Heimat in Quadratmetern
Es wurde lange totgesagt. Doch mit der Pandemie keimt die Hoffnung: Hat das Landleben doch noch eine Zukunft? Und was bedeutet das für die Städte?
Eigentlich suchen doch alle dasselbe. Gemeinschaft, Austausch, Inspiration. Doch die Wege dorthin sind höchst unterschiedlich: Stefan Rinner zieht es in die Millionenmetropole Hamburg. Daniel Böhmer hofft, all das auf dem Land zu finden. Was treibt die beiden an? Und wer findet, was er sucht? Auf dieser Reise erzählen Menschen, welches Modell für sie Zukunft hat. Und was passieren muss, dass das so bleibt.
Hamburg. Stau schon am Ortseingang. Baustellen, Hupen, Warten. Dass die Metropole während der Corona-Krise fast stillzustehen schien: unvorstellbar. Links und rechts der Straße: volle Cafés, Restaurants, Geschäfte. Eine Parkbucht im Stadtteil Rotherbaum. Zwei Stunden, fünf Euro. Klingelschild: Rinner. Stefan Rinner. Er wohnt hier erst seit zwei Monaten. Ein schönes Altbauzimmer, 37 Quadratmeter, 818 Euro warm. Ein Glücksfall.
Wer im Internet nach Wohnungen in Rinners Nachbarschaft sucht, findet: eine Zweizimmerwohnung, 1500 Euro warm. Dachgeschosswohnung, 280 Quadratmeter, fast fünf Millionen Euro zum Kauf. Gehobene Lage, heißt es auf den Immobilienseiten.
Und dennoch: Rinner ist umgezogen. Trotz der hohen Mieten, trotz der hohen Lebenskosten. An der Universität hat er eine Vertretungsprofessur übernommen. Eigentlich hätte der 33-Jährige auch von seiner Heimat Südtirol aus arbeiten können. Alle Vorlesungen finden online statt, Besprechungen via Zoom. „Aber ich wollte wieder raus, neue Leute treffen, einfach etwas anderes sehen“, erzählt Rinner.
So wie Rinner geht es vielen Menschen. Jedes Jahr ziehen Tausende in die Stadt an der Elbe. Und sie wird weiter wachsen: „Das Bevölkerungswachstum wird sich voraussichtlich auch in den kommenden 15 Jahren fortsetzen“, heißt es vom Statistischen Amt für Hamburg. 2035 wohnen dann wohl über zwei Millionen Hamburgerinnen und Hamburger in der Stadt. Und anderswo wachsen die Städte genauso rasant. Wenn es um die Zukunftsfrage geht, wie wir wohnen werden, konzentrieren sich die Parteien vor allem auf eines: bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. In der CDU und bei der FDP hat man das Mantra ausgerufen: bauen, bauen, bauen. Nur wenn das Angebot größer wird, könnten auch die Preise sinken, glaubt man. Das denkt auch die SPD – hält es allerdings nicht für den einzigen Weg. Bestehende Mieten sollten stärker reglementiert werden, der soziale Wohnungsbau beschleunigt. Mietobergrenze, rufen die Grünen. Doch das ist eben nur eine Ebene
vielen. Wohnungen, Häuser, ja Stadtteile werden als eine Art Gesamtkunstwerk gedacht werden müssen, ein Konstrukt, das Wohnen, Arbeiten und Freizeit verbindet. „So werden sie nicht nur lebendiger, bunter und sozialer, sondern vor allem zukunftsfähiger – und profitabler“, analysiert das Zukunftsinstitut. Aber was heißt das für uns?
Ein Anruf bei Catherina Hinz. Sie leitet das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung und stellt klar: Zwar interessieren sich immer mehr Menschen für das Landleben, aber: „Wir müssen uns keine Sorgen machen, dass die Städte leergeflüchtet werden.“Gerade die Großstädte seien immer noch beliebt bei jungen Menschen, die zum Beispiel an einer Universität arbeiten möchten.
Wie Stefan Rinner. Einer, der freiwillig in die Stadt zieht. Er lädt zu einem kurzen Rundgang ein und wirkt dabei mehr wie ein Tourist, als ein Stadtteilbewohner. „Die Häuser hier erinnern mich an London“, sagt er. Schmale Treppen, die zu den Haustüren führen, kleine, runde Buchsbäume stehen im Vorgarten. Rinner schwärmt. Er mag sein neues Zuhause. Eines, das für viele Menschen unerschwinglich ist.
