König der Angstmacher
Präsident Jair Bolsonaro steht im krisengeschüttelten Brasilien mit dem Rücken zur Wand. 2022 sind Wahlen, die Umfragen sprechen gegen ihn. Nun mobilisiert der Rechtspopulist seine Anhänger, hetzt gegen Richter und kokettiert sogar mit einem Putsch
Brasília/Rio de Janeiro Zehntausende strömen ins Regierungsviertel. Eine Drohne nimmt das Spektakel auf, so ist das imposante Meer an Menschen in der Hauptstadt Brasília besonders gut zu sehen. Es sind Bilder, die der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro liebt. Allesamt sind sie seine Anhänger und dem Aufruf gefolgt, am Unabhängigkeitstag für ihn zu demonstrieren. Die Massen sollen signalisieren: Das Volk steht hinter dem Rechtspopulisten. Wenn sich schon tausende Motorradfahrer treffen, um im Konvoi über die Hauptstraßen der Städte zu fahren; wenn schon Menschen über Menschen die Avenida Paulista in São Paulo bevölkern – dann kann es ja gar nicht anders sein.
Diese Massenversammlungen sind auch Demonstrationen der Macht. Sie sollen beweisen, dass die aktuellen Umfragen falsch sind. Dass Bolsonaro in Wirklichkeit vorne liegt. Dass er der tatsächliche Mann des Volkes ist.
Einer, der oft bei solchen Veranstaltungen dabei ist, ist Gilmar Garcia, 61, Professor für Körpererziehung. „Als echter Motorradfahrer liebe ich die Freiheit“, sagt Garcia im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Mann trägt eine Militärjacke, auch das ist ein Statement an diesem Tag der Pro-Bolsonaro-Demo in Rio de Janeiro. Hier ist alles in die Nationalfarben getaucht: Gelb, Grün und ein bisschen Blau. Einige haben sich die Gesichter angemalt, andere in die Nationalflagge eingewickelt. Immer wieder ertönt die Hymne, das verbindende Element, das die Menschen zu Tränen rührt. „Es geht um unsere Freiheit“, sagt Garcia voller Überzeugung. Die ist in seinen Augen bedroht – von den demokratischen Institutionen, den Gerichten, den Medien, den Parlamenten. Sie alle werfen Bolsonaro Knüppel zwischen die Beine, sind die „Bolsonaristas“überzeugt.
Dass die Verfassung vorschreibt, wie Parlament und Justiz, ja auch die Medien die Regierung sogar kontrollieren müssen, davon will hier niemand etwas wissen. „Wir, die Menschen, die die Freiheit lieben, kämpfen dafür, dass der Kommunismus komplett ausgelöscht wird“, sagt Garcia. Dann verweist er auf die brasilianische Flagge, die – so sagen es die „Bolsonaristas“– nie mehr rot werden dürfe.
In Lateinamerikas größtem Land hat der Wahlkampf der Alphatiere begonnen. Im kommenden Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Es geht, mal wieder, um alles. Hier der Amtsinhaber Jair Bolsonaro, der in den Umfragen mit dem Rücken zur Wand steht. Fast 600000 CoronaTote werden vor allem ihm und seinem verharmlosenden Kurs angelastet, seinem Spott gegenüber Hygieneschutzmaßnahmen und Impfmitteln, seinem ständigen Austausch des Personals an der Spitze des Gesundheitsministeriums.
Bei einem Volk von 210 Millionen Einwohnern ist einer von 350 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben. Vor allem in den Armenvierteln, wo die Menschen dicht aufeinander hocken und sich nicht aus dem Weg gehen können, hat fast jede Familie in ihrem direkten oder erweiterten Umfeld Kontakt zu einer anderen Familie, die einen Todesfall zu beklagen hat.
Dann der dramatische Absturz der Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit ist auf 15 Prozent gestiegen. Armenspeisungen von Favela-Organisationen oder der Kirche sorgen dafür, dass ausgerechnet in der Speisekammer der Welt, dem Agrar-Riesen Brasilien, der Hunger nicht noch weiter um sich greift. Die Preise galoppieren davon. Selbst jene, die Arbeit haben, stöhnen unter der Abgabenund Kostenlast.
Hinzu kommt, dass Bolsonaro Brasilien international isoliert hat. Seine wichtigsten Verbündeten waren Donald Trump und Benjamin Netanyahu. Doch der Ex-Präsident der USA und der frühere Regierungschef Israels haben ihre Wahlen verloren. Und der Rest der Welt lehnt Bolsonaros Abholzungspolitik im Amazonas-Regenwald ab, vor al
weil sich der Brasilianer in jeder Hinsicht beratungsresistent zeigt und trotz Klimawandels keinerlei Veranlassung sieht, den Kurs zu ändern.
Derzeit hält sich Jair Messias Bolsonaro, so sein vollständiger Name, in New York auf. Bei der UN-Vollversammlung wird es natürlich um die Corona-Pandemie, um Afghanistan und die Spannungen mit China gehen, aber eben auch um den Klimawandel. Auch Bolsonaro soll vor den Vereinten Nationen sprechen. An diesem Dienstag macht er allerdings weniger inhaltlich denn durch eine Anekdote am Rande von sich reden.
Der Präsident – wie gesagt ein erklärter Impfskeptiker – rühmt sich in seiner Heimat damit, sich als „letzter Brasilianer“impfen lassen zu wollen. Demzufolge darf er als Ungeimpfter in den Innenräumen von New Yorker Restaurants nicht bedient werden. Hunger auf Pizza hat er an diesem Tag trotzdem, und so ist er zu sehen, wie er eben auf der Straße ein Stück Pizza zu sich nimmt. Was ein Mitglied der brasilianischen Delegation auf Twitter ironisch als „Luxusdinner in New York“betitelt. Und Anhänger feiern umgehend die „Bodenständigkeit“ihres Präsidenten.
