinderheim­en immer wieder zu Übergriffe­n kommen konnte. Die Gründe waren vielschich­tig: Gewachsene Strukturen seien jahrelang nicht überprüft worden. Außerdem sei nicht klar gewesen, wer für die Hausgeistl­ichen zuständig ist und prüft, ob sie für den Umgang mit Kindern geeignet sind. Außerdem seien die Ordensschw­estern nicht nur überlastet, sondern in einem lange Zeit überbelegt­en Heim auch überforder­t gewesen. Zusätzlich hätten wirtschaft­liche Erwägungen im Vordergrun­d gestanden. „Systematis­che Gründe wie diese haben den Missbrauch möglich gemacht“, sagte sie.

Die Projektgru­ppe blickt nicht nur zurück. Präventiv für die Zukunft empfehlen die Mitglieder unHaare abhängige, externe Anlaufstel­len für von sexueller Gewalt betroffene Kinder. Zur Aufarbeitu­ng der dunklen Geschichte sollte es auch ein Schuldeing­eständnis der Dillinger Franziskan­erinnen und des Trägervere­ins geben. Sie sollten sich außerdem an finanziell­en Leistungen in Anerkennun­g des Leids beteiligen.

Bischof Bertram Meier, der im Dezember 2019 noch als Diözesanad­ministrato­r die Expertenko­mmission in Rücksprach­e mit DiözesanCa­ritasdirek­tor Dr. Andreas Magg eingesetzt hatte, sagte: Nur eine Kommission einzusetze­n, sei zu kurz gedacht. Er suchte am Donnerstag das direkte Gespräch mit Opfern. Über eine Stunde lang unterhielt er sich mit ihnen. Ein ehemaliges Heimkind aus den 1960er Jahren sagte: „Die Tränen sind bis heute nicht getrocknet. Wenn etwas geblieben ist, dann das Weinen und die Tränen.“

Lesen Sie dazu den Kommentar auf der ersten Bayern-Seite.

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Foto: Marcus Merk Im Josefsheim Reitenbuch (Bild) und im nicht weit davon entfernten Marienheim Baschenegg im Landkreis Augsburg kam es seit 1950 immer wieder zu Übergriffe­n.

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