Feierlaune kann ansteckend sein
Die Staatsregierung hat sich lange nicht getraut. Erst jetzt dürfen Clubs und Discos in Bayern wieder öffnen. Trotzdem haben es die Betreiber nicht eilig. Die Erfahrungen anderer Bundesländer zeigen, dass ein Risiko bleibt – und Party mit Maske nicht über
Ulm Sie stürzen die Treppen hinunter, wühlen sich in die Menge, schreien, lachen, liegen sich in den Armen. Tanzen in Gruppen, die Hände in der nebeligen Luft. An diesem Samstag ist nach kurzer Zeit Einlassstopp im Ulmer Club „Frau Berger“, 200 Menschen feiern auf der Tanzfläche. Bunte Lichter flirren durch die Dunkelheit. Bässe, so laut, dass der Boden vibriert. Einige tragen Masken, andere nicht.
Dieses Detail steht stellvertretend für die gesamte Kontroverse: In den Augen vieler Menschen sind Clubs Sehnsuchtsorte. Musik, berauschende Farbenspiele. Singen, flirten, die Zeit löst sich auf, während man sich durch ein Meer aus fremden Gesichtern tanzt. Virologisch betrachtet spricht alles gegen sie. Sie vereinen, was man in der Pandemie zu vermeiden versuchte: Körpernähe, viele Leute in kleinen Räumen, meist schlechte Belüftung. Aus diesen Gründen blieben die Einrichtungen am längsten geschlossen, länger als etwa Swingerclubs und Bordelle. Zurecht, finden viele. Clubs und Discos stellen nach wie vor eine Gefahr dar, wie ein großer Ausbruch in Münster zeigt. Bei einer Party infizierten sich 85 Menschen, obwohl nur Geimpfte und Genesene zugelassen waren.
Während auf der baden-württembergischen Seite der Donau bereits das Nachtleben blüht, herrscht auf der anderen Leere in den Clubs. Bayerns Staatsregierung war besonders konsequent – und zeigte zum Teil auch wenig Verständnis für die Szene. Vor einem Jahr, als es noch düster mit Öffnungen aussah, vertröstete Ministerpräsident Markus Söder Feiernde etwa mit der Aussage: „Aber Sie können ja zum Beispiel zu Hause mit Ihrer Partnerin tanzen.“Bayern ist das letzte Bundesland, in dem Clubs ihre Wiedereröffnung feiern, nach eineinhalb Jahren, am ersten oder zweiten Oktober. Oder vielmehr: Sie dürfen öffnen, wenn sie denn wollen.
Die Tage fallen auf ein Wochenende. Gleich wilde „Welcome back“-Partys schmeißen, zurück zu alten Zeiten mit Champagner und einem großen Knall? Vorerst nicht. Nicht alle Betreiberinnen und Betreiber der rund 800 Clubs in Bayern scharren so ungeduldig in den Startlöchern, wie man vermutet. Die Branche hat gelitten.
Das Hoffen und Zittern, die Vorbereitungen und die große Wiederöffnung – das haben die Discos im Rest Deutschlands schon hinter sich. In Baden-Württemberg durften die Einrichtungen Mitte August zum Normalbetrieb zurückkehren. Der erste Clubabend im „Frau Berger“in Ulm ist Inhaber Joe Hochberger in Erinnerung geblieben: „So seltsam und wunderschön.“Es habe sich bereits früh eine lange Warteschlange vor dem Eingang gebildet. „Die Leute kamen rein, sind nicht zur Theke oder Garderobe, sondern sofort auf die Tanzfläche gestürmt, haben getanzt, gehüpft, gejubelt, das war ein krasser Moment.“Das habe den Besucherinnen und Besuchern am meisten gefehlt. Um wieder zu tanzen, nähmen sie auch lange Wartezeiten in Kauf. Die Kontrolle von Ausweisen, Impfnachweisen und PCR-Tests verzögerten den Ablauf. „Sie sind geduldig und total dankbar“, sagt Hochberger. „Nach der langen Zeit wissen sie Clubs wieder zu schätzen.“
Etwa fünf Kilometer weiter lehnt Carlo Troiano, dunkle Locken, schwarz-gelbes Hemd, an der Theke des „Klangdecks“im Industriegebiet von Neu-Ulm. Kaltes Licht erhellt den Raum, Kartons stapeln sich auf dem Boden. Weiter hinten Laufbänder, ein Sandsack, Boxhandschuhe: ein Fitnessstudio. Troiano ist seit 15 Jahren im Geschäft und hart in seinen Aussagen. Er sagt, die lange Pause durch Corona hätte vielen gutgetan – und berge eine große Chance für die Szene.
