Jetzt zählt jede Haustüre
Selbst Partei-Promis der Union verlieren am Sonntag möglicherweise ihr Direktmandat. Im Münchner Westen geht es besonders eng zu. Dort könnte es der CSU-Kandidat zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht schaffen. Auf Klingel-Tour im Wahlkampfendspurt
München Nur eine Türe trennen den Mann draußen und das Paar drinnen, das sich gerade zum Abendessen an den Tisch gesetzt hat. Der Mann steht an der Gartentüre des Einfamilienhauses im Münchner Stadtteil Laim und klingelt. Eine Frau öffnet, „Hallo ich bin der Dieter Janecek von den Grünen“, sagt der Mann und macht einen Schritt nach vorne. Die Frau, Susanne Topitsch, steht in Hausschuhen da, kaut und sagt dann: „Sorry, ich hab noch einen Rest Nudeln im Mund.“Dann lacht sie. „Ja hallo, den Herren kennen wir doch!“
Wer ihn nicht sofort erkennt oder an einem von hunderten Plakaten mit seinem Gesicht darauf vorbeigekommen ist, dem erklärt Janecek gerne, wer er ist: 45 Jahre alt, Vater von drei Kindern, seit 2013 im Bundestag und Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion für Industriepolitik und digitale Wirtschaft. Vor allem aber: Direktkandidat der Grünen für den Bundestag im Wahlkreis München-West/Mitte.
Es ist einer von vielen hart umkämpften Wahlkreisen in diesem Bundestagswahlkampf. Besonders eng werde es vielerorten dabei für CSU und CDU, berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Zahlreiche Unionspolitikerinnen und -politiker müssten fürchten, bei der Wahl am nächsten Sonntag kein Direktmandat zu gewinnen. Darunter selbst Prominente wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Wirtschaftsminister Peter Altmaier oder Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Die Zeitung verwies auf aktuelle Projektionen der Analysefirmen Wahlkreisprognose und Election.
Auf jede Wählerstimme wird es auch in München-West/Mitte ankommen, wo Dieter Janecek, Seija Knorr-Köning, 27 (SPD), und Stephan Pilsinger, 34 (CSU), gegeneinander antreten. Pilsinger sitzt seit 2017 als Abgeordneter im Bundestag und gewann das Direktmandat vor vier Jahren mit 33,3 Prozent der Erststimmen. Dass die CSU das Direktmandat im Münchner Westen holt, hat fast schon Tradition – seit 1976 ist das dort so.
In diesem Jahr könnte es anders sein, und diese historische Chance motiviert den Grünen Janecek ungemein, als er am vergangenen Montagabend mit acht Unterstützerinnen und Unterstützern loszieht, um an den Haustüren des Stadtteils Laim zu läuten. An diesem Tag führen die Grünen laut einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts INSA für die Bild in drei von fünf Wahlkreisen in Stadt und Land München. Janecek liegt bei 23 Prozent, Knorr-Köning bei 22, Pilsinger bei 21. Die Zahlen ändern sich von Umfrage zu Umfrage, alles ist noch möglich, für alle.
„Team Janecek“teilt sich in Zweiergruppen auf, jeweils ausgerüstet mit grünen T-Shirts, Flyern und einem Klemmbrett, auf dem die kontaktierten Haushalte notiert werden. Der Kandidat trägt rosafarbene leichte Schuhe ohne Sohle, die sich dem Fuß anpassen. Es ist ruhig in Laim. Um die 20 Sekunden dauert ein Haustürbesuch in der Regel nur. Begrüßung, Flyerübergabe und „Einen schönen Abend noch“. Nach etwa zehn Häusern sagt er mit breitem Lächeln: „Also hier gewinnen wir mit 80 Prozent.“Bis zum Ende des Wahlkampfs wollen die Grünen rund 20000 Haushalte in München-West/Mitte abgeklappert haben. Am vergangenen Montag waren es bereits etwa 16 000.
