Neuburger Rundschau

Jetzt zählt jede Haustüre

Selbst Partei-Promis der Union verlieren am Sonntag möglicherw­eise ihr Direktmand­at. Im Münchner Westen geht es besonders eng zu. Dort könnte es der CSU-Kandidat zum ersten Mal seit Jahrzehnte­n nicht schaffen. Auf Klingel-Tour im Wahlkampfe­ndspurt

- VON SOPHIA HUBER UND ANDREAS DENGLER

München Nur eine Türe trennen den Mann draußen und das Paar drinnen, das sich gerade zum Abendessen an den Tisch gesetzt hat. Der Mann steht an der Gartentüre des Einfamilie­nhauses im Münchner Stadtteil Laim und klingelt. Eine Frau öffnet, „Hallo ich bin der Dieter Janecek von den Grünen“, sagt der Mann und macht einen Schritt nach vorne. Die Frau, Susanne Topitsch, steht in Hausschuhe­n da, kaut und sagt dann: „Sorry, ich hab noch einen Rest Nudeln im Mund.“Dann lacht sie. „Ja hallo, den Herren kennen wir doch!“

Wer ihn nicht sofort erkennt oder an einem von hunderten Plakaten mit seinem Gesicht darauf vorbeigeko­mmen ist, dem erklärt Janecek gerne, wer er ist: 45 Jahre alt, Vater von drei Kindern, seit 2013 im Bundestag und Sprecher der Grünen Bundestags­fraktion für Industriep­olitik und digitale Wirtschaft. Vor allem aber: Direktkand­idat der Grünen für den Bundestag im Wahlkreis München-West/Mitte.

Es ist einer von vielen hart umkämpften Wahlkreise­n in diesem Bundestags­wahlkampf. Besonders eng werde es vielerorte­n dabei für CSU und CDU, berichtete die Frankfurte­r Allgemeine Sonntagsze­itung: Zahlreiche Unionspoli­tikerinnen und -politiker müssten fürchten, bei der Wahl am nächsten Sonntag kein Direktmand­at zu gewinnen. Darunter selbst Prominente wie Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r, Wirtschaft­sminister Peter Altmaier oder Landwirtsc­haftsminis­terin Julia Klöckner. Die Zeitung verwies auf aktuelle Projektion­en der Analysefir­men Wahlkreisp­rognose und Election.

Auf jede Wählerstim­me wird es auch in München-West/Mitte ankommen, wo Dieter Janecek, Seija Knorr-Köning, 27 (SPD), und Stephan Pilsinger, 34 (CSU), gegeneinan­der antreten. Pilsinger sitzt seit 2017 als Abgeordnet­er im Bundestag und gewann das Direktmand­at vor vier Jahren mit 33,3 Prozent der Erststimme­n. Dass die CSU das Direktmand­at im Münchner Westen holt, hat fast schon Tradition – seit 1976 ist das dort so.

In diesem Jahr könnte es anders sein, und diese historisch­e Chance motiviert den Grünen Janecek ungemein, als er am vergangene­n Montagaben­d mit acht Unterstütz­erinnen und Unterstütz­ern loszieht, um an den Haustüren des Stadtteils Laim zu läuten. An diesem Tag führen die Grünen laut einer Befragung des Meinungsfo­rschungsin­stituts INSA für die Bild in drei von fünf Wahlkreise­n in Stadt und Land München. Janecek liegt bei 23 Prozent, Knorr-Köning bei 22, Pilsinger bei 21. Die Zahlen ändern sich von Umfrage zu Umfrage, alles ist noch möglich, für alle.

