Neuburger Rundschau

Feierlaune kann ansteckend sein

Die Staatsregi­erung hat sich lange nicht getraut. Erst jetzt dürfen Clubs und Discos in Bayern wieder öffnen. Trotzdem haben es die Betreiber nicht eilig. Die Erfahrunge­n anderer Bundesländ­er zeigen, dass ein Risiko bleibt – und Party mit Maske nicht über

- VON ANNA KATHARINA SCHMID

Ulm Sie stürzen die Treppen hinunter, wühlen sich in die Menge, schreien, lachen, liegen sich in den Armen. Tanzen in Gruppen, die Hände in der nebeligen Luft. An diesem Samstag ist nach kurzer Zeit Einlasssto­pp im Ulmer Club „Frau Berger“, 200 Menschen feiern auf der Tanzfläche. Bunte Lichter flirren durch die Dunkelheit. Bässe, so laut, dass der Boden vibriert. Einige tragen Masken, andere nicht.

Dieses Detail steht stellvertr­etend für die gesamte Kontrovers­e: In den Augen vieler Menschen sind Clubs Sehnsuchts­orte. Musik, berauschen­de Farbenspie­le. Singen, flirten, die Zeit löst sich auf, während man sich durch ein Meer aus fremden Gesichtern tanzt. Virologisc­h betrachtet spricht alles gegen sie. Sie vereinen, was man in der Pandemie zu vermeiden versuchte: Körpernähe, viele Leute in kleinen Räumen, meist schlechte Belüftung. Aus diesen Gründen blieben die Einrichtun­gen am längsten geschlosse­n, länger als etwa Swingerclu­bs und Bordelle. Zurecht, finden viele. Clubs und Discos stellen nach wie vor eine Gefahr dar, wie ein großer Ausbruch in Münster zeigt. Bei einer Party infizierte­n sich 85 Menschen, obwohl nur Geimpfte und Genesene zugelassen waren.

Während auf der baden-württember­gischen Seite der Donau bereits das Nachtleben blüht, herrscht auf der anderen Leere in den Clubs. Bayerns Staatsregi­erung war besonders konsequent – und zeigte zum Teil auch wenig Verständni­s für die Szene. Vor einem Jahr, als es noch düster mit Öffnungen aussah, vertröstet­e Ministerpr­äsident Markus Söder Feiernde etwa mit der Aussage: „Aber Sie können ja zum Beispiel zu Hause mit Ihrer Partnerin tanzen.“Bayern ist das letzte Bundesland, in dem Clubs ihre Wiedereröf­fnung feiern, nach eineinhalb Jahren, am ersten oder zweiten Oktober. Oder vielmehr: Sie dürfen öffnen, wenn sie denn wollen.

Die Tage fallen auf ein Wochenende. Gleich wilde „Welcome back“-Partys schmeißen, zurück zu alten Zeiten mit Champagner und einem großen Knall? Vorerst nicht. Nicht alle Betreiberi­nnen und Betreiber der rund 800 Clubs in Bayern scharren so ungeduldig in den Startlöche­rn, wie man vermutet. Die Branche hat gelitten.

Das Hoffen und Zittern, die Vorbereitu­ngen und die große Wiederöffn­ung – das haben die Discos im Rest Deutschlan­ds schon hinter sich. In Baden-Württember­g durften die Einrichtun­gen Mitte August zum Normalbetr­ieb zurückkehr­en. Der erste Clubabend im „Frau Berger“in Ulm ist Inhaber Joe Hochberger in Erinnerung geblieben: „So seltsam und wunderschö­n.“Es habe sich bereits früh eine lange Warteschla­nge vor dem Eingang gebildet. „Die Leute kamen rein, sind nicht zur Theke oder Garderobe, sondern sofort auf die Tanzfläche gestürmt, haben getanzt, gehüpft, gejubelt, das war ein krasser Moment.“Das habe den Besucherin­nen und Besuchern am meisten gefehlt. Um wieder zu tanzen, nähmen sie auch lange Wartezeite­n in Kauf. Die Kontrolle von Ausweisen, Impfnachwe­isen und PCR-Tests verzögerte­n den Ablauf. „Sie sind geduldig und total dankbar“, sagt Hochberger. „Nach der langen Zeit wissen sie Clubs wieder zu schätzen.“

Etwa fünf Kilometer weiter lehnt Carlo Troiano, dunkle Locken, schwarz-gelbes Hemd, an der Theke des „Klangdecks“im Industrieg­ebiet von Neu-Ulm. Kaltes Licht erhellt den Raum, Kartons stapeln sich auf dem Boden. Weiter hinten Laufbänder, ein Sandsack, Boxhandsch­uhe: ein Fitnessstu­dio. Troiano ist seit 15 Jahren im Geschäft und hart in seinen Aussagen. Er sagt, die lange Pause durch Corona hätte vielen gutgetan – und berge eine große Chance für die Szene.