Vor der Pandemie war die „Eventlocation“, wie der 33-Jährige seinen Club nennt, jedes Wochenende voll. DJs, Hip-Hop, Techno,
Hochzeiten und Konzerte – die Menschen kämen, um zu tanzen, manchmal bis zu 1200 an einem Abend. Troiano zeigt Fotos. Der Club sieht verwandelt aus, dämmrige Feierstimmung anstelle der jetzigen kahlen Wände und dem weißen Licht. Hunderte Menschen wirbeln über die große Tanzfläche, eng an eng. „Mich graust es fast schon wieder“, sagt Troiano und lacht.
Zu seinem Hauptjob als Programmierer stand er vor Corona jedes Wochenende im „Klangdeck“. Finanziell abhängig sei er nicht vom Club, die freie Zeit habe er genossen. Für einige Feiernde sei die lange Auszeit auch wichtig gewesen: „Manche haben sich einfach immer im Nachtleben aufgehalten“, sagt Troiano. „Alkohol, Drogen, ständig feiern, das ist nicht das richtige Leben. Da hat Corona sicher vielen die Augen geöffnet.“
Ein richtiger Neustart für die Gäste und Einrichtungen also. Herausfordernd – auf jeden Fall. Aber auch eine Chance? „Ich gehe davon aus, dass es jetzt viel interessanter wird“, sagt Troiano. „Vor Corona ist es in den Clubs langweilig geworden, richtig ausgelutscht. Alles war gleich, jeder Abend, die DJs, die Musik.“Durch die Pandemie hätten einige Veranstalterinnen und Veranstalter aufgehört oder sich andere Jobs gesucht, jüngere kämen nach. „Neueinsteiger können diesen Cut nutzen und Fuß fassen.“
Mit der Wiedereröffnung hat Troiano es nicht eilig. Eigentlich könnte er das „Klangdeck“flott herrichten. Neues Personal anmelden, Kartons und Fitnessgeräte wegräumen, ein Putzteam durchwischen lassen, Getränke bestellen, fertig. Aber: „Ich will bis Mitte Oktober warten.“Die genauen Auflagen fehlen noch. Ab dem 11. Oktober sind etwa PCR-Tests nicht mehr kostenlos und so teuer, dass sie Feiernde für einen einzigen Clubbesuch nicht kaufen würden. Vor der Tür des „Klangdecks“betreibt der Inhaber eine Schnellteststation, er klärt noch ab, ob er seinen Gästen dort künftig auch günstige PCRTests anbieten kann.
Es gibt noch einen anderen Grund für sein Zögern. „Wer weiß, wie sich die Zahlen entwickeln, vielleicht wird das auch gar nichts mit den Öffnungen. Ich vertraue niemandem mehr so richtig.“
Wie genau die Auflagen für die Wiedereröffnung aussehen werden, wird noch verhandelt. Söder verkündete vor einer Woche nur, dass in den Discos und Clubs die 3G-Regel gelten wird und ausschließlich PCR-Tests akzeptiert werden. Gerade würden die genauen Hygieneleitfäden erarbeitet.