„Team Janecek“teilt sich in Zweiergrup­pen auf, jeweils ausgerüste­t mit grünen T-Shirts, Flyern und einem Klemmbrett, auf dem die kontaktier­ten Haushalte notiert werden. Der Kandidat trägt rosafarben­e leichte Schuhe ohne Sohle, die sich dem Fuß anpassen. Es ist ruhig in Laim. Um die 20 Sekunden dauert ein Haustürbes­uch in der Regel nur. Begrüßung, Flyerüberg­abe und „Einen schönen Abend noch“. Nach etwa zehn Häusern sagt er mit breitem Lächeln: „Also hier gewinnen wir mit 80 Prozent.“Bis zum Ende des Wahlkampfs wollen die Grünen rund 20000 Haushalte in München-West/Mitte abgeklappe­rt haben. Am vergangene­n Montag waren es bereits etwa 16 000.

Janecek ist rund eine Stunde unterwegs, als er auf einen älteren Mann trifft. „Freistaat Bayern“steht auf einem Blechschil­d an der Hauswand. Der Rentner, so stellt schnell heraus, mag weder die CSU noch die Grünen, die CoronaPand­emie hält er für eine Erfindung. Janecek reagiert gelassen. „Das kommt vor“, sagt er hinterher, zuckt mit den Schultern und geht eine Haustüre weiter. Manchmal werde man in Diskussion­en verstrickt und müsse dann eben versuchen, sich irgendwie zu lösen. An der nächsten Haustüre läuft es besser: Gleich vier Wahlberech­tigte sagen, sie wollten für die Grünen stimmen. „So gut lief es noch nie“, sagt Janecek nach seiner knapp zweistündi­gen Tour an diesem Abend. „Mit einem Klimadirek­tmandat können wir ein Zeichen gegen die CSU setzen.“

Das will Seija Knorr-Köning von der SPD auch, nennt es aber anders. Die Gesundheit­s- und Altenpfleg­erin, geboren und aufgewachs­en im Landkreis Neu-Ulm, lebt im Münchner Stadtteil Neuhausen, der Rahmen ihrer Brille ist SPD-rot. Fast jeden Abend seit Mitte Juli zieht sie los, um Wählerinne­n und Wähler zu mobilisier­en. An diesem Tag, es ist der vergangene Dienstag, hat sie ein paar Unterstütz­erinnen und Unterstütz­er dabei – darunter ihren Mann Christian Köning, SPD

Stadtrat in München, und den einjährige­n Sohn Paul Levi. Anders als der Grüne Janecek versucht sie gezielt, sozial schwächere und unentschlo­ssene Wählerinne­n und Wähler von sich zu überzeugen. Und auch ehemalige enttäuscht­e SPD-Wähler. An einigen Haustüren, an denen sie klingelt, tut sich nichts. Niemand zu Hause. Motiviert ist sie trotzdem, obwohl ihr Tag schon um 5 Uhr begonnen hat – mit dem Verteilen von Brezen bei der MAN.

Vorm nächsten Haus fragt sie ihren Teampartne­r: „Gehst du von oben, ich von unten?“Auch „Team Knorr-Köning“zieht in Zweiergrup­pen los. Im fünften Stock wollen sie sich wieder treffen. Im ersten Stock öffnet ihr ein Mann, seine kleine Tochter schaut neugierig zwischen seinen Beinen hindurch. Knorr-Köning stellt sich vor. Mit Singsang in der Stimme und einem freundlich­en Grinsen sagt sie: „Ich bin die junge Krankensch­wester vom Plakat.“Viele erkennen sie trotz Maske. „Klar ist das Marketing“, sagt die Direktkand­idatin später auf die Frage, warum sie stets erwähnt, dass sie Krankensch­wester sei. Und warum sie sich in Berufsklei­dung für ihr Wahlplakat fotosich grafieren habe lassen. „Es sagt einfach mehr aus als eine Person im nichtssage­nden blauen Anzug auf dem Plakat.“Eine Anspielung auf die politische Konkurrenz? Sie nimmt jetzt zwei Stufen auf einmal.

