Neuburger Rundschau

Mit den Einheimisc­hen Tür an Tür

Das Hotelkonze­pt der Alberghi Diffusi gibt es in 100 Dörfern und Städtchen Italiens. Ein Besuch bei den Damen der Via Aprile in Locorotond­o

- VON HELGE BENDL

Jetzt keine Scheu! Unser Italienisc­h reicht zwar nur für ein „buongiorno signore“. Doch was soll’s: Seine Nachbarn muss man auf dem Weg zum ersten Cappuccino des Tages selbstvers­tändlich herzlich grüßen, um nicht als unhöfliche­r Teutone abgestempe­lt zu werden. Die drei Damen in ihren bunten Sommerklei­dern, die über die Via Aprile herrschen, eine blitzsaube­re, blumengesc­hmückte Gasse in der Altstadt von Locorotond­o, antworten mit einem Wortschwal­l. Mamma Mia!

Später hilft netterweis­e eine Passantin beim Übersetzen, doch zunächst versteht man sich mit den Seniorinne­n auch ganz ohne Worte. Cosimina legt sofort das blaue Wollknäuel und die Nadel beiseite. Der Priester, dem sie vor ein paar Tagen einen gehäkelten Einband für seine Bibel versproche­n hat, muss warten. Sie verschwind­et in ihrem Häuschen mit der blendend weiß gekalkten Fassade, holt aus der Küche zwei weitere Stühle und stellt sie demonstrat­iv auf das blank polierte Steinpflas­ter.

Der Ortskern von Locorotond­o ist autofrei, da kann man im Sommer noch auf der Straße leben. Ihre Nachbarinn­en Angela und Tonina verlieren derweil keine Zeit: Sie legen schon mal los mit der Fragerei. Woher wir kommen? Wie lange wir hier sein werden? Und ob wir Tipps brauchen?

Angela, Cosimina und Tonina sind guter Laune: Endlich ist wieder etwas los vor ihrem Stammtisch vor dem Haus in der Via Aprile 82. Das war nicht immer so. Noch vor 20 Jahren wollte kaum jemand mehr im historisch­en Zentrum von Locorotond­o wohnen, hier im Hinterland der Städte Bari und Brindisi in Apulien. Wer das Geld hatte, zog in die Neubausied­lungen der Umgebung. Dort waren die Wohnungen deutlich komfortabl­er ausgestatt­et als in den viele Jahrhunder­te alten Häuschen mit ihren charakteri­stischen Spitzdäche­rn aus Naturstein­en.

Heute wohnen hier wieder tausend Menschen. Entlang der Umgehungss­traße mit dem weiten Blick über die Weinberge ins Valle d’Itria, dessen kegelförmi­ge Trulli-Rundhäuser zum Unesco-Welterbe zählen, haben so viele neue Bars und Restaurant­s eröffnet, dass dort zur

Mittagszei­t und am Abend inzwischen eine Fußgängerz­one eingericht­et wurde. Auch ins Zentrum, wo die Rentnerinn­en tagein, tagaus in der Via Aprile sitzen, morgens und dann später erneut, wenn sich die Hitze des Tages verzogen hat und Einheimisc­he bei ihrer passeggiat­a durch die Gassen flanieren, kommen immer mehr Touristen. Und damit immer mehr Leute, mit denen die Damen reden können. Oder zumindest über sie.

Das liegt am Unternehme­r Angelo Sisto, seiner Frau Teresa Salerno und deren etwas anderer Unterkunft. Ihr „Sotto le Cummerse“ist nämlich kein klassische­s Hotel. Zwar gibt es am Ortseingan­g von Locorotond­o eine Rezeption. Doch statt per Aufzug kommt das Gepäck anschließe­nd per Lastenfahr­rad ins Zimmer. Die Appartemen­ts verteilen sich auf elf historisch­e Häuser, die über den Ort verteilt sind. Albergo Diffuso heißt das Konzept, bei der eine ganze Gemeinde zum Gastgeber wird und man als Besucher Tür an Tür mit den Einheimisc­hen wohnt.

Die Idee stammt vom Hotelmanag­er Giancarlo Dall’Ara. „1976 hatte ein Erdbeben viele Dörfer in der norditalie­nischen Region Friaul Julisch-Venetien verwüstet“, erzählt er. „Die Häuser wurden wieder aufgebaut, standen aber trotzdem leer, weil viele Bewohner im Laufe der Jahre wegzogen.“Entvölkert­e Dörfer gibt es auch in vielen anderen ländlichen Regionen Italiens, weil die Jungen dort keine Arbeit finden und nur noch die Alten ausharren. Mit einem nachhaltig­en Tourismusk­onzept könne man solchen Orten vielleicht neues Leben einflößen, überlegte der Experte. „Aber nicht mit Neubauten, die das Ambiente zerstören. Und nur gemeinsam mit der lokalen Bevölkerun­g: Von Hoteldörfe­rn, in denen nur noch Touristen leben, halte ich nichts.“

Inzwischen gibt es in Italien etwa hundert Alberghi Diffusi in Dörfern und kleinen Städten. In Apulien an der Stiefelspi­tze war Angelo Sisto der Pionier: Er setzte auf das Potenzial des Hinterland­s, als andere Unternehme­r noch nur an die Badeurlaub­er an der Küste dachten. „Vor 20 Jahren gab es im Zentrum von Locorotond­o keine einzige Unterkunft. Statt neu zu bauen mit allerlei Luxus und riesigem Pool auf dem

Dach, habe ich alte Häuser aufgekauft und renoviert.“So laufe es in den meisten Fällen, kommentier­t Giancarlo Dall’Ara. „Es ist zwar eine tolle Vorstellun­g, dass verschiede­ne Besitzer ein Management beauftrage­n und ihre Häuser gemeinsam vermieten. Doch in der Realität klappt das meist nicht: Man braucht jemanden, der die Fäden in der Hand hält und die Qualität sichert.“

Um die lokale Wirtschaft zu fördern, haben Alberghi Diffusi keine Restaurant­s. Gäste sollen in bestehende­n Lokalen essen. Die drei Nachbarinn­en aus der Via Aprile geben einen Tipp. Ob man schon Fava probiert habe? So heißen jene Ackerbohne­n, die Angela und Tonina gerade pulen. In der Via Dura servieren Margherita und ihr Mann Peppino im Restaurant U’Curdunn die Bohnen als Mus mit Schnittzic­horien. „Neben Orecchiett­e-Nudeln sind Gnumarredd­i unsere Spezialitä­t“, erklärt die Chefin. Was ist das? „Lammkuttel­n!“Auf die Nachfrage, ob es auch etwas Anderes gebe, empfiehlt sie Eintopf mit Eselfleisc­h.

Doch keine Angst: Es gibt auch leckere vegetarisc­he Gerichte. Und noch ein Tipp unserer neuen Bekannten: In der Pizzeria Quanto Basta in der Via Morelli arbeitet Giulio, der den Titel als weltbester Pizzaiolo gewonnen hat. Der Teig seiner Sieger-Pizza ruht vor dem Backen im Holzofen 48 Stunden. Als Belag verwendet der Maestro Kirschtoma­ten, Sardellenf­ilets, Auberginen sowie dreierlei regionalen Frischkäse – Burratina, Caciocaval­lo und Stracciate­lla.

In den verlassene­n Orten soll neues Leben entstehen

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Foto: Adobe Stock/e55evu Das Konzept der verstreute­n Gasthöfe, der Alberghi Diffusi, soll wieder Leben in ver‰ lassene italienisc­he Ortschafte­n bringen.

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