Janecek ist rund eine Stunde unterwegs, als er auf einen älteren Mann trifft. „Freistaat Bayern“steht auf einem Blechschild an der Hauswand. Der Rentner, so stellt schnell heraus, mag weder die CSU noch die Grünen, die CoronaPandemie hält er für eine Erfindung. Janecek reagiert gelassen. „Das kommt vor“, sagt er hinterher, zuckt mit den Schultern und geht eine Haustüre weiter. Manchmal werde man in Diskussionen verstrickt und müsse dann eben versuchen, sich irgendwie zu lösen. An der nächsten Haustüre läuft es besser: Gleich vier Wahlberechtigte sagen, sie wollten für die Grünen stimmen. „So gut lief es noch nie“, sagt Janecek nach seiner knapp zweistündigen Tour an diesem Abend. „Mit einem Klimadirektmandat können wir ein Zeichen gegen die CSU setzen.“
Das will Seija Knorr-Köning von der SPD auch, nennt es aber anders. Die Gesundheits- und Altenpflegerin, geboren und aufgewachsen im Landkreis Neu-Ulm, lebt im Münchner Stadtteil Neuhausen, der Rahmen ihrer Brille ist SPD-rot. Fast jeden Abend seit Mitte Juli zieht sie los, um Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. An diesem Tag, es ist der vergangene Dienstag, hat sie ein paar Unterstützerinnen und Unterstützer dabei – darunter ihren Mann Christian Köning, SPD
Stadtrat in München, und den einjährigen Sohn Paul Levi. Anders als der Grüne Janecek versucht sie gezielt, sozial schwächere und unentschlossene Wählerinnen und Wähler von sich zu überzeugen. Und auch ehemalige enttäuschte SPD-Wähler. An einigen Haustüren, an denen sie klingelt, tut sich nichts. Niemand zu Hause. Motiviert ist sie trotzdem, obwohl ihr Tag schon um 5 Uhr begonnen hat – mit dem Verteilen von Brezen bei der MAN.
Vorm nächsten Haus fragt sie ihren Teampartner: „Gehst du von oben, ich von unten?“Auch „Team Knorr-Köning“zieht in Zweiergruppen los. Im fünften Stock wollen sie sich wieder treffen. Im ersten Stock öffnet ihr ein Mann, seine kleine Tochter schaut neugierig zwischen seinen Beinen hindurch. Knorr-Köning stellt sich vor. Mit Singsang in der Stimme und einem freundlichen Grinsen sagt sie: „Ich bin die junge Krankenschwester vom Plakat.“Viele erkennen sie trotz Maske. „Klar ist das Marketing“, sagt die Direktkandidatin später auf die Frage, warum sie stets erwähnt, dass sie Krankenschwester sei. Und warum sie sich in Berufskleidung für ihr Wahlplakat fotosich grafieren habe lassen. „Es sagt einfach mehr aus als eine Person im nichtssagenden blauen Anzug auf dem Plakat.“Eine Anspielung auf die politische Konkurrenz? Sie nimmt jetzt zwei Stufen auf einmal.
Begleitet man den Grünen-Politiker Janecek und die SPD-Politikerin Knorr-Köning gewinnt man den Eindruck, als hätten die Menschen, die ihnen die Türe öffnen, ihre Wahlentscheidung längst getroffen. Was bringt das Klingeln dann überhaupt noch? Rüdiger Schmitt-Beck ist Inhaber der Professur für Politische Wissenschaft und Politische Soziologie an der Universität Mannheim. Er forscht zur politischen Kommunikation und deren Einfluss auf Wählerinnen und Wähler.
„Lange haben sich Parteien verstärkt auf medial vermittelten Wahlkampf konzentriert, beispielsweise im Fernsehen“, erklärt Schmitt-Beck. Die Möglichkeit, an den Haustüren der potenziellen Wählerinnen und Wähler zu klingeln, sei aber in den vergangenen Jahren wiederentdeckt worden – mit einem Bruch während der Corona-Pandemie. Über Stärke und Folgen dieses Bruchs liegen dem Politikwissenschaftler keine Daten vor.
Klar sei allerdings: „Der persönliche Kontakt zum Wähler ist immer effektiver als der indirekte.“Das liege vor allem an der Qualität der Informationsvermittlung, erklärt Schmitt-Beck. Gleichwohl könnten nicht alle Parteien flächendeckend auf Haustürwahlkampf gehen: „Dazu reicht die Manpower nicht.“Viele Parteimitglieder seien auch eher passiv, der Wahlkampf koste Geld und man habe weniger Daten über die Wähler zur Verfügung als beispielsweise in den USA. Seine Vermutung: Geklingelt werde verstärkt in bestimmten Regionen – und zwar dort, wo Parteien glaubten, „ihre“Wähler mobilisieren zu können. Wie im Wahlkreis München-West/Mitte.
Und woher stammen die Daten? Seija Knorr-Köning von der SPD erzählt, ihre Partei greife auf die des Wahlatlasses zurück – eine Statistik, die aufzeigt, wie in welchen Orten in der Vergangenheit gewählt wurde. Auch die Grünen erwähnen während ihrer Tour, der Haustürwahlkampf sei ein „Mobilisierungsinstrument“und keine Umstimmungsstrategie. Und so versucht Dieter Janecek sein Glück eben an den Einfamilienhäusern in Laim.