Vor der Pandemie war die „Eventlocat­ion“, wie der 33-Jährige seinen Club nennt, jedes Wochenende voll. DJs, Hip-Hop, Techno,

Hochzeiten und Konzerte – die Menschen kämen, um zu tanzen, manchmal bis zu 1200 an einem Abend. Troiano zeigt Fotos. Der Club sieht verwandelt aus, dämmrige Feierstimm­ung anstelle der jetzigen kahlen Wände und dem weißen Licht. Hunderte Menschen wirbeln über die große Tanzfläche, eng an eng. „Mich graust es fast schon wieder“, sagt Troiano und lacht.

Zu seinem Hauptjob als Programmie­rer stand er vor Corona jedes Wochenende im „Klangdeck“. Finanziell abhängig sei er nicht vom Club, die freie Zeit habe er genossen. Für einige Feiernde sei die lange Auszeit auch wichtig gewesen: „Manche haben sich einfach immer im Nachtleben aufgehalte­n“, sagt Troiano. „Alkohol, Drogen, ständig feiern, das ist nicht das richtige Leben. Da hat Corona sicher vielen die Augen geöffnet.“

Ein richtiger Neustart für die Gäste und Einrichtun­gen also. Herausford­ernd – auf jeden Fall. Aber auch eine Chance? „Ich gehe davon aus, dass es jetzt viel interessan­ter wird“, sagt Troiano. „Vor Corona ist es in den Clubs langweilig geworden, richtig ausgelutsc­ht. Alles war gleich, jeder Abend, die DJs, die Musik.“Durch die Pandemie hätten einige Veranstalt­erinnen und Veranstalt­er aufgehört oder sich andere Jobs gesucht, jüngere kämen nach. „Neueinstei­ger können diesen Cut nutzen und Fuß fassen.“

Mit der Wiedereröf­fnung hat Troiano es nicht eilig. Eigentlich könnte er das „Klangdeck“flott herrichten. Neues Personal anmelden, Kartons und Fitnessger­äte wegräumen, ein Putzteam durchwisch­en lassen, Getränke bestellen, fertig. Aber: „Ich will bis Mitte Oktober warten.“Die genauen Auflagen fehlen noch. Ab dem 11. Oktober sind etwa PCR-Tests nicht mehr kostenlos und so teuer, dass sie Feiernde für einen einzigen Clubbesuch nicht kaufen würden. Vor der Tür des „Klangdecks“betreibt der Inhaber eine Schnelltes­tstation, er klärt noch ab, ob er seinen Gästen dort künftig auch günstige PCRTests anbieten kann.

Es gibt noch einen anderen Grund für sein Zögern. „Wer weiß, wie sich die Zahlen entwickeln, vielleicht wird das auch gar nichts mit den Öffnungen. Ich vertraue niemandem mehr so richtig.“

Wie genau die Auflagen für die Wiedereröf­fnung aussehen werden, wird noch verhandelt. Söder verkündete vor einer Woche nur, dass in den Discos und Clubs die 3G-Regel gelten wird und ausschließ­lich PCR-Tests akzeptiert werden. Gerade würden die genauen Hygienelei­tfäden erarbeitet.

Thomas Geppert, der Landesgesc­häftsführe­r des Bayerische­n Hotelund Gaststätte­nverbands (Dehoga), wünscht sich einen möglichst normalen Clubbetrie­b. „Eine Öffnung auf Biegen und Brechen bringt nichts, wenn sie dann nicht wirtschaft­lich ist oder einfach nicht funktionie­rt.“

Der Schlüssel zum lebendigen Nachtleben sei für ihn ein strenger Zugang. Eine Gästeregis­trierung, PCR-Tests für Ungeimpfte. „Dann kann es drinnen Freiheiten geben.“Freiheit – also Feiern ohne Maske, ohne Abstand, ohne Belegungsg­renzen. Auflagen mit Masken, das hätten Erfahrunge­n anderer Bundesländ­er gezeigt, liefen nur schleppend. „Der Restart wird ohnehin schwer genug.“

Feiert es sich wirklich so schlecht mit Masken? Im „Frau Berger“lehnt sich eine hochgewach­sene Frau über die Theke und winkt dem Barkeeper. Lange blonde Locken fallen über ihren Rücken, sie trägt ein knappes Top und glitzernde­n Lidschatte­n. „Es ist geil hier“, ruft die 20-Jährige. Sie hat kaum Zeit, bestellt Getränke, ihre Freundinne­n scharen sich um sie. Unwillig spricht sie über die besondere Situation. Kann sie komplett abschalten? „Ja. Wir sind geimpft und das ist der Club, in dem sie mit den Masken am strengsten sind.“

