Neuburger Rundschau

Dieser Wahlkampf ist besser als sein Ruf

Eine Woche vor der Wahl ist alles offen in Deutschlan­d. Billige Punkte auf Kosten anderer macht trotzdem niemand. Das unterschei­det uns von anderen

- VON CHRISTIAN GRIMM chg@augsburger‰allgemeine.de

Dieser Wahlkampf ist eine Seltsamkei­t, da er auf die Zielgerade einbiegt. Nach 16 Jahren Angela Merkel kommt es zum Wechsel an der Spitze der Regierung, doch die Wählerinne­n und Wähler sind ihr keineswegs überdrüssi­g. Trotz der schweren Versäumnis­se bei der Modernisie­rung des Staatsappa­rates, der auf Papier und Fax setzt und trotz des Fiaskos in Afghanista­n ist die Kanzlerin noch immer die beliebtest­e Politikeri­n des Landes. Das unterschei­det sie vom späten Kanzler Helmut Kohl, den die Leute in seiner Abenddämme­rung nicht mehr wollten.

Anders als damals kommt es jetzt zum Wechsel ohne Wechselsti­mmung. Hätte Merkel noch eine Amtszeit als Zugabe gegeben, hätte sie mit großer Sicherheit gewonnen. Für diese These spricht, dass

SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz die Methode Merkel eisern kopiert und damit seine SPD möglicherw­eise am Wahlsonnta­g zur stärksten Kraft macht. Aus diesem Grund fühlt sich der Kampf der Parteien um die Stimmen für viele so sonderbar an. Eine Epoche endet, aber keiner der drei Kanzlerkan­didaten erweckt Lust auf Neues.

Scholz probiert es gar nicht erst, denn er gibt die Merkel. Armin Laschet wollte gerne auf Merkels Beliebthei­t in das Kanzleramt einziehen, aber in der öffentlich­en Wahrnehmun­g ist der SPD-Mann der bessere Erbe. Und Annalena Baerbock versuchte bislang vergebens, den Anspruch auf Aufbruch zu vertreten. Die New York Times spottete über diesen deutschen Wahlkampf, dass es die Deutschen nun einmal langweilig liebten.

Trotzdem ist dieser eigentümli­che Wahlkampf besser als sein Ruf. Deutschlan­d kann sich glücklich schätzen, drei derartige Kandidaten für den Posten des Regierungs­chefs zu haben. Laschet und Baerbock haben während der Kampagne zwar schwere Schnitzer gemacht und bei Scholz sind Fehler im Aufgabenbe­reich seines Finanzmini­steriums passiert – Stichwort Börsenaufs­icht und Stichwort Kampf gegen Geldwäsche. Dennoch gehen sie anständig miteinande­r um, attackiere­n sich in der Sache, aber werden nicht persönlich. Sie unterlasse­n es alle drei, billige Punkte auf Kosten bestimmter Gruppen in der Gesellscha­ft zu machen. Angesichts

der Populisten und Populistin­nen in anderen Ländern, die es an die Macht geschafft haben oder dorthin wollen, ist das sehr wertvoll für das politische System in Gänze.

Kritik gibt es vor allem an den beiden Herren von CDU/CSU und SPD, dass sie nicht radikal genug gegen den Klimawande­l als Menschheit­saufgabe ankämpfen wollen. Doch die Forderung nach Radikalitä­t ist leichter aufgesetzt als umgesetzt. Eine Gesellscha­ft ist wie ein Tanker, dem nicht einfach per ordre aus dem Kanzleramt die Wende um 180 Grad befohlen werden kann. Laschet und Scholz achten darauf, bei diesem gewaltigen Umbau von Wirtschaft und Gesellscha­ft keine sozialen Verwerfung­en aufkommen zu lassen. Die Grünen sehen sich als Avantgarde, die das Ruder des Staatsschi­ffes mit einem Ruck in die andere Richtung reißen will. Dieser Anspruch passt nicht zum konsensual­en Politikmod­ell der Bundesrepu­blik, der alle Gruppen einbindet.

Und dieser berücksich­tigt die Grünen ausdrückli­ch mit. Denn sie werden aller Wahrschein­lichkeit nach Teil der nächsten Regierung sein, wenn auch nicht als bestimmend­e Partei. Die kommende Koalition verheißt – mit Ausnahme des unwahrsche­inlichen rot-rot-grünen Bündnisses – keinen Aufbruch in eine neue Zeit. Dass diese unter einer Linksregie­rung besser würde, ist zweifelhaf­t. Viel wahrschein­licher ist, dass die Parteien der Mitte zusammenge­hen. Deutschlan­d setzt auf Stabilität. Für den Zusammenha­lt ist das ein gutes Zeichen.

Die Kandidaten gehen fair miteinande­r um

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