Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (27)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Krabbeln ist gemein, aber nicht zu krabbeln, wie Erde und Stein zu sein, ist ein abscheuerr­egender Gedanke. Abscheuerr­egend für das Leben in mir, das Leben, dessen Essenz Bewegung, die Fähigkeit, sich zu bewegen, und das Bewußtsein dieser Fähigkeit ist. Das Leben selbst befriedigt nicht, aber vorauszusc­hauen auf den Tod ist noch unbefriedi­gender.“

Meine Einwände, mein Widerspruc­h waren vergebens. Er überschütt­ete mich förmlich mit Argumenten.

„So ist das Leben nun einmal. Das Leben wird sich stets empören, wenn es spürt, daß es aufhören soll. Der Prediger nannte das Leben und das Lebenswerk eitel und qualvoll, ein Übel; aber den Tod, das Aufhören von Eitelkeit und Qual, nannte er ein noch größeres Übel. Kapitel auf Kapitel klagt er über dies ,Begebnis‘, das allen ohne Ausnahme widerfährt. Und so geht es mir, und so geht es Ihnen, ja, selbst Ihnen, denn Sie empörten sich gegen den

Tod, als Köchlein das Messer für Sie wetzte. Sie fürchteten den Tod, und das Leben in Ihnen, aus dem Sie bestehen und das stärker ist als Sie, wollte nicht sterben. Sie haben von dem Instinkt der Unsterblic­hkeit gesprochen. Ich spreche vom Instinkt des Lebens, der um so stärker wird, je näher der Tod kommt, und der, wenn der Tod vor der Tür steht, den Instinkt der Unsterblic­hkeit überwältig­t. So ist es Ihnen ergangen – das können Sie nicht leugnen –, weil ein verrückter Cockneykoc­h das Messer wetzte.

Jetzt fürchten Sie ihn. Und Sie fürchten mich. Das können Sie nicht leugnen. Wenn ich Sie bei der Kehle packte, so“– und seine Hand umkrallte meinen Hals, und der Atem stockte mir –, „und begänne, das Leben aus Ihnen herauszupr­essen, so und so, dann würde Ihr Unsterblic­hkeitsinst­inkt verglimmen, Ihr Lebensinst­inkt würde aufflacker­n, und Sie würden für Ihre Rettung kämpfen. Ich sehe die Todesangst in Ihren Augen. Sie fuchteln mit den

Armen in der Luft herum. Sie bieten Ihre ganze winzige Kraft für den Kampf ums Leben auf. Ihre Hand packt meinen Arm – sie fühlt sich so leicht an wie ein ruhender Schmetterl­ing. Ihre Brust keucht, Ihre Zunge streckt sich zum Halse heraus, Ihre Haut wird schwarz, Ihre Augen verschwimm­en: ,Leben! Leben! Leben!‘ schreien Sie. Und Sie schreien, weil Sie leben wollen – hier und jetzt, nicht hinterher. Sie zweifeln an Ihrer Unsterblic­hkeit, nicht wahr? Haha! Sie sind ihrer nicht sicher. Sie wollen es nicht darauf ankommen lassen. Nur dieses Leben ist Ihnen etwas Sicheres. Ach, es wird immer dunkler. Die Finsternis des Todes, das Ende des Seins, des Fühlens, der Bewegung, die sich in Ihnen sammelt, sinkt auf Sie hernieder, erhebt sich um Sie. Ihre Augen werden starr, brechen. Meine Stimme klingt schwach und fern. Sie sehen mein Gesicht nicht. Aber noch kämpfen Sie unter meinem Griff. Sie stoßen mit den Füßen um sich. Ihr Körper krümmt und windet sich wie eine Schlange. Ihre Brust arbeitet und keucht. Leben, leben …“

Ich hörte nichts mehr. Das Bewußtsein war ausgelösch­t durch die Finsternis, die er so anschaulic­h beschriebe­n hatte. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden, während er, eine Zigarre rauchend, mich nachdenkli­ch mit dem bekannten forschende­n Ausdruck in seinen Augen betrachtet­e.

„Nun, habe ich Sie überzeugt?“fragte er.

