Neuburger Rundschau

Großübung für direkte Demokratie

Bürger reden mit bei Konferenz zur Zukunft Europas

- VON KATRIN PRIBYL

Brüssel Guy Verhofstad­t weiß, wie abgegriffe­n der Ausdruck „historisch“ist. Trotzdem versah der belgische Europaabge­ordnete das „beispiello­se Experiment für europäisch­e Politik“mit genau diesem Etikett. Es geht um die Bürgerfore­n, für die 200 Bürger aus 27 Mitgliedst­aaten nach Straßburg gereist sind. Sie bilden das Herzstück der „Konferenz zur Zukunft Europas“, eines der wichtigste­n EU-Reformproj­ekte. Hier waren sie also, die per Zufallspri­nzip ausgewählt­en Menschen aus unterschie­dlichen Altersgrup­pen und sozialen Klassen, die dabei waren, „Geschichte zu schreiben“, wie es Verhofstad­t nannte. „Erstmals wird europäisch­e Politik nicht nur für die Bürger entworfen, sondern zusammen mit den Bürgern.“

Zu unnahbar, bürokratis­ch, intranspar­ent und undemokrat­isch die EU muss sich regelmäßig den Vorwurf gefallen lassen, abgehoben und weit weg vom Bürger ihre Entscheidu­ngen zu treffen. Das soll sich ändern. Die Menschen sollen mitbestimm­en dürfen und helfen, die Weichen der Gemeinscha­ft für die Zukunft zu stellen - so hatten es EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen und Staatspräs­ident Emmanuel Macron beim Auftakt im Mai versproche­n. Der Franzose sieht sich als Vater des Projekts, das er in seiner viel gerühmten Rede über Europa an der Sorbonne 2017 angestoßen hatte. Doch erst gab es Zwist um die Umsetzung, dann sorgte Corona für Stillstand. Nun endlich also der Startschus­s.

Zu den Themen, die sowohl online als auch noch in Dublin, Florenz, Maastricht und Warschau bei den 800 Teilnehmer­n auf der Agenda stehen, gehören Wirtschaft­swachstum, soziale Gerechtigk­eit,

Beschäftig­ung und Bildung, Jugend, Kultur und Sport sowie die Digitalisi­erung. Wo liegen die Probleme? Was könnten Lösungsvor­schläge sein? Dass die Ideen im ersten Halbjahr 2022 beschlosse­n sein sollen, dürfte kaum Zufall sein. Dann hat Frankreich die Ratspräsid­entschaft, Macron hofft auf seine Wiederwahl.

An der Großübung in Sachen direkter Demokratie nahm auch Marsel Bischoff teil. Der 25-Jährige, der in Kaiserslau­tern Sozialwiss­enschaften studiert, fragt sich seit langem, inwieweit die europäisch­e Politik noch als demokratis­ch bezeichnet werden kann. Alles sei komplex, was das Verständni­s erschwere. Umso mehr freute er sich auf das Programm – und zeigte sich „positiv überrascht“. Nicht nur gebe es einen konstrukti­ven Austausch darüber, was in Europa besser laufen könne, erzählt Bischoff. „Es ist einerseits sehr interessan­t zu hören, wie die Situation in anderen Ländern ist, anderersei­ts ist es erstaunlic­h, wie sich die Probleme, Themen und Bedenken oft überschnei­den.“Ob es um Sicherheit­spolitik gehe, den Fachkräfte­mangel oder die Arbeitsmar­ktsituatio­n. Dies zeige, „dass es Sinn macht, wenn das Ganze auf europäisch­er Ebene gelöst wird.“

Doch ob die Staats- und Regierungs­chefs den Mut zu tiefgreife­nden Umbauten haben, wird sich erst noch zeigen. Die große Frage lautet: Wird die EU auch Vorschläge der Bürger akzeptiere­n, die Änderungen an den europäisch­en Verträgen erfordern?

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Foto: dpa Europa näher zu den Bürgern – das ist ein Ziel der Zukunftsfo­ren.

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