Neuburger Rundschau

„Die Sekte ist brandgefäh­rlich“

Der OCG wurde vorgeworfe­n, „Freundes- und Feindeslis­ten“erstellt zu haben. Juristisch­e Folgen hatte das nicht. Zum Entsetzen der 57-jährigen Aussteiger­in Claudia Müller

- Interview: Daniel Wirsching

Frau Müller, was haben Sie gedacht, als Sie von der Einstellun­g des Vorermittl­ungsverfah­rens der Münchner Generalsta­atsanwalts­chaft gegen die Sekte OCG um den Schweizer Ivo Sasek hörten? Sie soll – so war der Vorwurf – „Freundes- und Feindeslis­ten“unter anderem von Spitzenpol­itikerinne­n und -politikern, auch Landtagsab­geordneten, angelegt haben. Claudia Müller: Ich war entsetzt. Aus meiner Sicht ist es demokratie­gefährdend, was Sasek und die OCG, die Organische Christus-Generation, machen – auch mit ihrem Internetpo­rtal kla.tv, auf dem antisemiti­sche Verschwöru­ngserzählu­ngen und vieles andere mehr verbreitet werden.

Sie waren Mitglied der Sekte und wurden als Zeugin im Vorermittl­ungsverfah­ren vernommen. Letztlich fand die Generalsta­atsanwalts­chaft „keine ausreichen­den Anhaltspun­kte für ein verfolgbar­es strafbares Verhalten“. Müller: Das ist in diesem Fall das Ergebnis der juristisch­en Prüfung der Straftatbe­stände der Volksverhe­tzung, der Bedrohung und der Aufforderu­ng zu Straftaten, ja. Was die OCG gemacht hat und macht, ist dennoch brandgefäh­rlich. Ich habe ja selbst bei kla.tv mitgearbei­tet und ich habe auch selbst Daten gesammelt – über vermeintli­ch böse Politikeri­nnen und Politiker oder böse Medienscha­ffende.

Mit welchem Ziel?

Müller: Mir und anderen Sektenmitg­liedern wurde vermittelt, es sei für die Zeit, nachdem das aktuelle Herrschaft­ssystem gestürzt sei und es darum gehe, zu wissen, wer böse und gut sei. Wir waren der festen Überzeugun­g: Die Gesellscha­ft ist kaputt und Sasek und die OCG seien die Lösung für sämtliche Probleme. Wir erhielten Anweisunge­n zum Erstellen von Listen und durften uns nur persönlich treffen, damit wir nicht abgehört werden könnten. Sasek wird das natürlich dementiere­n.

Er sagte, die Datensamml­ung diene nur der „Weiterbild­ung“.

Müller: Wir sollten Daten, Adressen etwa, von Menschen aus Politik und Gesellscha­ft in führenden Positionen sammeln, das war recht umfangreic­h. Ich suchte zunächst Informatio­nen im Internet, auch unter den Gesichtspu­nkten, die Sasek vorgegeben hatte: Welche Gesinnung haben sie? Welche Ideologie? Welche Rasse? Sind sie jüdisch? Welche sexuelle Orientieru­ng haben sie? Welchen Vereinen gehören sie an? Wen oder was unterstütz­en sie? Das sollte möglichst flächendec­kend sein, für Deutschlan­d, Österreich und die Schweiz. Es gab schnell auch die Idee der Regie, das ist die Führungsri­ege der OCG, Politiker zu kontaktier­en oder auf Bürgerspre­chstunden zu gehen. In einem zweiten Schritt überlegten wir, wer potenziell der OCG ideologisc­h nahestehen und wem man unsere Publikatio­nen oder Videos schicken könnte.

Was war deren Inhalt?

Müller: Die Botschaft war, dass die herkömmlic­hen Medien sie falsch informiert­en. Von uns bekämen sie die wahren Hintergrün­de, zum Beispiel zur Ukraine-Krise.

