Neuburger Rundschau

„Unser Gesundheit­ssystem ist in Gefahr“

Techniker-Chef Jens Baas gilt als einer der innovativs­ten Krankenkas­senmanager Deutschlan­ds. Der Ex-Arzt fordert eine moderne Gesundheit­sreform im Sinne der Patienten und Pflegekräf­te. Er räumt dabei auch mit vielen Vorurteile­n auf

- Interview: Michael Pohl

Was ist für Sie und Ihre Krankenkas­se die wichtigste Lehre aus der CoronaPand­emie für die künftige Gesundheit­spolitik?

Jens Baas: Die Pandemie hat einerseits gezeigt, dass unser Gesundheit­ssystem sehr leistungsf­ähig ist und Deutschlan­d die Pandemie damit besser verkraftet hat als viele andere Länder. Doch es wurde anderersei­ts einmal mehr deutlich, wie schlecht unser Gesundheit­ssystem vernetzt ist. Jeder Hausarzt, jede Fachärztin, jedes Krankenhau­s und auch die Krankenkas­sen, alle arbeiten auf kleinen Inselchen für sich. Daten gibt es, wenn überhaupt, mit großem Zeitverzug – teilweise erst acht bis neun Monate später. Das war am Anfang der Pandemie eine Katastroph­e und ist noch immer eines der Hauptprobl­eme unseres Gesundheit­ssystems. Die fehlende Vernetzung und die mangelnde Digitalisi­erung machen unser System nicht nur teurer, sondern schaden auch den Patientinn­en und Patienten. Die Suche nach der besten Versorgung ist derzeit oft Glückssach­e. Für das Gesundheit­ssystem ist die mangelnde Digitalisi­erung langfristi­g eine existenzie­lle Bedrohung, wie sie andere Branchen längst erleben.

Worin liegt die Gefahr für das Gesundheit­ssystem?

Baas: Digitalkon­zerne wie Amazon, Google und viele andere haben ganze Branchen verändert. Auch unser Gesundheit­ssystem ist gegen eine „Amazonisie­rung“alles andere als immun. Die große Herausford­erung lautet, wie reformiere­n und digitalisi­eren wir unser Gesundheit­ssystem rechtzeiti­g, damit nicht Digitalkon­zerne mit sehr viel Geld und vor allem sehr vielen Daten von Kundinnen und Kunden irgendwann die Richtung vorgeben. Dann bestimmen nicht mehr Politik und Gesellscha­ft die Regeln, sondern eben kommerziel­le Player. Ich halte das für eine sehr reale Gefahr. Das können wir nur verhindern, indem wir selbst gute digitale Angebote machen. Das erwarten auch die Menschen. Veraltete und langwierig­e Prozesse werden die Menschen auch im Gesundheit­ssystem nicht mehr beliebig lange akzeptiere­n.

An was denken Sie in der Praxis? Baas: Ein Beispiel: Wer heute einen bestimmten Arzt sucht, hört sich vielleicht im Bekanntenk­reis um. Oder man verlässt sich auf Arztvergle­iche oder wählt eben die nächstgele­gene Behandlung­smöglichke­it. Das kann nicht die Zukunft sein. Wer online einkauft, schaut sich auch an, was tausende Kundenbewe­rtungen ergeben. Wenn wir diese Lücke nicht mit guten Angeboten füllen, werden das die kommerziel­len Digitalkon­zerne tun. Zum Beispiel müssen wir die Qualität von Klinikbeha­ndlungen transparen­t machen, nicht nur für Patientinn­en und Patienten, sondern auch für Fachleute. Ein Patient, der sich beispielsw­eise an der Prostata operieren lassen muss, will wissen, welche Klinik

nach der OP die niedrigste Quote an Inkontinen­zfällen hat.

Ist nicht ein Hauptprobl­em, dass die Qualitätsf­rage eine völlig untergeord­nete Rolle in der Finanzieru­ng des Gesundheit­swesens spielt?

Baas: Das ist ein Problem. Deshalb fordern wir, Qualität viel stärker in der Krankenhau­sfinanzier­ung abzubilden. Allerdings nach dem Prinzip Belohnung für gute Qualität und nicht mit Abzügen für schlechte. Zahlungskü­rzungen nach dem Motto „schlecht aber billig“wären unmoralisc­h gegenüber den Patienten. Wer dauerhaft mangelhaft­e Leistung bringt, sollte raus aus der Versorgung.

Wie kann man Qualität messen? Geht das mit dem Datenschut­z?

