Union will jetzt die Unentschlossenen mobilisieren
Wähler sehen mangelnde Unterstützung Söders für Armin Laschet
Berlin/Augsburg Die letzten Tage des Bundestagswahlkampfes lassen die Nervosität in der Union merklich ansteigen. CSU-Chef Markus Söder schwört seine Partei auf einen letzten Kraftakt ein. „Das ist wie im Fußball: Wer in der 80. Minute glaubt, er hat schon gewonnen, der erlebt manchmal sein schwarzes Wunder am Schluss“, sagt er nach einer Vorstandssitzung mit Blick auf den Umfragen-Vorsprung der SPD. Jetzt gehe es nicht mehr um Prozente, sondern nur noch darum, vor den Sozialdemokraten zu landen.
Nur ein paar Tage hat der CDUVorsitzende und Kanzlerkandidat Armin Laschet noch Zeit, das Blatt zu wenden. „Wir tun alles, um auf Platz eins zu liegen und so stark zu sein, dass ein solches Bündnis nicht zustande kommt“, betont Laschet. Am Rezept der vergangenen Tage hält er fest: Mit einem Frontalangriff auf eine mögliche Regierungskoalition aus SPD, Grünen und Linken soll der Umschwung noch gelingen. „Selbst wenn die SPD auf Platz zwei liegen sollte, ist sie in der Lage, ein rot-rot-grünes Bündnis zu bilden, je nachdem, wie sich das Wahlergebnis ergibt“, wirbt Laschet um Stimmen für die Union. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erklärte nach Angaben von Teilnehmern in einer Sitzung des Parteivorstands, es sei eine „historische Mission von Olaf Scholz, das linke Lager untereinander wieder koalitionsfähig zu machen“.
Die Hoffnungen der Union richten sich dabei auch auf die zahlreichen noch unentschlossenen Wählerinnen und Wähler. „Wir gehen davon aus, dass im Feld der Unentschlossenen noch zwei, drei Punkte für uns liegen können“, verlautet es aus der Parteispitze. Aus Parteikreisen hieß es dazu, man sei erleichtert, dass die Briefwahl vielerorts doch noch nicht so weit vorangeschritten sei, wie zunächst befürchtet. Die Angst, viele Stimmen seien bereits unwiderruflich an Scholz gegangen, ist geringer geworden. „Ich bleibe zuversichtlich: Es gibt noch 40 Prozent Unentschlossene“, sagt auch Gesundheitsminister und LaschetUnterstützer Jens Spahn im Gespräch mit unserer Redaktion. „Und die Mehrheit der Deutschen will keine linke Politik.“Die SPD habe genau deshalb Olaf Scholz als Kandidaten aufgestellt. Seine Devise: „Wir haben dieses Land einmal mehr gut durch eine schwere Krise geführt. Das sollten wir auch im Endspurt dieses Wahlkampfs weiter selbstbewusst betonen.“
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisiert, die Union habe mit sich widersprechenden Aussagen zu Steuerentlastungen und der Schuldenbremse ihre innere Mitte verloren und würde auch mit Söder als Kanzlerkandidat deshalb auch nicht besser dastehen. „Mit Markus Söder wäre es nur anders gewesen“, sagte Lindner im Live-Interview unserer Redaktion. Söder habe die Schuldenbremse zur Debatte gestellt und CDU-Chef Laschet die im Wahlprogramm versprochene Steuerentlastung. Er rate deshalb „ab davon, CDU und CSU zu wählen“.
Hätte eine stärkere Unterstützung aus Bayern das Blatt wenden können? Zumindest stellt eine Mehrheit der Bevölkerung Markus Söder in dieser Frage ein schlechtes Zeugnis aus. So sind 66 Prozent der Ansicht, dass sich Söder nicht ausreichend hinter den gemeinsamen Kanzlerkandidaten von CDU und CSU gestellt habe. Mehr als jeder dritte Befragte (36 Prozent) sagt sogar, der CSU-Chef sei „auf keinen Fall“ein guter Unterstützer des CDU-Vorsitzenden gewesen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag unserer Redaktion. In einer gleichlautenden Umfrage im Juli hatte nur jeder zweite erklärt, Söder stehe nicht hinter Armin Laschet.