Nicht nur in Hamburg, sondern deutschlandweit sind die Mieten in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Der durchschnittliche Mietpreis bei neuen Mietverträgen liegt in Hamburg bei rund 13,50 Euro pro Quadratmeter. Innerhalb von vier Jahren ist er um mehr als zehn Prozent gestiegen. Wohnen in einer Großstadt? Manche können sich das nicht mehr leisten. Rund 1,1 Millionen Haushalten in Deutschland bleibt nach Abzug der Miete weniger als das Existenzminimum, heißt es in einer Studie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Es klingt paradox, aber: Die Zukunft der
Großstädte scheint gesichert, obwohl es die urbanen Zentren ihren Bewohnerinnen und Bewohnern nicht einfach machen. Wegen der hohen Mieten, wegen der Verkehrsprobleme und der hohen Lebenskosten. Am Ende überwiegen für viele Menschen immer noch die Vorteile. Oder wie Hinz es ausdrückt: „Es wird immer Menschen geben, für die das Stadtleben attraktiver ist.“
Wie sieht Rinner das? Als Akademiker könne man eigentlich nicht auf dem Land leben – zumindest in pandemiefreien Zeiten. Alle größeren Universitäten und Institutionen seien nun mal in der Stadt. Aber so ganz habe er das Landleben noch nicht abgeschrieben. Eigentlich, sagt er, hätte er in Zukunft gerne beides: „Die Anregungen in der Stadt, die Entspannung auf dem Dorf.“
Wer nach Visselhövede kommt, der fährt vorbei an Pferdekoppeln, Häusern aus rotem Backstein und durch lange Birkenalleen. Ein norddeutsches Idyll, mitten in Niedersachsen, nur wenige Kilometer von der Lüneburger Heide entfernt. Nach Hamburg im Norden braucht man mit dem Auto eine gute Stunde. Wohnen in Visselhövede? Das war für junge Menschen lange Zeit nicht attraktiv. Wer studieren wollte, zog in die Stadt – und blieb dort auch. Doch etwas hat sich geändert. Mittlerweile kehren viele junge Menschen nach Visselhövede zurück.
Am Ortseingang ragt ein bunter Container heraus. Ein Bretterverschlag, der zwischen all dem Backsteinrot und Wiesengrün auffällt. Daniel Böhmer ist heute zum ersten Mal da. Er arbeitet bei der Stadt als Bauingenieur und sein Arbeitsplatz ist heute: ein sogenanntes Coworking-Space. Vor allem Selbstständige, die keine eigene Bürofläche und keine Kollegen haben, nutzen es. Es gibt hier Natur, Getränke, Strom und natürlich: eine stabile Internetverbindung. Covon working-Spaces fand man lange nur in Städten. Bis die Pandemie das Wohnen und das Arbeiten veränderte. Plötzlich stand so ein Container auch hier, mitten in Visselhövede.
Die Forscherin Catherina Hinz sieht, wie überall im Land Projekte wie in Visselhövede entstehen. „Wir beobachten ein wachsendes Interesse am Leben außerhalb der Großstädte“, sagt die Leiterin des Berlin Instituts. Das sei zwar kein neues Phänomen, es sei schon lange so, dass junge Menschen und Studentinnen in die Städte zögen – und junge Mütter und Väter aufs Land. Doch etwas ist neu an dieser Entwicklung: „Menschen, die sich in der Großstadt bisher sehr wohlgefühlt haben, sehen zunehmend, dass der Freiraum, den sie in der Großstadt gesucht haben, schrumpft.“Stichwort: teure Mieten. Eine Chance für das Land?
Laura Röhrs ist in Visselhövede aufgewachsen, studiert jetzt im zweiten Semester Forstwirtschaft. Weil ohnehin alle Vorlesungen online stattfinden und ihre Kommilitoninnen wieder nach Hause zogen, ging auch Röhrs nach Visselhövede zurück. Im Container des Coworking-Spaces hat sie sich einen Platz gesucht. „Es ist toll, die Familie besuchen zu können und gleichzeitig bei der Arbeit aufs Grüne zu schauen“, sagt die Studentin.
Wenn es ums Leben auf dem Land geht, dann geht es auch ums Arbeiten. Corona hat hier eine Entwicklung, die bereits eingesetzt hatte, beschleunigt. Sechs Menschen sind heute ins Coworking-Space gekommen. Was sie gemeinsam haben: Sie lieben die Natur. Aber was nützen all die schönen Alleen, wenn sie nur zur langen Fahrt ins Stadtbüro dienen? „Viele Orte leiden darunter, dass sie Schlafdörfer sind, weil viele Menschen in die Städte pendeln“, sagt Hinz. Mit Projekten wie dem in Visselhövede, die ihre Einwohnerinnen und Einwohner halten, könne die Zukunft von Dörfern und Kleinstädten gesichert werden. „Dann lohnt sich vielleicht wieder der kleine Laden oder das Café, weil tagsüber Menschen vor Ort sind“, sagt Hinz. „Auch die freiwillige Feuerwehr kann dadurch eventuell neue Mitstreiter gewinnen.“Aber natürlich: Es komme auch auf die Initiative der Menschen an.
In Visselhövede hat das funktioniert. Das Coworking-Space ist eine Gemeinschaftsaktion, alle haben mitgeholfen. Der Landfrauen-Verein, die Stadt, eine Landwirtin. Forscherin Hinz sagt: Es braucht viele verschiedene Charaktere, um das Landleben langfristig attraktiver zu gestalten. Und, ganz wichtig, sagt Hinz: „Ohne die Unterstützung der Kommunen wird das System nicht gelingen.“
In Visselhövede waren sie kreativ, um die Zukunft auf dem Land zu sichern: Den Anstoß dazu gab die Corona-Pandemie. Studentin Röhrs sagt: „Was soll ich denn in der Stadt sitzen, wenn da eh nix stattfindet?“Kam mit Corona also die Rettung für die Dörfer? Soweit würde Hinz nicht gehen. Es sei „zu früh, um von einer Trendwende zu sprechen“.
Auch in Visselhövede ist man sich noch unsicher, wie es weitergeht. Das Coworking-Space war schließlich nur ein Testlauf. Drei Wochen lang stand es jedem offen, inzwischen wurde es wieder abgebaut. Schade, sagen die Macherinnen. Eine neue Idee haben sie aber schon: das alte Haus neben dem Coworking-Space. Es steht seit Jahrzehnten leer. Könnte man da nicht...