Das Parlament, das nichts zu sagen hat
Im autokratischen Machtsystem von Wladimir Putin spielt die Duma keine Rolle mehr. Warum ihn die Wahl dennoch nicht kalt lässt
Moskau Wladimir Putin steht nicht zur Wahl. Der Präsident kann sich am Wochenende also zurücklehnen, wenn in Russland knapp 110 Millionen Menschen aufgerufen sind, die 450 Abgeordneten der Staatsduma neu zu bestimmen. Zumal Putin längst alle Bindungen an Parteien und Parlamentarier gelöst hat. Manche in Moskau sagen, der Kremlchef schwebe mittlerweile über den Dingen – so wie einst die Zaren. Spätestens gelte das, seit Putin sich per Verfassungsänderung das Recht gesichert hat, zwei weitere Amtszeiten zu regieren. Bis 2036. Er stünde dann ähnlich lang an der Staatsspitze wie der erste Zar, Iwan der Schreckliche. Oder wie Peter der Große, der sich zum imperialen Kaiser krönen ließ. Putin würde Katharina die Große sogar um zwei Jahre übertreffen, die 1783 die Krim eroberte. Allesamt waren sie Autokraten. Alleinherrscher.
Für die Historikerin Irina Scherbakowa liegt ein anderer Vergleich näher. Im heutigen Russland sei es „fast schlimmer als zu Sowjetzeiten“, sagt die 72-Jährige. Entscheidungen im Kreml würden im Dunkeln getroffen. Von Putin und einem engen Kreis von Leuten aus den Sicherheitsstrukturen. Geheimdienst, Polizei, Militär. „Es ist vielleicht noch dunkler als damals im Politbüro“, sagt Scherbakowa. Und auch die Entscheidungen selbst seien „nur dazu da, das Regime zu schützen“. Gemeint ist die Zerschlagung jeder echten Opposition. Der Nowitschok-Anschlag auf Kremlkritiker Alexei Nawalny vor einem Jahr und seine Inhaftierung waren demnach nur die vorläufigen Endpunkte auf einem langen Weg. Die Kette der politischen Attentate in der Putin-Ära reicht vom Mord an der Reporterin Anna Politkowskaja (2006) über die Giftanschläge auf die Ex-Agenten Alexander Litwinenko und Sergei Skripal bis zu den tödlichen Schüssen auf den populären Oppositionspolitiker Boris Nemzow (2015).
Immer wieder ließ der Kreml auch Proteste mit Gewalt niederschlagen, zuletzt im Januar nach der Inhaftierung Nawalnys. Am heftigsten war es aber 2012, nach den Parlamentsund Präsidentschaftswahlen. Damals hatte Putin das Ende der Personalrochade mit seinem Vertrauten Dmitri Medwedew verkündet. Zugleich erklärte er offen, dass ohnehin immer er das Sagen gehabt habe. Auch in den vier Medwedew-Jahren. „Darauf hatten wir uns geeinigt“, bekannte Putin. Es war das Eingeständnis, dass die Menschen im Land nie eine echte Wahl hatten. Landesweit gingen zehntausende auf die Straßen und forderten: „Gebt dem Volk seine Stimme zurück!“Der Protest richtete sich vor allem gegen die Kremlpartei „Einiges Russland“, die sei eine „Partei der Gauner und Diebe“. Den Kampfruf erfand Nawalny, der die Demonstrationen mit anführte. Doch kaum war Putin wieder als Präsident vereidigt, ließ er die Proteste niederknüppeln. Und auch diesmal muss die Opposition unmittelbar vor der Abstimmung noch einen Rückschlag hinnehmen: Die Internetkonzerne Google und Apple entfernten eine Protestwahl-App Nawalnys aus ihren Appstores. Das Team des Kremlkritikers sprach von einem „beschämenden Akt der politischen Zensur“.
2012 also hatte die Duma den letzten Rest an politischer Bedeutung verloren. Putin-Gegner Michail Chodorkowski, der zehn Jahre im Gefängnis saß, bevor er ins Exil ausreisen durfte, hält es deshalb für sinnlos, an der bevorstehenden Duma-Wahl teilzunehmen. Putin spucke auf die Abstimmung. Der Kreml habe „nicht einen einzigen Kandidaten zugelassen, der ihn kritisiert“. Tatsächlich sitzt in der Duma aktuell kein einziger echter Oppositionspolitiker. „Einiges Russland“verfügt über eine Zweidrittelmehrheit. Aber auch Kommunisten, Sozialisten und Nationalisten gehören zur sogenannten systemischen Opposition, die den Präsidenten unterstützt. Manche Beobachter fühlen sich an die berühmten „Potemkinschen Dörfer“erinnert. Einer historischen Anekdote zufolge ließ der Feldmarschall Grigori Potemkin im 18. Jahrhundert Dorfattrappen bauen, um die durchreisende Zarin Katharina zu beeindrucken. Die Duma wäre demnach Teil einer bloßen Fassadendemokratie.
Die Berliner Russland-Experten Boris Ginzburg und Alexander Libman sprechen lieber wissenschaftlich von einem „elektoral-autoritären System“. Soll heißen: Es wird gewählt, es gibt ein Parlament – aber am Ende entscheidet die höchste Autorität. Also Putin. Gleichwohl sind Ginzburg und Libman überzeugt, dass der Präsident die Abstimmung am Wochenende keineswegs gemütlich abwarten kann.
Vielmehr gebe die Duma-Wahl der Führung in Moskau „besonderen Anlass zur Sorge“. Ein ähnlich klarer Sieg von „Einiges Russland“wie 2016, als das Regime vom Euphorieschub der Krim-Annexion profitierte, sei keineswegs sicher. Richtig ist, dass selbst das staatliche Institut Wziom der Kremlpartei nur rund 30 Prozent Zweitstimmen voraussagt. Da Einiges Russland aber die allermeisten Direktmandate erringen dürfte, gilt eine absolute Mehrheit als sicher. Der Rest der Sitze fiele erneut an die Systemopposition.
Ginzburg und Libman glauben dennoch, dass der Kreml „sein reiches Repertoire an manipulativen und repressiven Maßnahmen“ausschöpfen muss, damit sich die Unzufriedenheit im Land nicht doch noch Bahn bricht. Verantwortlich für das Stimmungstief, das sogar den ansonsten populären Putin trifft, sind vor allem der wirtschaftliche Niedergang und die wachsenden sozialen Verwerfungen.
Seit 2013 ist das Bruttoinlandsprodukt um ein Fünftel geschrumpft. Pro Kopf erwirtschaften die Menschen in Russland nur etwa ein Drittel dessen, was in Italien produziert wird. Auch die Reallöhne stagnieren. Beim Einkommensniveau hat inzwischen sogar das zweitärmste EU-Land Rumänien das riesige, rohstoffreiche Russland überholt. Vor diesem Hintergrund verkündete Putin kürzlich die Zahlung einer einmaligen Corona-Prämie an Soldaten und Polizisten von umgerechnet 170 Euro. Rentner und Familien bekommen 115 Euro. Das Geld wird in diesen Tagen überwiesen, pünktlich zur Wahl.