Zu Hause in Brasilien sind für Bolsonaro besonders die Korruptionsvorwürfe gegen Familienmitglieder bitter, gehörte doch das Versprechen, gegen Bestechlichkeit vorzugehen, zu den wichtigsten Aussagen seiner Kampagne. Stück für Stück bricht das Bild des starken Machers in sich zusammen.
Deswegen glauben die Umfragen derzeit an einen klaren Wahlsieg desjenigen, der ihm 2022 gegenüberstehen wird: des linksgerichteten Ex-Präsidenten Lula da Silva, der das Land schon einmal von 2003 bis 2011 regiert hat. Damals ging es Brasilien deutlich besser, auch wenn der Wirtlem schaftsaufschwung mit einer ähnlich klimafeindlichen Wirtschaftspolitik erkauft war, wie es sie heute noch gibt. Anders als Bolsonaro aber hat Lula verstanden, wie internationale Diplomatie und der Umgang mit Amtskollegen funktioniert.
Lula ist allerdings auch die Hassfigur der brasilianischen Rechten, der personifizierte Kommunist. Dabei ist er eigentlich ein Sozialdemokrat, der auf eine Art soziale Marktwirtschaft setzt.
„Bolsonaro hat den Institutionen nie vertraut“, sagt Politikwissenschaftler Roberto Gulart von der Universität Brasilia im Gespräch mit unserer Redaktion. Zudem habe Bolsonaro in seiner politischen Vergangenheit eigentlich nie konstruktiv gearbeitet und keine eigenen Projekte vorgeschlagen. Stattdessen sei es ihm gelungen, „ein Gefühl zu katalysieren, dass die Stärke Brasiliens Probleme lösen wird“.
Also setzt der Präsident auf Emotionen, auf Ängste, auf Irrationalität, weil Verstand und Logik ihn entlarven. Und er versucht mit seinen Anhängern eine Art Wagenburgmentalität herzustellen: Wir gegen die. Die, das ist zum Beispiel der Oberste Gerichtshof, der Bolsonaro in die Grenzen verweist, wenn dieser wieder mal von Wahlbetrug spricht, aber keine Beweise vorlegen kann. Wenn aus seinem Umfeld Fake News gestreut werden und das Gericht ihn zur Ordnung ruft. Unter dem Gejohle seiner Anhänger droht Bolsonaro den Richtern so doppeldeutig, dass jeder versteht, was gemeint ist, aber er juristisch nicht belangt werden kann. In Richtung des Präsidenten des Obersten Gerichts, Luiz Fux, rief er beispielsweise: „Entweder der Chef dieser Staatsgewalt hält seinen Richter im Zaum oder diese Institution wird das erfahren, was wir nicht wollen.“
Jubel und Beifall begleiten solche Auftritte. Bolsonaro-Anhänger Garcia glaubt deshalb: „Wir leben in einer Diktatur der Richterroben.“
Für einen Putsch, wie ihn einige politische Beobachter in Brasilien befürchten, bräuchte Bolsonaro ähnlich ergebene Militärs wie die Diktatoren Nicolas Maduro in Venezuela oder Daniel Ortega in Nicaragua. Doch in Teilen der Armee wächst die Unzufriedenheit mit dem bisweilen wirren Auftreten des Präsidenten. Deswegen gibt es noch eine zweite Theorie, die Bolsonaros irrationalen Kurs der Wissenschaftsund Konsensfeindlichen zu erklären versucht. Bolsonaro will ein Amtsenthebungsverfahren provozieren, um damit seine Rolle als „Opfer“perfekt zu inszenieren. Ein Großteil der Brasilianer nimmt ihm das allerdings nicht mehr ab.
Seine Anhänger reagieren genervt auf Nachfragen zur antidemokratischen,
Bolsonaros Anhänger sehen die Freiheit in Gefahr
Dem Präsidenten gefallen die Verschwörungstheorien
weil institutionsfeindlichen Attitüde. „Das Gerede von einer antidemokratischen Demonstration ist das Narrativ der Linken – genau jener Kräfte, die dieses Land moralisch, wirtschaftlich und in der Bildung an den Abgrund geführt haben“, sagt Winter Junior, 69, der im Immobiliengeschäft tätig ist und ebenfalls für Bolsonaro auf die Straße gegangen ist. In Wahrheit seien nicht die Demonstranten antidemokratisch, sondern die Institutionen des Staates, sagt er. „Ich verlange, dass sie den Mann in Ruhe regieren lassen, damit die Verfassung erfüllt werden kann.“Bolsonaro sei gewählt, das Land zu regieren, und nicht die Richter.
Am Abend dieses aufwühlenden Tages ist der Putsch erst einmal ausgeblieben. Bolsonaro bleiben nun noch gut zwölf Monate, um den Trend gegen ihn zu stoppen und eine Aufholjagd zu starten. Dazu müssten die Wirtschaft durchstarten und die Menschen wieder eine Perspektive sehen.
Ein paar Demonstranten mit Trikots der brasilianischen Nationalmannschaft glauben, auch das sei manipuliert. Man wolle eine zweite Amtszeit von Bolsonaro unbedingt verhindern, sagen sie. Dem Präsidenten gefallen solche Verschwörungstheorien, für die Demokratie sind sie aber brandgefährlich. Wozu so etwas führen kann, haben der 6. Januar und der Sturm auf das Kapitol in Washington bewiesen.