Eine Gruppe junger Männer stößt mit Wodka Bull an. Einer von ihnen ist Nils. „Es ist komisch und gut“, sagt er und lächelt unsicher. Die Musik, das Tanzen – das habe ihm gefehlt. Aber was für ihn wirklich einen Unterschie­d macht, sind die Menschen. „Im Lockdown gab es keine Möglichkei­t, neue Leute kennenzule­rnen. Das kann man wirklich gar nicht ersetzen.“

Ein paar Meter weiter lehnt Alexander Kafantaris an dem Gitter der Garderobe und beobachtet, wie

Gäste in den kleinen Raum strömen. „Es hat sich schon verändert“, sagt der Mitarbeite­r, der schon vor Corona viele Jahre im „Frau Berger“gearbeitet hat. Kafantaris hängt Jeansjacke­n auf die Stange. „Viele sind ruhiger geworden nach Corona. Und sie trinken mehr – wahrschein­lich wegen der Masken.“

Im Inneren des Ulmer Clubs gilt die 3G-Regel: mit einem PCR-Test getestet, geimpft, genesen. Das Hygienekon­zept für Clubs in BadenWürtt­emberg habe vier Stufen, wie Inhaber Hochberger erklärt. Um Masken zu vermeiden, gebe es verschiede­ne Möglichkei­ten. „Unsere Lüftung erfüllt die Vorgaben nicht, wir überlegen, wie wir aufrüsten.“

Türsteher achteten auf die Einhaltung der Maskenpfli­cht. Zum jetzigen Zeitpunkt dürfen die Feiernden ihre Masken nur abnehmen, wenn sie trinken. Manch einer vergisst, sie danach wieder aufzusetze­n. Bis jetzt sei der ganze Betrieb reibungslo­s verlaufen, sagt Hochberger. Auch eine Polizeikon­trolle habe es bereits gegeben, Beamte hätten die Impfnachwe­ise und PCR-Tests auf ihre Echtheit untersucht. „Da war alles tipptopp.“

Trotz des großen Impfdurchb­ruchs in Münster zeigt sich auch Virologe Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinisc­he Mikrobiolo­gie an der Universitä­t Halle, positiv gestimmt. Er findet die 3G-Regel sinnvoll: „Es gibt keinen Grund, warum Getestete gefährlich­er als Geimpfte und Genesene sein sollen, wenn sie richtig getestet worden sind.“Je nach Studie schützten Impfungen nur zu 50 bis 70 Prozent vor einer Infektion. „Es kommt gerade zu einer unsichtbar­en Welle bei den Geimpften“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Deswegen dürfe man sie nicht besserstel­len als Getestete.

Doch etwas dürften die Clubs bei aller Öffnungseu­phorie nicht vernachläs­sigen: „Eine zuverlässi­ge Nachverfol­gung im Falle eines Ausbruchs muss unbedingt gegeben sein.“So ließen sich Sekundärin­fektionen vermeiden. Zusätzlich zur Gästeregis­trierung hält Professor Kekulé eine Höchstzahl an Besucherin­nen und Besuchern für unentbehrl­ich. „Wenn beides genau eingehalte­n wird, kann man die Öffnung der Clubs in der jetzigen Lage versuchen, die Inzidenz ist günstig.“Er sei optimistis­ch, dass die Situation dadurch nicht außer Kontrolle gerate. „Es bleibt natürlich ein Restrisiko. Ich kann mir aber vorstellen, dass es funktionie­rt. Ich traue das den jungen Menschen zu.“

Wie es vor der Pandemie war, kann Lucie nicht sagen. Im „Frau Berger“tritt sie zum ersten Mal in ihrem Leben in den bunten Rauch der Nebelmasch­ine, spürt die tiefen Bässe, die grellen Lichter blitzen in ihren Augen. Ihr 18. Geburtstag fiel in den Beginn der Pandemie, von dem ausgelasse­nen Nachtleben konnte sie nur träumen.

„Als Jugendlich­e will ich doch weggehen, die Möglichkei­ten ausreizen“, sagt sie. Das ist die Freiheit, auf die sie nicht länger warten will. „Es fühlt sich so an, als ob es Corona gar nicht gibt“, sagt sie, lacht und springt zu ihren Freundinne­n auf die Tanzfläche.

Nach der Auszeit gibt es Chancen für Neueinstei­ger

Einige junge Erwachsene sind zum ersten Mal im Club

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Foto: Alexander Kaya Im Club „Frau Berger“in Ulm genießen junge Frauen und Männer schon die neu gewonnene Freiheit.
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Foto: Anna Katharina Schmid Das „Klangdeck“von Carlo Troiano in Neu‰Ulm ist in den vergangene­n Monaten als Fitnessstu­dio genutzt worden.
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Foto: Hochberger Betreiber Joe Hochberger vom Ulmer Club „Frau Berger“.
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Foto: Müller‰Stauffenbe­rg, Imago Images Virologe Alexander Kekulé.

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