Den Nichtwählern auf der Spur
In Sachsen-Anhalt war die Wahlbeteiligung vor vier Jahren am niedrigsten. Wie nun Freiwillige in einer abgehängten Gegend Menschen aus ihrem politischen Frust holen wollen
Zeitz Am Platz der Deutschen Einheit in Zeitz ist Markttag. Wahlplakate der AfD und der Linken wechseln sich an den Straßenlaternen um das asphaltierte Gelände ab. Zwischen den Ständen mit Wurstwaren, Obst und Kleidung schlendern fast ausschließlich alte Menschen an diesem warmen Septembertag entlang. Der Altersdurchschnitt jener Truppe, die auf dem Platz Tische, Stühle und ein Schild mit der Aufschrift „Kostenloser Kaffee und Gespräche“aufstellt, ist dagegen um einiges niedriger. Sie sind vom Projekt Gesellschaftsdenken und wollen mit Menschen über Demokratie und die Wahl ins Gespräch kommen.
Zeitz liegt eine knappe Stunde südlich von Leipzig entfernt in Sachsen-Anhalt und hat nicht das beste Image. Dieses sei durch die Medien entstanden, schimpfen einige Passanten. Doch Zeitz – einst eine geschäftige Industriestadt – hat seit der Wende mit der Abwanderung von Betrieben und Bevölkerung zu kämpfen. Der baldige Kohleausstieg stellt die Region vor eine weitere Herausforderung. Die Bilder leer stehender Häuser und die Perspektivlosigkeit vieler sind genauso Realität wie eine aufblühende Kreativszene aufgrund der niedrigen Lebenshaltungskosten.
Drei Wochen wollen die Projektteilnehmer, vorwiegend Studierende aus ganz Deutschland, mit der Bevölkerung über diesen Prozess reden – und gegen Politikverdrossenheit arbeiten. Schließlich endet ihre Projektzeit in Zeitz mit der Bundestagswahl am Sonntag. Vor vier Jahren war die Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt mit 68,1 Prozent am niedrigsten. Der Bundesdurchschnitt lag bei 76,2 Prozent. Auch deshalb wollen die Macher und Macherinnen von Gesellschaftsdenken vor Ort zuhören und diskutieren. Sie hoffen auch, den einen oder anderen zum Wählen zu animieren.
Aber kann man Menschen überhaupt politisch mobilisieren? Martin Althoff forscht und publiziert an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Hannover zum Thema Wahlbeteiligung und bejaht diese Frage. „Das funktioniert, wenn die Menschen das Gefühl haben, gehört zu werden“, sagt Althoff. Vor allem der Wahlkampf an der Haustür lohne sich viel mehr als Wahlplakate, so der Politikwissenschaftler. Weniger eindeutig sei dagegen die Frage nach typischen Nichtwählern zu beantworten. Nichtwähler seien keine einheitliche Gruppe: „Es gibt sehr viele Faktoren, die hierfür begünstigend wirken. Wir wissen aus Studien, dass Bildung, Alter, Gewohnheit und Netzwerke einen immensen Anteil ausmachen“, sagt Althoff.
Zum Beispiel der Faktor Alter: Jüngere gehen seltener wählen. Auch weil ältere Menschen häufiger eine Parteiverbundenheit aufweisen und aus Loyalität häufiger wählen gingen. Mehr Einkommen und ein höherer Bildungsgrad wirken sich ebenfalls positiv auf die Wahlbeteiligung aus. Doch je schwieriger die Lebensverhältnisse sind, umso unwahrscheinlicher wählen Menschen.
Horst Sommer, 77 Jahre alt, muss keiner zum Wählen überreden. Der Zeitzer setzt sich für ein Gespräch an den Tisch zu Projektteilnehmer Norbert Kather. Sommer ist überzeugtes Gewerkschaftsmitglied „bis zum Tode“und wählt sozialdemokratisch. Aus seinem Umfeld kenne er jedoch einige Nichtwähler „Das nützt eh nichts“, sagten diese dann. Und der Rentner möchte auch niemanden überreden.
Hans Henniger, Sprecher des Vereins Gesellschaftsdenken, koordiniert auf dem Wochenmarkt die Gesprächsworkshops. Der Politikwissenschaftsstudent aus Leipzig hat deutschlandweit schon viele solcher Gespräche geführt. Auch in Augsburg und Ingolstadt war Gesellschaftsdenken vor vergangenen Wahlen aktiv. Henniger nimmt zu Beginn den Druck raus: Für ein gutes Gespräch müsse man niemanden umstimmen. „Es reicht, wenn das Gespräch ein Denkanstoß ist.“
In der kopfsteingepflasterten Fußgängerzone von Zeitz ist am Wochenende vor der Wahl viel los. Eine Tombola für die Flutopfer in Ahrweiler, einige Essensstände und die Einweihung einer Gedenktafel beleben die Innenstadt. Die Ehrenamtlichen von Gesellschaftsdenken nutzen die Gunst der Stunde, um mit so vielen Menschen wie möglich ins Gespräch zu kommen. Parteien sind bis auf einen kleinen Stand der Basis-Partei nicht vor Ort.
Einige bleiben verdutzt stehen, wenn sie angesprochen werden. „Welche Werte sind Ihnen wichtig?“oder „Was würden Sie als Bürgermeisterin von Zeitz ändern?“werden sie gefragt. Viele lassen sich tatsächlich auf ein konstruktives Gespräch ein; wünschen sich sichere
Spielplätze, mehr Arbeitsplätze und eine fairere Rente. Andere beginnen direkt mit dem Einstieg „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber ...“
Viele Passanten sagen, am Sonntag ihr Kreuzchen machen zu wollen oder bereits per Briefwahl abgestimmt zu haben. „Wer nicht wählen geht, darf danach auch nicht meckern“, ist die Devise einer jungen Mutter, die sich noch unschlüssig ist, wen sie wählen soll. Gesprächspartner Norbert Kather schlägt den Wahl-O-Mat vor. Die Frau möchte die Entscheidungshilfe ausprobieren. Doch es melden sich auch Menschen zu Wort, die aus den verschiedensten Gründen nicht wählen gehen. Da ist zum Beispiel die 18-Jährige, die sich aus ihrer Schulzeit nur mäßig über die Parteienlandschaft und den Entscheidungsfindungsprozess informiert fühlt. „Ich habe keine Ahnung, wen ich wählen soll“, sagt sie. Was ihr wichtig sei? Dass Kapitalismus und Rassismus abgeschafft würden, sagt die junge Frau dagegen mit klarer Kante.
Eine Nichtwählerin betont, früher sogar Wahlhelferin gewesen zu sein. Doch mittlerweile ist die Rentnerin frustriert über die Politik. „Das bringt eh nix“, sagt sie. Ähnlich sieht es eine Rentnerin, die dank pinker Haarsträhne auffällt. Seit der Wende gehe es mit Zeitz bergab und bei jeder Wahl würde es schlimmer. „Warum sollte ich da noch wählen?“, fragt sie. Und da ist ein Mann mittleren Alters, der etwas in Zeitz bewegen wollte und dessen Ideen von der Stadtverwaltung abgewiesen wurden. Aus Frust möchte er eigentlich nichts mehr mit der Politik zu tun haben. Sicher ist er sich jedoch noch nicht.
Verein Gesellschaftsdenken will nur Denkanstöße geben