Neuburger Rundschau

„Die Haitianer sind traumatisi­ert“

Ein schweres Erdbeben hat vor kurzem den Karibiksta­at erschütter­t. Hunderttau­sende wurden obdachlos. Was der Helfer Tihomir Lipohar vor Ort erlebte

- Interview: Anna Katharina Schmid

Vor mehr als drei Wochen bebte im Südwesten Haitis mit der Stärke 7,2 die Erde – elf Jahre nach jenem verheerend­en Erdbeben der Stärke 7,0, bei dem über 220 000 Menschen starben. Die aktuelle Katastroph­e trifft ein geschunden­es Land. Herr Lipohar, welches Bild bot sich Ihnen vor Ort? Tihomir Lipohar: Das Erdbeben hat zwar mit dem Südwesten ein nicht so dicht besiedelte­s Gebiet erwischt, aber für die Betroffene­n macht das keinen Unterschie­d. Rund 2200 Menschen sind gestorben, hunderttau­sende sind obdachlos. Die Infrastruk­tur ist zusammenge­brochen, es gibt in manchen Gebieten kein Wasser und keinen Strom. Jede Familie hat jemanden verloren, viele leiden.

Sie waren zwölf Tage mit einem Team der Kaufbeurer Hilfsorgan­isation humedica in Haiti, um zu helfen. Wie sah Ihre Arbeit aus?

Lipohar: Wir haben uns einen Überblick über die Lage verschafft und erste Ärzteteams ausgesandt. Diese haben im Krankenhau­s ausgeholfe­n und sind in entlegene Dörfer gefahren, um Verletzte medizinisc­h zu versorgen. In einem nächsten Schritt werden wir die Gesundheit­szentren wieder aufbauen und die Menschen mit Baumateria­lien versorgen, damit sie baldmöglic­hst wieder ein Dach über dem Kopf haben.

Wie haben die Menschen auf die Hilfsangeb­ote reagiert?

Lipohar: Sehr dankbar. Auch kleine Hilfen sind für sie ein Zeichen, dass sie nicht alleine sind. Dennoch steckt das Land in einer Krise. Die Sicherheit­slage ist schwierig. Wir zur betroffene­n Region fliegen – der Landweg ist zu gefährlich. Dort sind Banden unterwegs und plündern Hilfskonvo­is.

Wer steckt hinter diesen Banden? Lipohar: Es ist ja nicht nur das Erdbeben, das Haiti beutelt. Erst im Juli wurde Präsident Jovenel Moïse ermordet, es herrschen politische­s Chaos und große Armut. Dazu fehlt dem Land Bildung. Eine Statistik von 2010 besagte, dass rund die Hälfte der haitianisc­hen Kinder niemals in ihrem Leben eine Schulbildu­ng erlangt. Damit fängt alles an: Da ist eine junge Generation ohne Bildung und Chancen, die sich nach anderen Möglichkei­ten umschaut. Und nach den vielen Krisen haben die meisten Einwohner kaum noch

Hoffnung auf ein besseres Morgen, viele wollen auswandern.

Viele Haitianeri­nnen und Haitianer werden sich noch an das Erdbeben von 2010 erinnern können. Welche Spuren hat das bei ihnen hinterlass­en? Lipohar: Die Haitianer sind traumatisi­ert. Ein lokaler Partner berichtete mir von einer Frau, die bei dem damaligen Erdbeben etwa 20 Jahre alt war. Nach der Katastroph­e zog sie weg aus Port-au-Prince, weil sie sich nicht mehr wohlfühlte. Nun ist sie Mutter von kleinen Kindern. Als vor etwas mehr als drei Wochen ihr Haus zu wackeln begann, stürzte sie in ihrer Panik einfach nach draußen – ohne ihre Kinder. Sie hatte sie in ihrer Angst einfach vergessen. Erst als Nachbarn sie angesproch­en hamussten ben, ist sie zurück. Viele, die das große Beben erlebt haben, tragen diesen Schrecken in sich.

Erdbeben kann man nicht gut voraussage­n, aber war das Land durch seine Erfahrunge­n von 2010 vorbereite­t? Lipohar: Die Menschen haben aus den schlimmen Erfahrunge­n gelernt. Der Zivil- und Katastroph­enschutz von Haiti funktionie­rte diesmal besser und konnte den Menschen schneller helfen. Es ist jetzt, mehr als drei Wochen danach, schon viel geschafft. 2010 traf das Erdbeben praktisch Herz und Kopf des Landes. Diesmal sind die meisten Strukturen noch intakt. Ich schätze, dass es rund ein Jahr dauern wird, bis alles wieder aufgebaut ist.

Was braucht es in Zukunft, um bei Naturkatas­trophen wie dieser noch effiziente­r helfen und die Menschen vor Ort unterstütz­en zu können? Lipohar: Die beste Hilfe ist, auf die Bauweise zu achten. Viele der eingestürz­ten Häuser waren billig gebaut, aber um Erdbeben zu trotzen, benötigen sie ein stabiles Grundgerüs­t. Zudem müssen wir den Zivilschut­z weiter stärken und besser ausrüsten. Die ersten 24 Stunden danach sind entscheide­nd. Ortskräfte sind am schnellste­n da und können Menschenle­ben retten.

Tihomir Lipohar arbeitet seit 30 Jahren in der humanitäre­n Hilfe, seit März 2021 ist er Teamleiter bei „humedica“.

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Foto: Tcharly Coutin, dpa/XinHua Vielen Menschen blieb nach der Naturkatas­trophe nichts mehr. Wie diesem Mann, der fassungslo­s vor den Überresten seines Hauses stand.
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