Thomas Geppert, der Landesgeschäftsführer des Bayerischen Hotelund Gaststättenverbands (Dehoga), wünscht sich einen möglichst normalen Clubbetrieb. „Eine Öffnung auf Biegen und Brechen bringt nichts, wenn sie dann nicht wirtschaftlich ist oder einfach nicht funktioniert.“
Der Schlüssel zum lebendigen Nachtleben sei für ihn ein strenger Zugang. Eine Gästeregistrierung, PCR-Tests für Ungeimpfte. „Dann kann es drinnen Freiheiten geben.“Freiheit – also Feiern ohne Maske, ohne Abstand, ohne Belegungsgrenzen. Auflagen mit Masken, das hätten Erfahrungen anderer Bundesländer gezeigt, liefen nur schleppend. „Der Restart wird ohnehin schwer genug.“
Feiert es sich wirklich so schlecht mit Masken? Im „Frau Berger“lehnt sich eine hochgewachsene Frau über die Theke und winkt dem Barkeeper. Lange blonde Locken fallen über ihren Rücken, sie trägt ein knappes Top und glitzernden Lidschatten. „Es ist geil hier“, ruft die 20-Jährige. Sie hat kaum Zeit, bestellt Getränke, ihre Freundinnen scharen sich um sie. Unwillig spricht sie über die besondere Situation. Kann sie komplett abschalten? „Ja. Wir sind geimpft und das ist der Club, in dem sie mit den Masken am strengsten sind.“
Eine Gruppe junger Männer stößt mit Wodka Bull an. Einer von ihnen ist Nils. „Es ist komisch und gut“, sagt er und lächelt unsicher. Die Musik, das Tanzen – das habe ihm gefehlt. Aber was für ihn wirklich einen Unterschied macht, sind die Menschen. „Im Lockdown gab es keine Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Das kann man wirklich gar nicht ersetzen.“
Ein paar Meter weiter lehnt Alexander Kafantaris an dem Gitter der Garderobe und beobachtet, wie
Gäste in den kleinen Raum strömen. „Es hat sich schon verändert“, sagt der Mitarbeiter, der schon vor Corona viele Jahre im „Frau Berger“gearbeitet hat. Kafantaris hängt Jeansjacken auf die Stange. „Viele sind ruhiger geworden nach Corona. Und sie trinken mehr – wahrscheinlich wegen der Masken.“
Im Inneren des Ulmer Clubs gilt die 3G-Regel: mit einem PCR-Test getestet, geimpft, genesen. Das Hygienekonzept für Clubs in BadenWürttemberg habe vier Stufen, wie Inhaber Hochberger erklärt. Um Masken zu vermeiden, gebe es verschiedene Möglichkeiten. „Unsere Lüftung erfüllt die Vorgaben nicht, wir überlegen, wie wir aufrüsten.“
Türsteher achteten auf die Einhaltung der Maskenpflicht. Zum jetzigen Zeitpunkt dürfen die Feiernden ihre Masken nur abnehmen, wenn sie trinken. Manch einer vergisst, sie danach wieder aufzusetzen. Bis jetzt sei der ganze Betrieb reibungslos verlaufen, sagt Hochberger. Auch eine Polizeikontrolle habe es bereits gegeben, Beamte hätten die Impfnachweise und PCR-Tests auf ihre Echtheit untersucht. „Da war alles tipptopp.“
Trotz des großen Impfdurchbruchs in Münster zeigt sich auch Virologe Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle, positiv gestimmt. Er findet die 3G-Regel sinnvoll: „Es gibt keinen Grund, warum Getestete gefährlicher als Geimpfte und Genesene sein sollen, wenn sie richtig getestet worden sind.“Je nach Studie schützten Impfungen nur zu 50 bis 70 Prozent vor einer Infektion. „Es kommt gerade zu einer unsichtbaren Welle bei den Geimpften“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Deswegen dürfe man sie nicht besserstellen als Getestete.
Doch etwas dürften die Clubs bei aller Öffnungseuphorie nicht vernachlässigen: „Eine zuverlässige Nachverfolgung im Falle eines Ausbruchs muss unbedingt gegeben sein.“So ließen sich Sekundärinfektionen vermeiden. Zusätzlich zur Gästeregistrierung hält Professor Kekulé eine Höchstzahl an Besucherinnen und Besuchern für unentbehrlich. „Wenn beides genau eingehalten wird, kann man die Öffnung der Clubs in der jetzigen Lage versuchen, die Inzidenz ist günstig.“Er sei optimistisch, dass die Situation dadurch nicht außer Kontrolle gerate. „Es bleibt natürlich ein Restrisiko. Ich kann mir aber vorstellen, dass es funktioniert. Ich traue das den jungen Menschen zu.“
Wie es vor der Pandemie war, kann Lucie nicht sagen. Im „Frau Berger“tritt sie zum ersten Mal in ihrem Leben in den bunten Rauch der Nebelmaschine, spürt die tiefen Bässe, die grellen Lichter blitzen in ihren Augen. Ihr 18. Geburtstag fiel in den Beginn der Pandemie, von dem ausgelassenen Nachtleben konnte sie nur träumen.
„Als Jugendliche will ich doch weggehen, die Möglichkeiten ausreizen“, sagt sie. Das ist die Freiheit, auf die sie nicht länger warten will. „Es fühlt sich so an, als ob es Corona gar nicht gibt“, sagt sie, lacht und springt zu ihren Freundinnen auf die Tanzfläche.
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