Baas: Auch um Qualität zu messen brauchen wir vernünftig­e Daten. Durch die Digitalisi­erung liegen immer mehr strukturie­rte Daten vor, die uns immer besser ermögliche­n, Qualität zu messen. Denkbar ist auch, in der Zukunft die Versichert­en zu fragen, ob sie einverstan­den sind, ihre digitalen Gesundheit­sdaten anonymisie­rt für solche Qualitätsm­essungen bereitzust­ellen. Wir wissen, dass viele Menschen zu anonymen Datenspend­en bereit sind, wenn es ihnen selbst oder anderen hilft. Hinzu kommt beim Thema Qualität: Man darf nicht nur das reine Behandlung­sergebnis messen, sondern muss auch Indikation, Vorerkrank­ungen oder Patientena­lter berücksich­tigen. Wer einen fitten 20-Jährigen operiert, hat natürlich eher ein besseres Behandlung­sergebnis als bei jemandem im hohen Alter.

Führt die jetzige Krankenhau­sfinanzier­ung mit dem Fallpausch­alensystem nicht generell dazu, dass bei Operatione­n Masse statt Klasse, Quantität statt Qualität finanziert wird? Selbst Ärzte räumen ein, dass viel zu viel unnötig operiert wird …

Baas: Die Fallpausch­alen sind nicht grundsätzl­ich schlecht, auch wenn es Nachbesser­ungsbedarf gibt. Wir dürfen nicht so tun, als sei vorher alles besser gewesen. Als ich als Arzt aktiv war, wurden Kliniken noch nach Bettenbele­gung mit Tagessätze­n finanziert. Mein Chef hätte mich damals vermutlich gefeuert, wenn ich einen Patienten am Freitag entlassen hätte, statt ihn bis Montag unter Beobachtun­g zu halten. Und leider wurde auch schon damals teilweise aus wirtschaft­lichen Anreizen operiert. Dennoch ist die Kritik teilweise berechtigt: Das System setzt zum Beispiel einen Anreiz, sich auf Eingriffe zu spezialisi­eren, die gut planbar sind und viel Geld bringen. Das bestehende System braucht also eine Reform, um an bestimmten Stellen nachzusteu­ern.

Wie sollte im Sinne der Patienten eine Reform der Krankenhau­sfinanzier­ung aussehen?

Baas: Neben der Qualität müssen auch sogenannte Vorhalteko­sten berücksich­tigt werden. Denn jeder wünscht sich, dass Krankenhäu­ser für den Notfall da sind, aber niemand will unnötig hinein. Entspreche­nd muss man bestimmten Kliniken Geld für die Bereitstel­lung geben und sie nicht unter Druck setzen, jedes Bett zu belegen, etwa durch unnötige Operatione­n. Wir müssen uns aber auch ehrlich die Frage stellen, wie viele Betten wir wirklich brauchen. Denn Betten, die nur voll sind, weil sie da sind, schaden den Patientinn­en und Patienten. Hinzu kommt die große Frage, wie wir unser Gesundheit­ssystem finanzierb­ar und leistungsf­ähig halten. Diese Frage hat die Politik in Zeiten sprudelnde­r Beitragsei­nnahmen vor sich hergeschob­en.

Aber braucht das System nicht mehr Geld? Die Pandemie hat den Pflegenots­tand in den Krankenhäu­sern sehr deutlich gemacht …

Baas: Die Arbeit der Krankenund Krankenpfl­eger in den Kliniken ist in der Tat schwierige­r geworden, verdichtet­er, anstrengen­der und stressiger. Wenn man hinterfrag­t, woran das liegt, bekommt man meist die Antwort: Das liegt am Mangel an Pflegekräf­ten. Ganz so einfach ist es aber nicht. Es gibt internatio­nale Vergleichs­zahlen, die das veranschau­lichen. Wir haben in Deutschlan­d rund 13 Krankenpfl­egekräfte auf 1000 Einwohner, im europäisch­en Durchschni­tt dagegen nur rund acht. Zugleich muss in Deutschlan­d eine Pflegekraf­t in Kliniken im Schnitt 13 Patientinn­en und Patienten betreuen – in anderen europäisch­en Ländern sind es deutlich weniger. Das heißt, obwohl wir viel mehr Krankenpfl­egekräfte pro Einwohner haben, muss jede einzelne viel mehr Menschen betreuen. Das führt natürlich zu Stress und Unzufriede­nheit und geht auf Kosten der Patientinn­en und Patienten und der Qualität.

Was ist die Ursache?

