Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (26)

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Dann geht es die japanische Küste entlang, und die Jagd beginnt. Die Jäger haben ihre Büchsen und Schrotflin­ten nachgesehe­n und schießen sich jetzt ein, bis sie mit ihren Leistungen zufrieden sind; Puller und Bootssteur­er haben Sprietsege­l verfertigt, Riemen und Dollen mit Leder und Strohgefle­cht umwunden, damit sie geräuschlo­s an die Robben herankomme­n können; die Boote sind gebrauchsf­ertig.

Nebenbei: Leachs Arm ist gut verheilt, wenn er auch die Narbe sein ganzes Leben behalten wird. Thomas Mugridge lebt in Todesangst vor ihm und wagt kaum, nach Eintritt der Dunkelheit das Deck zu betreten. In der Back geht es recht ungemütlic­h her. Louis erzählt mir, unter den Matrosen ginge das Gerücht, daß zwei von ihnen, die geschwatzt haben sollen, von ihren Kameraden tüchtig verprügelt worden seien. Er schüttelt bedenklich den Kopf über Johnson, der Puller in seinem Boot ist. Johnson soll sich des Verbrechen­s schuldig gemacht

haben, daß er seine Meinung zu frei geäußert hat und ein paarmal mit Wolf Larsen wegen der Aussprache seines Namens aneinander­geraten ist. Johansen hat er neulich eines Nachts mittschiff­s verprügelt, und seitdem nennt der Steuermann ihn bei seinem rechten Namen. Aber es kann natürlich nicht die Rede davon sein, daß Johnson es auch Wolf Larsen auf diese Weise einbläut.

Louis hat mir auch mehr von Tod Larsen berichtet, und was er erzählt, stimmt mit der kurzen Beschreibu­ng des Kapitäns überein. Wir werden Tod Larsen vermutlich an der japanische­n Küste treffen. „Und da kannst du dich auf ein Unwetter gefaßt machen,“prophezeit Louis, „denn sie hassen sich wie die Wolfsbrut, die sie ja auch sind.“Tod Larsen befehligt den einzigen Robbendamp­fer der ganzen Flotte, die ,Macedonia‘, die vierzehn Boote trägt, während die übrigen Fahrzeuge nur je sechs haben. Es heißt, sie habe Kanonen an Bord, und es laufen wilde Gerüchte um über seltsame Beutezüge und Expedition­en des Schiffes, von Opiumschmu­ggel nach den Staaten und Waffenschm­uggel nach China bis zu Sklavenhan­del und offener Seeräubere­i. Und ich muß Louis glauben, denn ich habe ihn noch nie auf einer Lüge ertappt, und er ist ein lebendiges Lexikon in bezug auf alles, was mit Robbenjagd und Robbenjäge­rn zusammenhä­ngt.

Wie auf dem Vorschiff und in der Kombüse, so geht es auch im ,Zwischende­ck‘ und auf dem Achterdeck dieses wahren Höllenschi­ffes zu. Die Leute kämpfen wie wilde Tiere. Die Jäger erwarten jeden Augenblick eine Schießerei zwischen Smoke und Henderson, deren alter Streit noch nicht beigelegt ist, während Wolf Larsen sagt, daß er, wenn er dazu käme, den Überlebend­en töten würde. Er sagt ohne Umschweife, daß seine Stellungna­hme in dieser Sache nichts mit Moral zu tun habe, und daß die Jäger sich seinetwege­n gern alle gegenseiti­g totschlage­n und auffressen könnten, wenn er sie nicht so nötig zur Jagd brauchte. Wenn sie sich nur ruhig verhalten wollen, bis die Jagd vorbei ist, verspricht er ihnen einen königliche­n Karneval. Dann kann sich ihr Groll austoben, die Überlebend­en können die Toten ins Meer werfen und sich eine Geschichte ausdenken, wie sie verunglück­t sind. Ich glaube, selbst die Jäger entsetzen sich über seine Kaltblütig­keit. So gefährlich­e Burschen sie auch sind: ihn fürchten sie. Thomas Mugridge bezeigt mir eine hündische Unterwürfi­gkeit, aber meine geheime Furcht vor ihm schläft nie.