München CSU-Chef Markus Söder zu einem ehrlich-freudigen Lächeln zu bewegen, ist dieser Tage nicht ganz einfach. Einem seiner alten Bekannten gelingt es dennoch. Der erfahrene Meinungsforscher Helmut Jung, der die CSU seit Jahrzehnten beobachtet, ist in den Münchner Presseclub gekommen, um zu hören, was Söder in diesem dramatischen, selbst Experten verwirrenden Wahlkampf-Endspurt noch im Köcher hat. Doch Jung hört nicht nur zu. Er hat, als Moderator Peter Schmalz ihn darum bittet, auch etwas vorzutragen. Und prompt hellt sich Söders ernste Miene auf.
Was Jung berichtet, betrifft den Kern des Dilemmas, in dem die CSU und ihr Vorsitzender in diesem Bundestagswahlkampf stecken. Als er vor Jahrzehnten mit der Meinungsforschung begonnen habe, so Jung, sei die Situation sehr überschaubar gewesen. Rund 80 Prozent aller Wahlberechtigten in Bayern hätten sich selbst als Stammwähler einer Partei bezeichnet. Daneben habe es zehn Prozent Wechsel- und zehn Prozent Nichtwähler gegeben. Das habe sich mittlerweile grundlegend gewandelt. Aktuell sehen sich, so habe seine jüngste Studie gezeigt, nur noch 22 Prozent aller bayerischen Wahlberechtigten als Stammwähler einer Partei. Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger könne sich längst vorstellen, mal die eine, mal eine andere Partei zu wählen.
Das ist schmerzlich für die CSU, die sich wie keine andere Partei in ihrem Wahlvolk in Bayern verwurzelt sah. Söders Augen strahlen dennoch. Was er da hört, gefällt ihm. Der Grund liegt auf der Hand: Er will nicht an den Wahlergebnissen der Vergangenheit gemessen werden. Er sagt zu Jung: „Das müssen Sie mal in unserem Parteivorstand erzählen. Ich lade Sie ein. Ausgemacht.“
Jungs Analyse ist Wasser auf die Mühlen des CSU-Chefs. Er fühlt sich unverstanden – nicht nur in der Auseinandersetzung mit der CDU, sondern auch in seiner eigenen Partei. Dort werfen sie ihm – im Moment noch hinter vorgehaltener Hand – alles mögliche vor: Er sei zu grün. Er rede zu viel über Klimaund Artenschutz und denke zu wenig an Landwirte und Autobauer. Er übertreibe es mit Modernisierung und Frauenquote. Er vernachlässige die klassisch konservative Anhängerschaft der CSU. Kurz: Er habe die Stammwähler aus den Augen verloren.
Der CSU-Chef kontert derlei Kritik neuerdings mit einer Anekdote: Er habe jüngst CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in dessen Wahlkreis in Oberbayern besucht. Während eines Spaziergangs mit Dobrindt im Murnauer Moos sei er von einer Frau mit norddeutschem Dialekt angesprochen worden: „Tach Herr Söder, schön, dat Sie uns ma besuchen in unserem schönen Oberbayern. Moin, moin.“Söder will damit sagen: Weder der Stammtisch, noch das Bierzelt sind im Freistaat länger das Maß aller
Dinge. Bayern hat sich verändert, deshalb muss sich auch die CSU verändern. Dummerweise aber, so beklagt er, hinken die Parteien der gesellschaftlichen Veränderung stets hinterher. Er redet dabei in der Mehrzahl, aber er meint selbstverständlich ganz besonders seine eigene Partei und ihr spezielles weißblaues Basisproblem.
Für die CSU ist das Thema nicht ganz neu. Aber jetzt, am Ende der 16 Jahre währenden Kanzlerschaft von Angela Merkel, trifft es die Partei mit ungeahnter Wucht. Und es trifft einen CSU-Chef, der seit seinem Amtsantritt im Januar 2019 alle Macht in der Partei an sich gerissen hat. Söder allein bestimmt in der CSU, wo es langgeht. Also trägt er auch die Verantwortung, wenn es weiter nach unten geht.