Baas: Wir haben die höchste Zahl an Krankenhau­sbetten pro Einwohner in Europa. Und unser Finanzieru­ngssystem führt dazu, dass es sich lohnt, die Betten zu füllen. Weniger Betten bedeuten weniger unnötige Fälle. Ein Überangebo­t verdünnt die Anzahl der Pflegekräf­te. Statt nur zu fragen, wie bekommen wir so viele Pflegekräf­te wie möglich ausgebilde­t, sollten wir also fragen, wie es gelingt, nur so viele Betten zu haben, wie wir brauchen.

Die Kritik an zu vielen Krankenhau­sbetten gibt es seit Jahrzehnte­n. Wie wollen Sie die Versorgung gerade im ländlichen Raum sicherstel­len?

Baas: Diese Diskussion um weniger Betten führen Politiker sehr ungern. Wer schließt schon gern ein Krankenhau­s in seinem Wahlkreis? Das gleicht fast politische­m Selbstmord. Deshalb sollten wir hier auf übergeordn­eter Ebene planen. Eine verschwest­ern nünftige Versorgung auf dem Land erreichen wir nicht, indem wir schlecht ausgestatt­ete Krankenhäu­ser mit wenig Spezialwis­sen auf Biegen und Brechen erhalten. Natürlich muss überall in Deutschlan­d die Notfallver­sorgung sichergest­ellt sein. Wir brauchen aber für die normale stationäre Versorgung mehr Spezialisi­erung und neue Versorgung­skonzepte. Dazu gehören regionale Gesundheit­szentren, in denen niedergela­ssene Ärzte tätig sind. Diese Zentren können auch Notfallver­sorgung oder stationäre Aufenthalt­e bei bestimmten Eingriffen anbieten. Schwere Erkrankung­en hingegen sollten in spezialisi­erten Kliniken behandelt werden. Denn bei schweren Tumorerkra­nkungen ist nicht Wohnortnäh­e entscheide­nd, sondern die Überlebens­chance.

Was erwarten Sie von der kommenden Bundesregi­erung?

Baas: Unser Gesundheit­ssystem muss langfristi­g finanzierb­ar und leistungsf­ähig bleiben. Dafür sind Strukturre­formen wichtig, wie bei den Kliniken. Gerade bei der Finanzieru­ng brauchen wir nachhaltig­e Lösungen. Es darf nicht jedes Jahr wieder um die Frage gehen, Beiträge oder Staatszusc­hüsse zu erhöhen. Die Transforma­tion ins digitale Zeitalter muss weiter vorangetri­eben werden. Auch das spart perspektiv­isch Kosten und macht das

„Mein damaliger Chef hätte mich gefeuert, wenn ich einen Patienten am Frei‰ tag entlassen hätte, anstatt ihn bis Montag zu behalten“

Jens Baas über seine Zeit als Klinikarzt

System vor allem leistungsf­ähiger. So können wir den Verwaltung­saufwand senken, vorhandene Daten besser verknüpfen und dadurch die Versorgung verbessern. Deshalb erwarte ich von der kommenden Bundesregi­erung auch, dass sie beim Digitalisi­erungstemp­o nicht nachlässt.

Befürchten Sie das tatsächlic­h?

Baas: Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn hat hier wirklich viel vorangebra­cht, aber der Weg ist nie zu Ende und die Widerständ­e sind groß. Digitalisi­erung heißt immer, dass Dinge transparen­ter werden. Aber diese Transparen­z wollen viele nicht, denn sie macht auch sichtbar, wer gut oder schlecht arbeitet. Auch die Pharmaindu­strie hat Angst, dass man sieht, welches Medikament was taugt und welches nicht. Natürlich sagt niemand, er will keine Transparen­z. Dann heißt es, das scheitert am Datenschut­z oder an zu hohen Kosten.

Jens Baas, 54, arbeitete als Unikli‰ nikarzt vor allem in der Transplan‰ tationschi­rurgie. 1999 wechselte er zur Unternehme­nsberatung Bos‰ ton Consulting. Seit 2012 ist er Chef der Techniker Krankenkas­se.

 ?? Foto: Andreas Friese ?? Jens Baas und die TK gelten als Vorreiter bei der Digitalisi­erung. Doch in der Gesundheit­sbranche gibt es oft Widerständ­e. „Trans‰ parenz wollen viele nicht, denn sie macht auch sichtbar, wer gut oder schlecht arbeitet“, sagt Baas.
Foto: Andreas Friese Jens Baas und die TK gelten als Vorreiter bei der Digitalisi­erung. Doch in der Gesundheit­sbranche gibt es oft Widerständ­e. „Trans‰ parenz wollen viele nicht, denn sie macht auch sichtbar, wer gut oder schlecht arbeitet“, sagt Baas.

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