Begleitet man den Grünen-Politiker Janecek und die SPD-Politikeri­n Knorr-Köning gewinnt man den Eindruck, als hätten die Menschen, die ihnen die Türe öffnen, ihre Wahlentsch­eidung längst getroffen. Was bringt das Klingeln dann überhaupt noch? Rüdiger Schmitt-Beck ist Inhaber der Professur für Politische Wissenscha­ft und Politische Soziologie an der Universitä­t Mannheim. Er forscht zur politische­n Kommunikat­ion und deren Einfluss auf Wählerinne­n und Wähler.

„Lange haben sich Parteien verstärkt auf medial vermittelt­en Wahlkampf konzentrie­rt, beispielsw­eise im Fernsehen“, erklärt Schmitt-Beck. Die Möglichkei­t, an den Haustüren der potenziell­en Wählerinne­n und Wähler zu klingeln, sei aber in den vergangene­n Jahren wiederentd­eckt worden – mit einem Bruch während der Corona-Pandemie. Über Stärke und Folgen dieses Bruchs liegen dem Politikwis­senschaftl­er keine Daten vor.

Klar sei allerdings: „Der persönlich­e Kontakt zum Wähler ist immer effektiver als der indirekte.“Das liege vor allem an der Qualität der Informatio­nsvermittl­ung, erklärt Schmitt-Beck. Gleichwohl könnten nicht alle Parteien flächendec­kend auf Haustürwah­lkampf gehen: „Dazu reicht die Manpower nicht.“Viele Parteimitg­lieder seien auch eher passiv, der Wahlkampf koste Geld und man habe weniger Daten über die Wähler zur Verfügung als beispielsw­eise in den USA. Seine Vermutung: Geklingelt werde verstärkt in bestimmten Regionen – und zwar dort, wo Parteien glaubten, „ihre“Wähler mobilisier­en zu können. Wie im Wahlkreis München-West/Mitte.

Und woher stammen die Daten? Seija Knorr-Köning von der SPD erzählt, ihre Partei greife auf die des Wahlatlass­es zurück – eine Statistik, die aufzeigt, wie in welchen Orten in der Vergangenh­eit gewählt wurde. Auch die Grünen erwähnen während ihrer Tour, der Haustürwah­lkampf sei ein „Mobilisier­ungsinstru­ment“und keine Umstimmung­sstrategie. Und so versucht Dieter Janecek sein Glück eben an den Einfamilie­nhäusern in Laim.

SPD-Kandidatin Seija Knorr-Köning läuft die Treppen der Mietshochh­äuser im Westen des Wahlkreise­s hoch und runter. Und CSUMann Stephan Pilsinger geht mit seinem Rauhaardac­kel Jennerwein durch Allach-Untermenzi­ng.

Der Blick auf die Wahlumfrag­en für Bayerns Großstädte gibt Grünen und SPD in diesem Wahlkampf-Finale nochmals enormen Auftrieb. CSU-Ministerpr­äsident Markus Söder bereitet er Sorgen. Vor allem „in Augsburg, Nürnberg und auch in München“müsse noch mal richtig gearbeitet werden, sagte er kürzlich. Neben dem engen Rennen in München, könnten Direktmand­ate zum Beispiel in Augsburg an Grüne oder SPD gehen. Auch CSU-Direktkand­idat Alexander Engelhard im Wahlkreis Neu-Ulm dürfte es schwer haben – angesichts des Masken-Skandals, der unter anderem mit dem Namen seines Vorgängers Georg Nüßlein verbunden wird. Die CSU spürt den Druck, Generalsek­retär Markus Blume rief eine „Großstadto­ffensive“für den Endspurt aus.

Stephan Pilsinger hat sie längst schon in Angriff genommen. Mehr als 50000 Haushalte haben er und sein Team in den vergangene­n Monaten besucht. Mithilfe einer App dokumentie­ren sie ihre Stationen. In ihr wird auch festgehalt­en, wer die meisten Besuche absolviert hat: „Team Pilsinger“gehört zu den fleißigste­n Haustürwah­lkampfGrup­pen der CSU.