Dieser erbarmungslosen Logik, die schon einigen seiner Vorgänger das Amt gekostet hat, versucht er eine andere Erzählung entgegenzusetzen. Um seinen Job muss er zwar vorerst nicht bangen. In der Partei ist weit und breit kein Herausforderer in Sicht. Doch er will sich schon jetzt die Herrschaft über den Diskurs sichern, der unmittelbar nach dem Wahltag beginnen wird. Für die CSU ist nach der Wahl vor der Wahl. In zwei Jahren, wenn in Bayern ein neuer Landtag gewählt wird, geht es für die Christsozialen um alles oder nichts. Für Söder auch.
Seine Lockerheit ist schon länger dahin. Er begründet das mit Corona. Dass er als Ministerpräsident Entscheidungen zu treffen hatte, bei denen es um das Wohl und Wehe von Millionen von Menschen und für Zehntausende um Leben oder Tod ging, beschreibt er als tief greifende Erfahrung, die ihn geprägt und verändert habe. Öfter und ausführlicher als früher spricht er über Religion und Glauben. Über eine andere Erfahrung aber spricht er nur ungern, auch wenn er immer wieder danach gefragt wird – dass es für ihn im April dieses Jahres erstmals nicht mehr weiter nach oben ging, als ihm die alten Granden der CDU den Griff nach der Kanzlerkandidatur verweigerten. Er betont, das sei „vorbei“, versucht es mit Selbstironie und sagt dann Sätze wie: „Ich bin ausbefördert.“Langjährige Weggefährten nehmen ihm das nicht ab. Sie sagen: „Er hat das noch längst nicht verdaut. Es brodelt immer noch in ihm.“
Das wäre auch unabhängig von Söders grandiosem Ego verständlich. Die Analyse der politischen Lage zum Ende der Ära Merkel lag in der CSU schon Anfang des Jahres auf dem Tisch: Die CDU ist zerstritten und blutleer, jedenfalls nicht geschlossen genug, um einen strategischen Weg aus der Misere zu finden, und einen alle überzeugenden Kandidaten gibt es bei der Schwesterpartei auch nicht. Die Grünen haben mit dem Klimaschutz ein Megathema, in diesem Punkt weite Teile der Gesellschaft hinter sich und obendrein sympathisches Führungspersonal. Söder habe in Bayern in der Debatte um das Volksbegehren zum Artenschutz gezeigt, dass er als Chef einer bürgerlichkonservativen Regierung dazu in der Lage ist, Ökologie und Ökonomie unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig habe er in der CoronaPandemie Entschlusskraft bewiesen und besser als alle anderen, ja sogar besser als Merkel, den Menschen im Land erklären können, was zu tun sei. Schwarz-Grün schien da schon zum Greifen nah, mit einem starken Schwarzen vorne dran.
Dass die Union mit Söder als Kanzlerkandidat besser da stünde als mit CDU-Chef Armin Laschet, hätte CSU-Generalsekretär Markus Blume jetzt nicht noch einmal sagen müssen. In der CSU glauben das die allermeisten, in der CDU vermutlich zumindest eine Mehrheit. Söders Schmerz über die verpasste Chance dürfte das nicht lindern. Im Gegenteil. Er ist überzeugt, dass er die politische Konkurrenz vor sich hergetrieben hätte und so die Wahl hätte gewinnen können. Nun wird er am Wahlabend mitansehen müssen, wie der schwarze Balken tief ins Minus rutscht.
Der Grundstein dafür wurde mit der Entscheidung für Armin Laschet gelegt. Statt ein WahlkampfFeuerwerk abzubrennen, war die Union „im Schlafwagenmodus“(O-Ton Söder) unterwegs. Doch auch die fast schon verzweifelten Versuche der CSU, unter CoronaBedingungen die Wähler auf den letzten Metern zu mobilisieren, endeten nicht selten trostlos – zum Beispiel vergangene Woche in Landshut.
