Neuburger Rundschau

Brandbrief für die Pflege

Ein breites Bündnis aus Verbänden, Gewerkscha­ften und der Wissenscha­ft fordert schon jetzt einen Gipfel von der nächsten Regierung. Grund: So wie jetzt geht es nicht mehr weiter. Welche Teufelskre­ise es zu durchbrech­en gilt

- VON STEFAN LANGE

Berlin Vor Wahlen wird viel versproche­n und am Ende oft wenig gehalten. Das Thema Pflege ist so ein Beispiel. Die Wahlprogra­mme der Parteien von 2017 lasen sich blumig, vier Jahre später brennt in Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en die Luft: Immer weniger Personal muss sich um immer mehr Pflegebedü­rftige kümmern. Damit das nicht so weitergeht, hat sich ein ungewöhnli­ches Bündnis aus Wohlfahrts­verbänden, Gewerkscha­ften, DAKKranken­kasse, Wissenscha­ftlern und anderen zusammenge­tan, um den drei Kanzlerkan­didaten schon jetzt das Verspreche­n abzuringen, nach der Wahl mit der neuen Regierung einen Pflegegipf­el abzuhalten.

Nach jüngsten verfügbare­n Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s waren 2019 rund 1,41 Millionen Menschen mit der Pflege, Betreuung oder Unterstütz­ung Pflegebedü­rftiger beschäftig­t. Fast 600000 davon arbeiteten in Pflegeheim­en, ein Viertel in ambulanten Pflegedien­sten sowie ein Drittel im Pflegedien­st in Kliniken. Ihnen standen rund 4,1 Millionen Pflegebedü­rftige gegenüber – diese Zahl steigt wegen der demografis­chen Entwicklun­g ständig an. Daraus ergibt sich aber nicht etwa ein Pflegeschl­üssel von 1:3, denn der Pflegeberu­f verlangt Schicht- und Wochenendd­ienste, viele Kräfte arbeiten in Teilzeit. Wie viele Pflegebedü­rftige auf jeden Pfleger und jede Pflegerin kommen, dazu gibt es unterschie­dliche Zahlen. Einige Verbände nennen das Verhältnis 1:20, andere liegen deutlich drüber, kaum jemand darunter. Der Deutsche Berufsverb­and für Pflegekräf­te hat in einem Papier zur Wahl die Zahl 10,5 stehen, sie ist aber auch schon neun Jahre alt.

„Der Druck auf die Beschäftig­ten in der Pflege ist enorm groß“, sagte Maria Loheide, im Vorstand der Diakonie für Sozialpoli­tik, unserer Redaktion. Der Grund dafür sei nicht etwa schlechte Bezahlung - das komme in der Öffentlich­keit manchmal so rüber -, sondern die ständige Unterbeset­zung. „Stress und körperlich­e Belastung sind riesengroß, hinzu kommt die fehlende Planbarkei­t. Man muss zum Beispiel damit rechnen, aus dem freien Wochenende geholt zu werden, weil die Arbeit sonst nicht zu schaffen ist“, erklärt Loheide, die eine der Initiatori­nnen des Aufrufs ist. Und so beginnt ein Teufelskre­is: Der Druck führt dazu, dass die Mitarbeite­nden aus dem Beruf fliehen und sich eine andere Arbeit suchen. Was den Personalma­ngel dann weiter verschärft.

Die schwarz-rote Regierung ist nicht komplett untätig geblieben. In ihrem im Mai veröffentl­ichten siebten Pflegeberi­cht lobt sie sich dafür, von 2015 bis 2017 mit drei Pflegestär­kungsgeset­zen „die bisher größte Reform der Pflegevers­icherung in Bezug auf Leistungen, den Zugang pflegebedü­rftiger Personen zu den Leistungen und das Begutachtu­ngsverfahr­en eingeleite­t zu haben“. Doch die Theorie am Kabinettst­isch deckt sich nicht mit den Erfahrunge­n in der Praxis.

„Was in der letzten Legislatur­periode an Veränderun­gen herbeigefü­hrt wurde, löst bei weitem nicht die Probleme in der Pflege“, sagt Loheide. Es habe „durchaus kleinere Verbesseru­ngen gegeben, aber an die dringenden Notwendigk­eiten hat sich die Regierung nicht herangemac­ht.“Loheide nennt als ein Beispiel die immer noch heftig angespannt­e Personalsi­tuation. Zweitens müsse das „bereits bestehende Personalbe­messungsin­strument für die Langzeitpf­lege jetzt auch konsequent umgesetzt werden.“

Drittens sind die Kanzlerkan­didaten Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) aufgeforde­rt, weitere Verbesseru­ngen bei den Eigenleist­ungen der pflegebedü­rftigen Menschen einzuführe­n. „In diesem Bereich gibt es jetzt zwar eine Entlastung in Form eines prozentual­en Zuschusses. Aber schon jetzt ist klar, dass der Eigenantei­l in den nächsten Jahren weiter steigen wird - und zwar in schwindele­rregende Höhen“, warnt Loheide.

Laut Verband der Ersatzkass­en werden, Stand Juli, derzeit in einem Pflegeheim im Bundesdurc­hschnitt 2125 Euro pro Monat fällig. Etwa 60 Euro monatlich mehr als zu Jahresbegi­nn und gut 100 Euro mehr als im Juli letzten Jahres. Im Länderverg­leich am teuersten sind die Heimplätze in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württember­g (2463 Euro pro Monat). Bayern liegt mit 2126 Euro im Schnitt. Am niedrigste­n ist der Wert in Sachsen-Anhalt mit 1539 Euro.

Auch hier gibt es eine Art Teufelskre­is: „Wenn wir mehr Personal haben, dann steigen die Personalko­sten. Tarifsteig­erungen und andere Faktoren kommen hinzu. Das schlägt sich alles auf den Pflegebere­ich nieder und in diesem Zusammenha­ng steigt natürlich auch die Eigenleist­ung der zu pflegenden Menschen“, erklärt Loheide.

Loheide hat zusammen mit anderen einen Brandbrief an die Wahlkämpfe­r geschickt. Das Schreiben liegt unserer Redaktion vor. „Wir rufen die Kandidatin und die Kandidaten jetzt schon auf, sobald sie in der Regierungs­verantwort­ung sind, einen Pflegegipf­el einzuberuf­en“, erklärt sie. „Unsere Sorge ist, dass sich die künftige Regierung auf dem wenigen ausruht, was in der laufenden Legislatur­periode umgesetzt wurde. Eine kleine Reparatur hier und ein bisschen Kosmetik dort haben aber längst nicht ausgereich­t, die Brisanz herauszune­hmen.

Nach dem Gipfel müsste dann die Arbeit weitergehe­n, fordert Loheide: „Über diesen Gipfel hinaus brauchen wir eine Art Pflege-Kommission, die über die gesamte Legislatur­periode und darüber hinaus die Herausford­erungen der Pflege der Zukunft beobachtet, bearbeitet und Änderungen und Lösungen auf den Weg bringt.“

„Reparatur und Kosmetik“reichen nicht mehr aus

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Foto: Sina Schuldt, dpa Viele Beschäftig­te sind überlastet, die Pflegeheim­e werden immer teurer – Sozialver‰ bände fordern einen Runden Tisch im Kanzleramt.

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