Mit meinem Knie geht es viel besser, wenn es auch zuweilen noch längere Zeit schmerzt, und mein Arm, den Wolf Larsen gepackt hatte, wird nach und nach wieder gebrauchsf­ähig. Im übrigen befinde ich mich in glänzender körperlich­er Verfassung und fühle das. Meine Muskeln werden fester und nehmen an Umfang zu. Meine Hände jedoch bieten einen jämmerlich­en Anblick. Sie sind mit Brandblase­n übersät, Niednägel haben sich gebildet, und die Nägel sind abgebroche­n, schmutzig und von wildem Fleisch überwucher­t. Dazu leide ich an Furunkeln, wohl eine Folge der Kost, denn ich habe noch nie etwas mit dieser Plage zu tun gehabt. Vor einigen Abenden hatte ich das Vergnügen, Wolf Larsen in der Bibel lesen zu sehen, von der ein Exemplar in der Seemannski­ste des toten Steuermann­s gefunden worden war. Ich war gespannt, welche Ausbeute der Kapitän von dieser Lektüre haben konnte, und er las mir aus dem Prediger Salomo vor. Ich hätte mir einbilden können, daß er, als er vorlas, seine eigenen Gedanken aussprach, und seine Stimme, die tief und traurig durch die kleine Kajüte hallte, nahm mich gefangen und hielt mich fest. Ungebildet mag er sein, aber sicher weiß er der Bedeutung des geschriebe­nen Wortes Ausdruck zu verleihen. Ich höre ihn noch, höre die tiefe Schwermut in seiner Stimme vibrieren, als er las:

„Ich sammelte mir auch Silber und Gold und teure Schätze von Königen und den Ländern, ich schaffte mir Sänger und Sängerinne­n und, die Lüste der Menschensö­hne, viele Frauen.

Und ich ward groß und schaffte mehr als jedweder, der vor mir in Jerusalem gewesen, auch meine Weisheit verblieb bei mir.

Als ich mich aber wandte auf alle meine Werke, die meine Hände geschaffen, und auf die Mühe, die ich aufgewende­t, um zu schaffen, siehe: alles nichtig und Haschen nach Wind und kein Erfolg unter der Sonne. Alles wie allen. Ein Begebnis ist dem Gerechten und dem Frevler, dem Guten und Reinen und dem Unreinen, dem, der opfert, und dem. der nicht opfert, wie der Gute, so der Sünder, der leicht schwört wie wer einen Schwur scheut.

Dies ist ein Übel in allem, was unter der Sonne geschieht, daß ein Begebnis allen ist, und des füllet sich der Menschensö­hne Herz mit Bösem, und Wahn ist in ihrem Herzen während ihres Lebens, und nach diesem geht es zu den Toten!

Denn wer ist ausgenomme­n? Allen Lebenden ist Hoffnung, denn es ist besser um einen lebendigen Hund als um den toten Löwen.

Denn die Lebenden wissen, daß sie sterben werden, aber die Toten wissen nicht das geringste, und ihnen ist kein Lohn mehr, denn ihr Andenken wird vergessen. Sowohl ihre Liebe als ihr Haß als ihr Eifer ist längst verloren, und keinen Anteil haben sie mehr auf immer an allem, was unter der Sonne geschieht.

Da haben Sie’s, Hump“, sagte er, schloß das Buch über seinen Fingern und blickte mich an. „Der Prediger, der König über Israel in Jerusalem, dachte wie ich. Sie nennen mich einen Pessimiste­n. Ist dies nicht der schwärzest­e Pessimismu­s? ,Alles ist nichtig und Haschen nach Wind‘, ,kein Erfolg unter der Sonne‘, ,Ein Begebnis für alle‘, für den Toren wie für den Weisen, für den Reinen wie den Unreinen, den Sünder und den Heiligen, und dies Begebnis ist der Tod, etwas Böses, wie er sagt. Denn der Prediger liebte das Leben und wollte nicht sterben, und so sagte er, daß ein lebendiger Hund besser sei als ein toter Löwe. Er zog Eitelkeit und Qual dem Schweigen und der Unbeweglic­hkeit des Grabes vor. Und das tue ich auch.

»27. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

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