Jack London: Der Seewolf (24)
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Meine Aufgabe ist, ihn zu unterhalten, und solange ich das tue, ist alles gut; langweile ich ihn aber oder überkommt ihn eine seiner düsteren Launen, so werde ich sofort wieder vom Kajütentisch in die Kombüse gejagt und muß mich noch glücklich preisen, wenn ich mit dem Leben und mit heilen Gliedern davonkomme.
Allmählich erkenne ich immer mehr die Einsamkeit des Mannes. Nicht einer an Bord, der ihn nicht haßt und fürchtet, nicht einer, den er nicht verachtet. Die ungeheure Kraft, die in ihm ruht und nie eine würdige Verwendung gefunden hat, scheint ihn zu verzehren. So würde Luzifer sein, wäre der stolze Geist zur Gesellschaft seelenloser, langweiliger Geister verbannt. Die Einsamkeit ist schon schlimm an sich, noch schlimmer aber ist, daß ihn die ursprüngliche Schwermut seiner Rasse bedrückt. Seit ich ihn kenne, verstehe ich die alten skandinavischen Mythen besser. Die weißhäutigen, blonden Wilden waren aus
demselben Stoff gemacht wie er. Die Leichtfertigkeit lachlustiger Lateiner hat keinen Teil an ihm. Lacht er, so ist es nur eine Laune, nichts als reißende Wildheit. Aber er lacht selten; zu oft ist er schwermütig. Und es ist eine Schwermut, die ebenso tief wurzelt wie seine Rasse selbst. Sie ist ihr Erbteil, diese Schwermut, die sein Geschlecht nüchtern, rein und fanatisch sittsam gemacht, und die in ihrer letzten Ausstrahlung ihren Höhepunkt in der reformierten Kirche der Engländer gefunden hat.
In der Tat: die Religion in ihren düstersten Formen war die letzte Folgerung dieser Schwermut. Aber der Ersatz, den eine solche Religion schenkt, ist Wolf Larsen versagt. Sein brutaler Materialismus läßt keinen Raum dafür. So bleibt ihm, wenn ihn seine düstere Stimmung überkommt, nichts übrig, als teuflisch zu sein. Wäre er nicht ein so entsetzlicher Mensch, ich könnte zuweilen Mitleid mit ihm haben, wie zum Beispiel vor drei Tagen, als ich morgens überraschend in seine
Kajüte trat, um die Wasserflasche zu füllen. Er sah mich nicht. Sein Kopf war in den Händen vergraben, seine Schultern zuckten krampfhaft, und als ich mich leise zurückzog, hörte ich ihn stöhnen: „Gott! Ach Gott!“Nicht etwa, daß er Gott angerufen hätte, es war ein Wort, das an niemand gerichtet war, ihm aber aus tiefster Seele kam.
Bei Tisch fragte er die Jäger nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen, und abends taumelte er halb blind in der Kajüte herum.
„Ich bin nie in meinem Leben krank gewesen, Hump“, sagte er, als ich ihm in seine Koje half. „Und ich habe auch noch nie Kopfschmerzen gehabt, außer in der Zeit, als mein Kopf heilte, nachdem ich mir aus Unvorsichtigkeit ein sechs Zoll großes Loch mit dem Ankerspill hineingeschlagen hatte.“
Drei Tage dauerten die entsetzlichen Kopfschmerzen, und er litt, wie ein wildes Tier leidet, und wie man auf diesem Schiffe zu leiden scheint: klaglos, mitleidlos, ganz allein. Als ich aber heute morgen seine Kajüte betrat, um sein Bett zu machen und aufzuräumen, fand ich ihn wohlauf und mitten in der Arbeit. Tisch und Koje waren mit Plänen und Berechnungen übersät. Mit Zirkel und Winkel zeichnete er eine große Skala auf einen großen Bogen Pauspapier.
„Hallo, Hump!“begrüßte er mich heiter.
