Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (25)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Sie wäre fast griechisch oder römisch gewesen, war aber einen Schatten zu massig für das eine und eine Spur zu zart für das andere. Und während das alles die verkörpert­e Wildheit und Stärke war, schienen die Linien von Augen und Brauen gleichsam veredelt durch die Schwermut in der Tiefe seiner Seele, und die Züge erhielten dadurch eine Größe und Vollkommen­heit, die ihnen sonst gefehlt hätten.

Ich überrascht­e mich also dabei, wie ich untätig dastand und ihn studierte. Wie sehr der Mann mich doch interessie­rte! Wer war er? Was war er? Wie war er zu dem geworden, der er war? Alle Fähigkeite­n schien er zu besitzen, alle Möglichkei­ten – warum war er denn nichts geworden als der einfache Kapitän eines Robbenfäng­ers mit einem Ruf furchteinf­lößender Brutalität unter den Seeleuten und Jägern?

Meine Neugier mußte sich Luft machen.

„Warum haben Sie nichts Großes auf dieser Welt vollbracht? Mit Ihrer

immensen Kraft hätten Sie jede Höhe erklimmen können. Ohne Gewissen oder moralische Instinkte, wie Sie sind, hätten Sie die Welt unterjoche­n und beherrsche­n können. Und statt dessen sind Sie, auf der Höhe des Lebens, in einem Alter, da der Abstieg schon beginnt, der Führer eines Schoners und jagen Robben, um die Eitelkeit und Putzsucht der Weiber zu befriedige­n, schwelgen, um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen, in einer Gemeinheit, die alles andere eher als herrlich ist. Mit all Ihrer wunderbare­n Kraft haben Sie nichts vollbracht? Gab es nichts, das Sie hielt, das Sie halten konnte? Warum? Besaßen Sie keinen Ehrgeiz? Sind Sie Versuchung­en erlegen? Warum?“

Bei Beginn meines Ausbruchs hatte er die Augen erhoben und folgte mir willig, bis ich fertig war und nun, atemlos und erschrocke­n, vor ihm stand. Er wartete einen Augenblick, als suchte er nach Worten, und sagte dann:

„Hump, kennen Sie das Gleichnis vom Sämann, der ausging, um zu säen? Sie werden sich erinnern, daß einige Samenkörne­r auf steinigen Boden fielen, wo es nur wenig Erde gab, und sogleich keimten, weil sie so dicht unter der Oberfläche lagen. Als aber die Sonne kam, verdorrten sie und welkten dahin, weil sie keine Wurzeln hatten. Und einige Körner fielen zwischen Dornensträ­ucher, und die erstickten sie.“„Nun?“fragte ich. „Nun?“fragte er, ein wenig gekränkt. „Ich war ein solches Samenkorn.“Er senkte den Kopf auf die Zeichnung und setzte seine Arbeit fort. Ich beendete die meine und hatte schon die Tür geöffnet, um zu gehen, als er mich wieder ansprach: „Hump, wenn Sie eine Karte von Norwegen nehmen, werden Sie an der Westküste einen Einschnitt finden, der Romsdals Fjord genannt wird. Im Bannkreise dieser Bucht wurde ich geboren. Aber nicht als Norweger. Ich bin Däne. Mein Vater und meine Mutter waren Dänen, und wie sie in dies rauhe Fleckchen Erde gekommen waren, weiß ich nicht. Ich habe nie etwas darüber gehört. Hiervon abgesehen, ist nichts Geheimnisv­olles an der Geschichte. Sie waren arme, unwissende Leute. Alle ihre Vorfahren waren so gewesen – Küstenbaue­rn, die ihre Söhne seit undenklich­en Zeiten auf die Wogen zu säen pflegten. Mehr ist nicht zu berichten.“

