Thomas Manns „Zauberberg“als Thesentheater
Das Staatstheater Augsburg inszeniert auf der großen Bühne ein literarisches Meisterwerk. Die drei Stunden, die dafür veranschlagt werden, sind allerdings viel zu kurz. Der Abend wirkt skizzenhaft
Augsburg Diese Geschichte hat etwas Magisches. Schon in der Entstehung, weil Thomas Mann ursprünglich etwas Kurzes über die Lungenheilanstalt in Davos schreiben wollte – aber das war vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nach einem Kriegsjahr und Millionen toter Soldaten legte Thomas Mann den Stoff beiseite, schrieb Essays zum Krieg, die diesen rechtfertigten. Später distanzierte er sich davon, kam zur Besinnung – auch indem er „Der Zauberberg“überarbeitete und fortsetzte, nun allerdings über die lange Strecke von fast 1000 Seiten. Ein Anti-Bildungsroman, in dessen Verlauf sich die Hauptfigur Hans Castorp immer mehr im Berghof verliert und seinem bürgerlichen Leben, das draußen auf ihn warten würde, vollkommen abhandenkommt. Ein Roman auch über eine Gesellschaft in Auflösung und über die Zeit und den Zeitsinn, der die sieben Jahre auf knapp tausend Seiten so erzählt, wie wir Menschen sie wahrnehmen würden: Denn der erste Tag nimmt mehr als 130 Seiten in Anspruch und manches Jahr später nimmt dafür nur einen Bruchteil der Erzählzeit in Anspruch. Ein Roman voller skurriler Menschen und ein Roman über das Denken, Ideologien und natürlich die Krankheit.
Eigentlich kein Stoff für die Bühne: Zu groß, zu lang, zu ausführlich und viel zu wenig fokussiert. Unmöglich auf ein handliches Theatermaß zu bringen. Genau daran versucht sich nun das Staatstheater Augsburg. Der regieführende Intendant André Bücker und die Dramaturgin Sabeth Braun haben eine Fassung erarbeitet, die den ganzen Zeitraum abdeckt, die ganze Geschichte erzählen soll. Die sieben Jahre kommen in drei Stunden auf die Bühne. Ein Maß, das dem Funktionieren des Theaterbetriebs zuträglich ist, natürlich auch der Geduld des Publikums, nicht aber dem Stoff. Der hätte viel mehr Zeit verlangt, fünf Stunden, vielleicht auch zehn – ein Theaterspektakel, an dem auch das Publikum an seine Wahrnehmungsgrenzen geht, um zu verstehen, wie rätselhaft das Wahrnehmen der Zeit ist.
Auf der Bühne, die aus ausklappbaren Rahmen und großen Glasscheiben in ein Labyrinth verwandelt werden kann, hinter dessen Spiegelungen nur weitere Spiegelungen warten, auf dieser Bühne führen die Figuren ein skizzenhaftes
Leben. Es geht im Eiltempo hinein in die Handlung: Der immer wieder grell auflachende Hans Castorp (Julius Kuhn) besucht seinen Vetter Joachim Ziemßen (Paul Langemann) für drei Wochen, verliebt sich währenddessen in Clawdia Chauchat (Mirjam Birkl), erkrankt selbst, bleibt länger, taucht ein in die Gefechte der beiden Gelehrten Settembrini (Norbert Stöß) und Naphta (Andrej Kaminsky), hört Vorträgen des Seelenzergliederers Dr. Krokowski (Stephanie Schönfeld) über die Liebe zu, wird von Chauchat nach einer Liebesnacht verlassen, muss doppelt Abschied von seinem Vetter nehmen, weil dieser erst auf eigene Faust abreist, danach schwer krank zurückkehrt und stirbt. Und als er Chauchat wieder trifft, dann nicht allein, sondern jetzt an der Seite der beeindruckenden Gestalt Mynheer Peeperkorn (Michael Schrodt). Die Wiederbegegnung endet, als sich Peeperkorn umbringt und Chauchat abreist.
Das Berghof-Leben, das Mann im
„Zauberberg“so detailliert in seinen Abläufen beschreibt, gerät hier zur Farce. Oder erscheint das nur dem ankommenden Castorp so? Gelegen wird nicht auf Stühlen, sondern auf dem Boden, gehustet im Gleichtakt. Die Kranken winden sich übertrieben, verlieren sich in Bewegungsticks wie eingesperrte Tiere. Hofrat Behrens (Kai Windhövel), der behandelnde Arzt, ist grell überzeichnet, genauso wie Hermine Kleefeld oder Frau Stöhr (beide Pascal Riedel) oder Herr Albin (Thomas Prazak). Diese Lungenheilanstalt könnte man genauso gut mit einer psychiatrischen Klinik verwechseln.
Ruhe gibt es keine auf der Bühne. Es ist ständig etwas los. Und die Krankheit, um die es im „Zauberberg“ja ständig auch geht, wird dermaßen überzogen dargestellt, dass man das Leiden den Figuren nicht abnimmt, die Krankheit selbst dadurch wie eine Behauptung wirkt. „Bloß keine Langweile“scheint über allem zu stehen. Und die Gefahr besteht ja auch vielleicht bei diesem Romanstoff, in dem es schon am Anfang heißt, alles gründlich zu erzählen. Dafür hat die Bühnenfassung aber keine Zeit.
Weil sie hastet, kommt auch das, was sie länger ausführt, nur bedingt an: Man kann ja nicht noch einmal zurückspringen, wenn in den Wortgefechten zwischen Settembrini und Naphta ein Gedanke zum Weiterdenken und Mitdenken veranlasst. Das Buch ist da geduldig und lässt es zu, auf der Bühne hat der Schlagabtausch ein Tempo, dass nur noch die Geste, die Gegnerschaft, erkennbar bleibt, die Inhalte dabei aber verwischen. Das Theoretische über Krankheit, Liebe und Gesellschaft, das immer wieder frontal zum Publikum gesprochen wird, wird konterkariert durch Parallelhandlungen auf der Bühne. Wandern die Augen dorthin, geht der Inhalt unweigerlich verloren.
Was mit dem Ensemble und den durchaus ja auch vorhandenen Ideen möglich gewesen wäre, wenn das alles nicht in der Zeitraffer-Version gespielt worden wäre, sondern in Über-, vielleicht auch Superlänge – wer weiß. Letztlich muss man André Bücker und dem Team trotzdem dankbar sein, es nicht gemacht zu haben, denn es herrscht ja Maskenpflicht im Saal. Vielleicht wäre Beschränkung dann ein besserer Ansatz zur Inszenierung gewesen.
So ist das Fehlen von ausreichend Zeit viel zu oft spürbar. In der Figurenzeichnung, im Entwickeln der Handlung, der Liebesgeschichte, das alles wirkt wie bloß behauptet. Dieses Wunder, das Thomas Mann gelungen ist, nicht nur theoretisch das Wesen der Zeitwahrnehmung zu erörtern, sondern das Verstreichen der Zeit im Roman mit ihrer zunehmenden Beschleunigung genauso abzubilden, bleibt in der Augsburger Theaterfassung aus. Applaus gab es nach diesem Abend, aber nicht übermäßig lange. Weitere Termine: 26. September, 6., 16. und 30. Oktober, 5. November sowie 10. und 28. Dezember