„Ich mache gerade die letzten Striche. Wollen Sie sehen?“„Was ist das?“fragte ich. „Eine Anleitung für Seeleute, die Zeit erspart und Navigieren zu einem Kinderspiel macht“, antwortete er heiter. „Von heute an ist jedes Kind imstande, ein Schiff zu steuern. Keine verwickelten Berechnungen mehr! Alles, was man braucht, ist ein Stern am Himmel in dunkler Nacht, um sofort zu wissen, wo man ist. Sehen Sie, ich lege die Pauspapierskala auf diese Sternenkarte und lasse sie sich um den Nordpol drehen. Auf der Skala habe ich die absoluten Höhenkreise und die Peilungslinien verzeichnet. Ich habe nichts weiter zu tun, als sie auf einen bestimmten Stern einzustellen, die Skala zu drehen, bis sie sich den Zahlen unten auf der Karte gerade gegenüber befindet, und: Eins, zwei, drei! Da haben wir die genaue Lage des Schiffes!“
In seiner Stimme war ein triumphierender Klang, und seine Augen, die an diesem Morgen klar und blau wie die See waren, funkelten.
„Sie müssen viel von Mathematik verstehen“, sagte ich. „Wo sind Sie zur Schule gegangen?“
„Ich hab’ nie eine Schule von innen gesehen – leider. Hab’ alles selbst ausgraben müssen.
Und warum, glauben Sie, hab’ ich die Sache hier gemacht?“fragte er unvermittelt. „In der Hoffnung, meine Spur im Sande der Zeit zu hinterlassen?“Er lachte sein schreckliches, höhnisches Lachen. „Keineswegs. Ich will es mir patentieren lassen und Geld damit verdienen, um die Nächte zu durchprassen, während andere arbeiten. Das ist meine Absicht. Aber die Geschichte hat mir auch Freude gemacht.“„Schaffensfreude“, bemerkte ich. „So müßte es wohl heißen. Wieder eine Ausdrucksweise für die Freude des Lebens, weil es lebt und wirkt, für den Triumph der Bewegung über die Materie, des Lebendigen über das Tote, für den Stolz der Hefe, weil sie Hefe ist und kriecht.“
Ich hob die Hände in hilflosem Protest gegen seinen eingewurzelten Materialismus und machte mich daran, die Koje in Ordnung zu bringen. Er fuhr fort, Linien und Ziffern auf die transparente Skala zu zeichnen. Es war eine Aufgabe, die äußerste Genauigkeit erforderte, und ich mußte bewundern, wie er seine Kraft zügelte und der nötigen Feinheit und Aufmerksamkeit anpaßte.
Als ich das Bett gemacht hatte, überraschte ich mich dabei, wie ich ihn fasziniert ansah. Er war sicher schön – schön als Mann. Und immer wieder wunderte ich mich, daß sein
Antlitz nicht die Spur von Verderbnis oder Lasterhaftigkeit zeigte. Es war das Gesicht eines Mannes, der kein Unrecht tat. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich meine, es war das Gesicht eines Mannes, der nichts tat, was er nicht vor seinem Gewissen verantworten konnte, oder – der überhaupt kein Gewissen hatte. Ich neige dazu, letzteres zu glauben. Er war ein prachtvoller Atavismus, ein Mensch, so primitiv, wie die Welt ihn vor Entwicklung der Moral gesehen. Er war nicht unmoralisch, sondern ganz morallos.
Wie gesagt, er war schön als Mann. Sein glattrasiertes Gesicht ließ jeden Zug hervortreten, und es war rein und scharf geschnitten wie eine Kamee. Sonne und Meer hatten die ursprünglich helle Haut zu einem dunklen Bronzeton gebräunt, der von Kampf und Streit zeugte und sowohl Wildheit wie Schönheit noch erhöhte. Seine Lippen waren voll, aber doch von der Herbheit, die sonst dünnen Lippen eigen ist. Mund, Kinn und Kinnbacken zeugten ebenfalls von Festigkeit und Härte, gepaart mit männlicher Wildheit und Unbezähmbarkeit – ebenso die Nase. Es war die Nase eines Menschen, der geboren war, zu erobern und zu herrschen. Sie erinnerte an einen Adlerschnabel.