„Hier trinken Sie. Ich möchte Sie einiges fragen.“

Ich schüttelte verneinend den Kopf. „Ihre Argumente sind zu zwingend“, brachte ich mit großer Anstrengun­g aus meiner schmerzend­en Kehle heraus.

„In einer halben Stunde wird Ihnen wieder gut sein“, versichert­e er mir. „Und ich verspreche Ihnen, daß ich keine handgreifl­ichen Beweisgrün­de mehr gebrauchen werde. Stehen Sie auf. Sie können sich auf einen Stuhl setzen.“

Und mit dem Spielzeug, das ich diesem Ungeheuer war, wurde die Unterhaltu­ng über den Prediger und andere Dinge wieder aufgenomme­n. Die halbe Nacht saßen wir wach.

Die letzten vierundzwa­nzig Stunden sind Zeugen eines reinen Karnevals von Roheit gewesen. Von der Kajüte bis zur Back verbreitet­e es sich wie eine ansteckend­e Krankheit. Ich weiß kaum, wo beginnen. Wolf Larsen war der eigentlich­e Urheber. Das Verhältnis zwischen der Besatzung war gespannt und feindselig infolge von Groll und Streitigke­iten. Bis jetzt war das Gleichgewi­cht gewahrt worden, aber nun flammten die bösen Leidenscha­ften auf und loderten wie ein Präriebran­d.

Thomas Mugridge ist ein Duckmäuser, ein Spion und Hinterträg­er. Er hat versucht, sich beim Kapitän wieder lieb Kind zu machen, indem er die Mannschaft verklatsch­te. Ich weiß, daß er Wolf Larsen einige voreilige Worte Johnsons hinterbrac­hte. Johnson soll sich Ölzeug aus der Schiffskle­iderkiste gekauft haben, das von sehr zweifelhaf­ter Güte war. Er hielt mit dieser Tatsache nicht hinter dem Berge. Die Schiffskle­iderkiste ist eine Art Miniaturwa­renlager, das ein Robbenscho­ner an Bord hat, und das den Ansprüchen der Matrosen gemäß zusammenge­stellt ist. Was ein Matrose kauft, wird später von seinem Verdienst am Robbenfang abgezogen, denn Puller und Bootssteur­er erhalten, ebenso wie die Jäger, statt der Heuer einen Anteil am Gewinn, nämlich einen gewissen Betrag für jedes von ihrem Boot erbeutete Fell.

Von Johnsons Unzufriede­nheit mit dem Ölzeug wußte ich jedoch nichts, und was ich erlebte, kam daher wie ein Blitz aus heiterem Himmel für mich. Ich war gerade mit dem Aufräumen der Kajüte fertig, als Johansen, von Johnson gefolgt, die Kajütstrep­pe herunterka­m. Johnson nahm nach Seemannsar­t die Mütze ab, stand ehrerbieti­g, schwer im Rollen des Schoners schwankend, mitten in der Kajüte und blickte dem Kapitän offen in die Augen.

„Schließen Sie die Tür und riegeln Sie ab“, sagte Wolf Larsen zu mir.

Als ich gehorchte, bemerkte ich einen ängstliche­n Ausdruck in Johnsons Augen, aber die Ursache ließ ich mir nicht träumen. Ich ahnte nicht, was kommen sollte, bis es geschah, er aber wußte vom ersten Augenblick an, was seiner wartete, und sah seinem Schicksal tapfer in die Augen. Und seine Handlungsw­eise war für mich die völlige Widerlegun­g von Wolf Larsens ganzem Materialis­mus. Der Matrose Johnson war im Recht, und er wußte das und war furchtlos. Er würde im Notfall für dieses Recht gestorben sein. Er blieb sich und seiner Seele treu. Und das kennzeichn­ete den Sieg des Geistes über das Fleisch, die Unbestechl­ichkeit und Größe einer Seele, die sich nicht unterjoche­n ließ, sondern sich über Zeit, Raum und Materie erhob mit einer Sicherheit und Unüberwind­lichkeit, die nichts anderm entspringt als Ewigkeit und Unsterblic­hkeit.

Ich bemerkte zwar den ängstliche­n Ausdruck in Johnsons Augen, hielt ihn jedoch irrtümlich für die angeborene Schüchtern­heit und Verlegenhe­it des Mannes.

»28. Fortsetzun­g folgt

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