SPD-Kandidatin Seija Knorr-Köning läuft die Treppen der Mietshochhäuser im Westen des Wahlkreises hoch und runter. Und CSUMann Stephan Pilsinger geht mit seinem Rauhaardackel Jennerwein durch Allach-Untermenzing.
Der Blick auf die Wahlumfragen für Bayerns Großstädte gibt Grünen und SPD in diesem Wahlkampf-Finale nochmals enormen Auftrieb. CSU-Ministerpräsident Markus Söder bereitet er Sorgen. Vor allem „in Augsburg, Nürnberg und auch in München“müsse noch mal richtig gearbeitet werden, sagte er kürzlich. Neben dem engen Rennen in München, könnten Direktmandate zum Beispiel in Augsburg an Grüne oder SPD gehen. Auch CSU-Direktkandidat Alexander Engelhard im Wahlkreis Neu-Ulm dürfte es schwer haben – angesichts des Masken-Skandals, der unter anderem mit dem Namen seines Vorgängers Georg Nüßlein verbunden wird. Die CSU spürt den Druck, Generalsekretär Markus Blume rief eine „Großstadtoffensive“für den Endspurt aus.
Stephan Pilsinger hat sie längst schon in Angriff genommen. Mehr als 50000 Haushalte haben er und sein Team in den vergangenen Monaten besucht. Mithilfe einer App dokumentieren sie ihre Stationen. In ihr wird auch festgehalten, wer die meisten Besuche absolviert hat: „Team Pilsinger“gehört zu den fleißigsten HaustürwahlkampfGruppen der CSU.
Am Samstag werden in Untermenzing Hecken geschnitten und Garagen aufgeräumt, als Pilsinger und Jennerwein auf Stimmenfang gehen. Ein Mann schraubt an seinem Fahrrad. Routiniert sagt der
Die Umfragen motivieren Grüne und Rote enorm
CSUMann Pilsinger ist mit Dackel unterwegs
CSU-Politiker den Satz auf, den er sich zurechtgelegt hat: „Grüß Gott, Pilsinger, ihr örtlicher Abgeordneter.“Seine Baritonstimme ist freundlich, aber bestimmt. Je nach seinem Gegenüber verfällt er mehr oder weniger in den Dialekt.
Auch Pilsinger wird sofort erkannt. Und sofort beginnt der RadlSchrauber über Armin Laschet zu schimpfen. Dass der CDU/CSUKanzlerkandidat den Sozialdemokraten vorgeworfen habe, in den Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte auf der falschen Seite gestanden zu haben, ärgere ihn sehr. Pilsinger hört zu, und im Gespräch gelingt es ihm, den Mann – ein SPDWähler – zu beruhigen. Schließlich reden sie über ihre gemeinsame Leidenschaft, das Kochen, tauschen Mailadressen aus und verabreden sich auf ein Glas Wein. „Sie müssen noch meine getrockneten Feigen probieren“, ruft ihm der SPD-Wähler hinterher.
Pilsinger ist sehr bewusst, dass es für ihn am Wahlsonntag knapp werden könnte. Als Bundestagsabgeordneter hat er sich in der Pandemie einen Namen gemacht, wurde häufig in großen Tageszeitungen zitiert. Immer wieder mahnte der Arzt zur Vorsicht. Auf den Fluren des Bundestags nennen ihn manche deshalb den „schwarzen Lauterbach“, einen Vergleich, den er gar nicht mag. Seit seinem Wechsel nach Berlin arbeitet Pilsinger in Teilzeit in einer Hausarztpraxis. Seine Arbeitswoche hat 70 Stunden, im Wahlkampf noch mehr. Sollte er sein Direktmandat verlieren, will er wieder in Vollzeit als Arzt arbeiten. Mit Listenplatz 17 braucht er nicht auf einen Einzug über die Landesliste zu hoffen. „Ich bin von der Politik finanziell unabhängig“, sagt er, auch in seinen Haustürgesprächen.
Er fällt auf mit seinem Dackel, der nach dem bayerischen Wilderer und Volkshelden Georg Jennerwein benannt ist. Jennerwein fliegen die Herzen zu. „Oh, Sie haben Ihren süßen Hund dabei“, ruft eine junge Frau über die Straße. Pilsinger fordert sie auf, wählen zu gehen. Das tut er bei allen, mit denen er spricht.