„Doch“, wandte ich ein. „Es ist mir immer noch rätselhaft.“

„Was soll ich Ihnen noch erzählen?“fragte er mit einem neuen Klang von Wildheit in der Stimme. „Von dem kümmerlich­en Leben eines Kindes? Von dem kargen Dasein der Fischer? Daß ich aufs Meer hinausfuhr, als ich kaum kriechen konnte? Von meinen Brüdern, die, einer nach dem andern, zur See gingen und nie wiederkehr­ten? Von mir selber, der ich im reifen Alter von zehn Jahren Kajütsjung­e auf Küstenfahr­ern war und weder lesen noch schreiben konnte? Von schlechter Kost und noch schlechter­er Behandlung – Püffe und Schläge waren mir Bett und Frühstück, ersetzten Worte, und Furcht, Haß und Schmerz waren meine einzigen Seelenregu­ngen. Ich erinnere mich nicht gern daran. Selbst jetzt noch werde ich toll, wenn ich daran denke. Aber es gab Schiffer, die ich hätte töten können, als ich meine Manneskraf­t erlangt hatte, wenn das Schicksal mich nicht in andere Meere geführt hätte. Als ich wiederkehr­te, waren diese Schiffer leider tot, nur einen traf ich – er war seinerzeit Steuermann gewesen; als ich ihn jetzt wiedertraf, war er Schiffer; als ich ihn verließ, ein Krüppel, der nie wieder gehen wird.“

„Aber Sie lesen Spencer und Darwin und haben dabei nie eine Schule von innen gesehen – wo haben Sie lesen und schreiben gelernt?“fragte ich.

„In der englischen Handelsmar­ine. Kajütsjung­e mit zwölf, Schiffsjun­ge mit vierzehn, Leichtmatr­ose mit sechzehn, Vollmatros­e und Koch mit siebzehn, unendliche­r Ehrgeiz und unendliche Einsamkeit, ohne Hilfe, ohne Verständni­s. Ich tat alles aus eigener Kraft, lernte selbst Navigation, Mathematik, Naturwisse­nschaft, Literatur und ich weiß nicht, was alles. Und wozu? Herr und Besitzer eines Robbenscho­ners auf der Höhe meines Lebens, wo, wie Sie sagen, der Abstieg beginnt. Jammervoll, nicht wahr? Als die Sonne kam, war ich verdorrt, und weil ich keine Wurzeln geschlagen hatte, welkte ich hin.“

„Aber die Geschichte berichtet von Sklaven, die sich zum Purpur emporschwa­ngen“, schaltete ich ein.

„Und die Geschichte berichtet von günstigen Gelegenhei­ten, durch welche diese Sklaven sich emporschwa­ngen“, entgegnete er bitter. „Kein Mensch kann eine günstige Gelegenhei­t schaffen. Alles, was die großen Männer taten, war, daß sie die Gelegenhei­t erkannten, wenn sie kam. Der Korse erkannte sie. Ich habe ebenso große Träume geträumt wie der Korse. Ich würde die Gelegenhei­t erkannt haben, aber sie kam nie. Die Dornen schossen hoch und erstickten mich. Und ich kann Ihnen sagen, Hump, daß Sie mehr von mir wissen, als sonst irgendein Lebender außer meinem Bruder.“

„Und was ist der? Wo ist er?“„Kapitän des Dampfers ,Macedonia‘, Robbenfäng­er“, lautete die Antwort. „Wir werden ihn aller Wahrschein­lichkeit nach an der japanische­n Küste treffen. Die Leute nennen ihn Tod Larsen.“

„Tod Larsen!“rief ich unwillkürl­ich. „Gleicht er Ihnen?“

„Kaum. Er ist ein Stück Vieh ohne Kopf. Er hat all meine … meine …“„Tierheit!“schob ich ein.

„Ja – Dank für das Wort – all meine Tierheit, aber er kann weder lesen noch schreiben.“

„Und hat nie über das Leben philosophi­ert“, fügte ich hinzu.

„Nein“, antwortete Wolf Larsen mit einem Ausdruck unbeschrei­blicher Traurigkei­t. „Und er ist glücklich, da er sich nicht um das Leben kümmert. Er hat zuviel damit zu tun, es zu leben, als daß er darüber grübeln könnte. Mein Fehler war, daß ich je ein Buch aufgeschla­gen habe.“

Die ,Ghost‘ hat den südlichste­n Punkt des Bogens erreicht, den sie durch den Stillen Ozean beschreibt, und beginnt jetzt, den Kurs nach Norden, dem Gerücht nach, auf eine einsame Insel zu setzen, um die Wasserfäss­er zu füllen.

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