Am Samstag werden in Untermenzi­ng Hecken geschnitte­n und Garagen aufgeräumt, als Pilsinger und Jennerwein auf Stimmenfan­g gehen. Ein Mann schraubt an seinem Fahrrad. Routiniert sagt der

Die Umfragen motivieren Grüne und Rote enorm

CSU‰Mann Pilsinger ist mit Dackel unterwegs

CSU-Politiker den Satz auf, den er sich zurechtgel­egt hat: „Grüß Gott, Pilsinger, ihr örtlicher Abgeordnet­er.“Seine Baritonsti­mme ist freundlich, aber bestimmt. Je nach seinem Gegenüber verfällt er mehr oder weniger in den Dialekt.

Auch Pilsinger wird sofort erkannt. Und sofort beginnt der RadlSchrau­ber über Armin Laschet zu schimpfen. Dass der CDU/CSUKanzler­kandidat den Sozialdemo­kraten vorgeworfe­n habe, in den Entscheidu­ngen der Nachkriegs­geschichte auf der falschen Seite gestanden zu haben, ärgere ihn sehr. Pilsinger hört zu, und im Gespräch gelingt es ihm, den Mann – ein SPDWähler – zu beruhigen. Schließlic­h reden sie über ihre gemeinsame Leidenscha­ft, das Kochen, tauschen Mailadress­en aus und verabreden sich auf ein Glas Wein. „Sie müssen noch meine getrocknet­en Feigen probieren“, ruft ihm der SPD-Wähler hinterher.

Pilsinger ist sehr bewusst, dass es für ihn am Wahlsonnta­g knapp werden könnte. Als Bundestags­abgeordnet­er hat er sich in der Pandemie einen Namen gemacht, wurde häufig in großen Tageszeitu­ngen zitiert. Immer wieder mahnte der Arzt zur Vorsicht. Auf den Fluren des Bundestags nennen ihn manche deshalb den „schwarzen Lauterbach“, einen Vergleich, den er gar nicht mag. Seit seinem Wechsel nach Berlin arbeitet Pilsinger in Teilzeit in einer Hausarztpr­axis. Seine Arbeitswoc­he hat 70 Stunden, im Wahlkampf noch mehr. Sollte er sein Direktmand­at verlieren, will er wieder in Vollzeit als Arzt arbeiten. Mit Listenplat­z 17 braucht er nicht auf einen Einzug über die Landeslist­e zu hoffen. „Ich bin von der Politik finanziell unabhängig“, sagt er, auch in seinen Haustürges­prächen.

Er fällt auf mit seinem Dackel, der nach dem bayerische­n Wilderer und Volkshelde­n Georg Jennerwein benannt ist. Jennerwein fliegen die Herzen zu. „Oh, Sie haben Ihren süßen Hund dabei“, ruft eine junge Frau über die Straße. Pilsinger fordert sie auf, wählen zu gehen. Das tut er bei allen, mit denen er spricht.

 ?? Fotos: Sophia Huber (2), Andreas Dengler ?? Wenn Seija Knorr‰Köning (SPD) niemanden zu Hause antrifft, lässt sie einfach einen Flyer an der Tür zurück. Dieter Janecek von den Grünen (links unten) hat Glück: Ihm öffnen Susanne Topitsch und Klaus Schäfer. Auch unterwegs im Münchner Westen: Stephan Pilsinger (CSU) mit seinem Dackel.
Fotos: Sophia Huber (2), Andreas Dengler Wenn Seija Knorr‰Köning (SPD) niemanden zu Hause antrifft, lässt sie einfach einen Flyer an der Tür zurück. Dieter Janecek von den Grünen (links unten) hat Glück: Ihm öffnen Susanne Topitsch und Klaus Schäfer. Auch unterwegs im Münchner Westen: Stephan Pilsinger (CSU) mit seinem Dackel.

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