Das Stadion der Spielvereinigung Landshut liegt ziemlich versteckt inmitten eines Wohngebiets. Extra Parkplätze für die Fußballfans gibt es hier nicht. Landshut ist Eishockey-Stadt. Der letzte große Erfolg der Fußballer (Meister in der Bayernliga) liegt 35 Jahre zurück. Doch auch die Besucher der „CSUStadiontour“mit Markus Söder müssen an diesem trüben, wolkenverhangenen Abend zwischen den schmucken Einfamilienhäusern nicht lange nach einem Parkplatz suchen. Nicht einmal das ohnehin schon begrenzte Corona-Kontingent wird ausgeschöpft. Gefühlt sind mehr Polizisten vor Ort als Gäste. Einige Sitzplätze auf der Tribüne bleiben leer. Eine achtköpfige Blaskapelle bemüht sich, für etwas Bayern-Feeling zu sorgen. Es gibt Bratwurst-Semmeln, Bier gibt es nicht, nicht einmal alkoholfrei.
Rund 2400 Mitglieder hat die CSU in Stadt und Landkreis Landshut, rechnet der Landtagsabgeordnete Helmut Radlmeier vor. Die Zahl der Zuhörer an diesem Abend liegt – wohlwollend gezählt – bei rund 300, inklusive der vielen Parteifunktionäre aus der Region. Das seien mehr als einige Tage zuvor in Bayreuth, da seien es nur 130 gewesen, sagt Radlmeier.
Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Der Deggendorfer Landrat Christian Bernreiter, Präsident des bayerischen Landkreistags und einer der einflussreichsten CSU-Politiker in Niederbayern, sagt auf die Frage, ob bei ihm alles gut sei, nur kurz und knapp: „Na, aber i sog ned warum.“Normalerweise ist Bernreiter ein zugleich spannender und redseliger Gesprächspartner.
Der niederbayerische CSU-Bezirksvorsitzende, Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, übersieht die Lücken im Publikum. „Wir sind bis auf den letzten Platz gefüllt, was möglich ist“, sagt er bei der Begrüßung und versucht, die Bedeutung dieser Veranstaltung hervorzuheben: „Es geht um alles, vor allem um Bayern und unser Niederbayern.“Es klingt wie Pfeifen im finsteren Walde, wenn Scheuer sagt: „Kreuz durchdrücken, Schultern zurück, kämpfen und nicht auf die Umfragen schauen.“
Mehr als fünf Monate sind seit dem zehntägigen Machtkampf zwischen Laschet und Söder vergangen. Die Situation hat sich grundlegend verändert. Eine schwarz-grüne Bundesregierung, geführt von einem Unionskanzler, ist keine realistische Option mehr. CDU und CSU sind in den Umfragen hinter die SPD zurückgefallen, die sie vor Monaten nicht einmal auf der Rechnung hatten. Auch die Grünen haben an Zustimmung verloren. Söder muss erkennen, dass seine Analyse von Anfang des Jahres zwar vielleicht nicht falsch war, aber von den Ereignissen überrollt wurde.
Bei seinem Auftritt in Niederbayern, dem Land der Autobauer und Landwirte, ist von Klimaschutz nicht mehr viel die Rede und wenn doch, dann verbunden mit dem Hinweis, dass Klimaschutz nicht gegen, sondern im Einklang mit den Menschen erreicht werden solle. Hier sagt Söder Sätze wie: „Neben unseren großartigen Autos ist unser wichtigstes Exportgut bayerisches Essen.“Er spricht davon, die Wirtschaft zu stärken, die Landwirtschaft zu fördern, die Sparer zu schützen, die Mütterrente vollständig durchzusetzen, höhere Steuern und neue Schulden zu verhindern. Er malt das Schreckgespenst einer linken oder links geführten Bundesregierung an die Wand und punktet mit Witzen über den Grünen-Politiker Anton Hofreiter, „der sich seit Jahren nachhaltig den hervorragenden Leistungen des bayerischen Friseurhandwerks verweigert“. Den größten Applaus bekommt Söder für seine scharfe Rede gegen übertriebenes Gendern, „Umerziehung“und Verbote.
Jetzt, im Schlussspurt des Wahlkampfs, geht es Söder um die Identität der Partei. Die CSU ist in der Defensive. Die geschrumpfte Stammwählerschaft ist zur letzten Verteidigungslinie geworden. Dass er noch ernsthaft an eine Trendwende zugunsten der Union glaubt, muss man Söder nicht abnehmen. Dass er aber alles tut, um nach der Wahl zu bestehen, ist offenkundig.
Seine Lockerheit ist schon länger dahin
Gefühlt sind mehr Polizisten vor Ort als Gäste