Einreisen, Pass holen, abstimmen
Bei Russland-Wahl ist die Liste der Betrugsvorwürfe lang
Moskau Matwejew Kurgan ist ein Dorf wie viele andere in Russland. Die Straßen sind staubig, es gibt eine Lenin-Statue im Zentrum, ein Heimatkundemuseum. Vor den Wahllokalen leuchten Luftballons, Schlagermusik erklingt. 1200 Kilometer sind es von hier an der russisch-ukrainischen Grenze bis Moskau, aber nur 120 nach Donezk, 140 nach Luhansk. Viele Menschen in diesen als Republiken bezeichneten Separatistengebieten wünschen sich russische Pässe. Jetzt erhalten sie diese zuhauf. Denn es ist Wahl. Eine, bei der die Regierungspartei „Einiges Russland“, die Machtbasis des Präsidenten Wladimir Putin, ihre absolute Mehrheit im Parlament verteidigen will. Eine, die von Betrugsvorwürfen überschattet wird. Matwejew Kurgan reiht sich ein in die Verstöße-Liste.
Der Internetsender „Doschd“zeigt Busse, die über die Grenze rollen. Dutzende Menschen mit russischen Fähnchen in der Hand steigen aus. Offenbar erhalten sie in der Migrationsbehörde ihren neuen Pass, danach geht es zum Wählen. Menschen berichten dem Sender freudig davon. Sie wissen, wem sie den Pass zu verdanken haben: Einiges Russland. Die Partei liegt nach der ersten offiziellen Zahl bei 38 Prozent – weniger als vom Kreml erhofft. Nach Auszählung eines Fünftels aller Stimmen liegt sie bei 43 Prozent, die Kommunisten bei 23 Prozent. Auch eine neue Partei, die der „Neuen Leute“, könnte erstmals in die Duma einziehen. Das Parlament hätte dann fünf Parteien.
Das Team um den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny tut alles, um die Wahlparty der Machtelite zu stören. Es empfahl die Methode des „klugen Wählens“: Nur jeweils die aussichtsreichsten Kandidaten anderer Parteien sollten angekreuzt werden. Das Regime tut alles, um die Nawalny-Listen aus dem Netz zu nehmen. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel: Löschen Apple, Google, Youtube oder Telegram auf Behördendruck die Empfehlungen, finden sie sich bei Twitter. Ist ein Dokument bei Google weg, entsteht woanders ein neues.
Die unabhängige Wahlbeobachterorganisation „Golos“(Stimme) listet tausende Manipulationen auf, die Behörden sprachen von 750 Beschwerden. Die OSZE hatte gar keine Beobachter geschickt: Moskau hatte nur 60 Beobachter fürs ganze Land zugelassen und die niedrige Zahl mit der Pandemie erklärt.
Bei der Mobilisierung der Menschen geht es nicht um die individuelle Wahl eines Einzelnen. Die Abstimmung ist eine Art kollektive Entscheidung, die nur ein Ziel hat: Loyalität zu Putin. Diese gilt es mit aller Macht sicherzustellen – mit dicken Packen an vorausgefüllten Stimmzetteln, die Schuldirektorinnen in die Wahlurnen stopfen, von Videokameras an der Decke unbeeindruckt; mit „toten Seelen“auf Wahllisten, mit der Online-Abstimmung und der auf drei Tage ausgedehnten Wahl: Nachts sind keine Beobachter zugegen. Der Staat „erkauft“sich die Stimmen mit Verlosungen – von Autos und Wohnungen. Manche, wie in Matwejew Kurgan, erhalten ihre Pässe – für sie der Hauptgewinn dieser Wahl.