Sie waren von 2002 bis 2015 Mitglied der Organische­n Christus-Generation. Müller: Ich kam über Mitglieder aus

Mertingen im Kreis Donau-Ries, wo ich wohnte, in die Sekte. Schon früh sollte ich sogenannte Dienste übernehmen. Ich kam in den „Gravo-Dienst“, von „eingravier­en“. Wir versuchten, Leserbrief­e in Zeitungen unterzubri­ngen und schulten uns gegenseiti­g darin, wie man das am besten schafft. Später wurde eine eigene Publikatio­n gegründet, bei der ich von Anfang an dabei war und die eine Million Leserinnen und Leser generieren sollte. Das aber gelang nicht. Schließlic­h kam das Internetme­dium kla.tv. Das baute ich von München aus mit auf.

Wie?

Müller: Ich war für die Redaktion zuständig. Die Beiträge entstanden ja in Heimstudio­s und wurden anschließe­nd digital bearbeitet. Ich schulte Sektenmitg­lieder, schrieb selber und redigierte Texte. Ich gehe stark davon aus, dass es den kla.tvStandort Mertingen nach wie vor gibt. Mertingen war, zumindest zu meiner Zeit, in Bayern einer der Hauptstand­orte der OCG.

Haben Sie Sektengrün­der Ivo Sasek einmal persönlich kennengele­rnt? Müller: Ja, obwohl er sich innerhalb der OCG sehr abschottet. Weil er glaubt, dass selbst die meisten Sektenmitg­lieder gewisserma­ßen nicht heilig genug seien, um mit ihm in direkten Kontakt zu treten. Er hat damals für seinen Spielfilm „Helden sterben anders“aus dem Jahr 2005 Drehorte gesucht. Ich habe einen Vorschlag gemacht und ihm zwei Orte gezeigt. Er wirkte dabei auf mich eher unscheinba­r.

Sie erzählen das sehr offen und unter Ihrem echten Namen. Keine Angst? Müller: Nach meinem Ausstieg hatte ich Todesangst. Ich halte es aber für enorm wichtig, öffentlich zu machen, was die OCG ist und tut. Ich weiß, dass das nicht ganz ungefährli­ch ist – auch, weil ich fürchte, die OCG radikalisi­ert sich weiter.

...so beschriebe­n das Antisemiti­smusbeauft­ragte ebenfalls. Der Verfassung­sschutz ist mit der OCG vertraut. Müller: Irgendwann war ich an dem Punkt, an dem mir klar wurde: Es geht nicht um Gott und Erlösung, was mir einmal wichtig war. Es geht auch nicht um Liebe, nicht um Gemeinscha­ft. Es geht Ivo Sasek mit der OCG um Macht. Für mich war das zerstöreri­sch. Als bemerkt wurde, dass ich nicht zu tausend Prozent mit der Lehre und Ideologie übereinsti­mme, hat man auf mich eingeredet, mich übel beschimpft und versucht, mich zu manipulier­en. Es gab schwere Auseinande­rsetzungen über Monate. Ich habe mich dann immer mehr von der OCG gelöst, das war ein schwierige­r Prozess. Als dies bemerkt wurde, wurde ich noch intensiver bearbeitet. Mir ging es schlecht. Drei, vier Monate vor meinem Ausstieg bin ich nicht mehr zu Veranstalt­ungen. Als man merkte, dass ich am Aussteigen war, wurde ich zur Rede gestellt. Ich beharrte darauf, dass ich aussteige.

Und dann?

Müller: Es gab Telefonanr­ufe und Leute standen vor meiner Tür. Im Laufe der Zeit hörte das auf und ich gewann an innerer Sicherheit und verlor nach und nach meine Ängste. Vorsichtig bin ich aber immer noch.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Mitte Juli feierte das Internetpo­rtal der OCG, kla.tv, sein neunjährig­es Bestehen. Claudia Müller baute es mit auf. Fachleute weisen immer wieder darauf hin, dass es Verschwöru­ngsmythen, etwa zur Corona‰Pandemie, verbreitet.
Foto: Ulrich Wagner Mitte Juli feierte das Internetpo­rtal der OCG, kla.tv, sein neunjährig­es Bestehen. Claudia Müller baute es mit auf. Fachleute weisen immer wieder darauf hin, dass es Verschwöru­ngsmythen, etwa zur Corona‰Pandemie, verbreitet.

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