„Die Politik gaukelt uns eine heile Welt vor“
Weltweit spitzen sich internationale Krisen zu, doch Außenpolitik spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle. Ein verhängnisvoller Irrtum, sagt Außenexperte Thomas Jäger und rechnet mit großen Fehlern der Regierung ab
Herr Professor Jäger, der Westen kapituliert in Afghanistan, die USA stoßen Europa vor den Kopf, China will führende Weltmacht werden: Außenpolitik ist spannend wie selten, doch warum spielt sie im Wahlkampf keine Rolle? Thomas Jäger: Das ist wirklich erstaunlich, angesichts dieser Ereignisse. Man müsste jetzt Bilanz über den Einsatz in Afghanistan ziehen und über die politischen Verschiebungen im Pazifik-Raum diskutieren und vor allem den aufziehenden Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China. Warum wir es aber nicht tun? Das liegt daran, dass die politische Klasse und diejenigen, die sie öffentlich befragen, ziemlich provinziell sind. Viele scheinen überhaupt nicht zu verstehen, was da momentan passiert. Das ist verhängnisvoll. Denn diese außenpolitischen Veränderungen sind viel gravierender und werden die Zukunft unseres Landes viel stärker beeinflussen, als viele Wahlkampfthemen, über die gerade gesprochen wird.
Liegt es vielleicht daran, dass die Parteien im Großen und Ganzen außenpolitisch auf einer Linie liegen?
Jäger: Nein, die Unterschiede zwischen den Parteien sind erheblich. Doch das bekommen die wenigsten Bürger mit, weil sich die Politiker dazu schlicht nicht äußern. Es ist tatsächlich ein Zeichen einer provinziellen Heile-Welt-Kultur, dass man in diesem Bundestagswahlkampf über die Neuordnung der internationalen Ordnung überhaupt nicht reden will. Man tut gerade so, als ob der Konflikt zwischen den USA und China, wer in der künftigen Weltordnung die dominierende Weltmacht sein wird, die Deutschen oder die Europäer gar nichts anginge. Auf der anderen Seite verlässt sich Europa voll auf den Schutz Amerikas. Die Politik gaukelt der Öffentlichkeit eine heile Welt vor und die Menschen scheinen dankbar dafür, dass sie sich in Sicherheit wiegen können. Wie schnell so eine Seifenblase platzen kann, sieht man in Afghanistan und das haben auch die Franzosen beim geplatzten U-BootGeschäft mit Australien erlebt.
Die Losung der Parteien lautet, Europa zu stärken, um mit den USA und China mithalten zu können. Ist das nicht die richtige Konsequenz?
Jäger: Die Einsicht, dass europäische Nationalstaaten alleine keinerlei internationale Rolle mehr spielen kön
und sich deshalb in der Europäischen Union zusammenschließen müssen, ist richtig. Europa will ein globaler Akteur auf Augenhöhe mit anderen Weltmächten sein. Diese Einsicht herrscht seit 2003 und seitdem hat man damit einige Tonnen Papier beschrieben. Wirklich geschehen ist allerdings nichts. Deshalb hat dieser Anspruch nichts mit der Realität zu tun. Ein kleines Beispiel: Vor einer Woche hat die Europäische Union ihre indopazifische Strategie verkündet. Dabei geht es unter anderem darum, die Freiheit der Seewege aufrechtzuerhalten. Die Bundeswehr kann unter Aufbringung aller ihrer Kräfte eine einzige Fregatte in den Pazifik schicken. Das als symbolischen Beitrag zu bezeichnen, wäre schon übertrieben. Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass Europa in vielerlei Hinsicht handlungsunfähig ist.
Kann denn Europa sich noch sicherheitspolitisch und militärisch als außenpolitische mächtige Größe neben China und den USA aufstellen? Jäger: Diese große Chance hat man ungenutzt verstreichen lassen. Die nötigen Schritte hätte man in der Phase, als die Amerikaner die einzige Weltmacht waren, als befreundeter Partner unternehmen können. In dieser Zeit hätte man Fähigkeiten aufbauen können, sowohl was die Entscheidungsfindung angeht als auch die militärische Hardware, die man sich verschaffen muss, um Einnen fluss zu nehmen. Das haben die europäischen Regierungen versäumt. Jetzt in einer Phase des aufziehenden Konfliktes zwischen China und den USA wird das sehr viel schwieriger. Denn sowohl China als auch die Vereinigten Staaten sind bestrebt, die Europäer in diesen Fragen zu spalten, um eigene Interessen zu verfolgen. Genau das sehen wir jetzt.
Was ist die Konsequenz?
Jäger: Die Europäer können sich im Grunde nur entscheiden, ob sie entweder unter chinesischen und auch russischen Einfluss geraten oder unter dem amerikanischen bleiben wollen. Die Europäer können sich nicht selbst verteidigen. Die Europäer sind nicht in der Lage, nukleare Abschreckung zu organisieren. Die
Europäer sind nicht in der Lage, in ihrem geografischen Umfeld für Stabilität zu sorgen. Die Europäer als riesige Exportmacht sind nicht in der Lage, für die Sicherheit der Seewege zu sorgen. Die Europäer sind nicht in der Lage, die internationalen Organisationen aufrechtzuerhalten. Diese Liste lässt sich noch lange fortsetzen. Und irgendwann droht der Moment, dass diese Schwäche schlagartig sichtbar wird.
Europa ist wirtschaftlich immer mehr von China abhängig, warum kann es keine Mittlerrolle zwischen China und den USA einnehmen und damit seine eigenen Interessen schützen?
Jäger: Das ist eine Illusion, die auch die deutsche Regierung lange Zeit verfolgt hat, man könne eine Brücke zwischen den USA und China sein. Übrigens hegte man schon direkt nach 1945 die Vorstellung, man könne die Brücke zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten sein. Das funktionierte damals nicht und das wird auch heute nicht funktionieren. Damals wie heute muss man sich entscheiden, auf welcher Seite man steht. Und das können aus demokratischer Sicht nur die Vereinigten Staaten sein. Es gibt keine anfast dere Demokratie, die international handlungsfähig ist. Insofern ist die eigentliche Frage für Europa: Wie muss sich die Europäische Union organisieren, dass sie wieder ein interessanter Partner für die USA wird?
„Man tut gerade so, als ob der Konflikt zwischen den USA und China die Deutschen gar nichts anginge.“
Prof. Thomas Jäger
Was ist die wichtigste außenpolitische Aufgabe für die nächste Regierung? Jäger: Zweifellos muss die nächste Bundesregierung eine starke Führungsrolle innerhalb der EU zusammen mit Frankreich übernehmen, um die sicherheitspolitische Rolle Europas zu stärken. Das wäre aber auch schon die Aufgabe der letzten vier Bundesregierungen gewesen. Hier hat man aber die notwendige Arbeit nicht gemacht, weshalb diese Aufgabe immer schwieriger wird. Zumal es innerhalb der deutschen Regierung mit mehr Koalitionspartnern auch intern nicht einfacher wird, sich auf einen gemeinsamen Kurs zu verständigen.
Auch das Außenministerium scheint an Attraktivität eingebüßt zu haben, wenn etwa die FDP als Partei Hans Dietrich Genschers lieber nach dem Finanzministerium greifen will … Jäger: Mit Außenpolitik macht man schon lange keine Karriere mehr in den Parteien, aber sie erfordert eine jahrelange intensive Beschäftigung. Wir sehen den Ansehensverlust auch an der Besetzung des Auswärtigen Amtes in den letzten vier Jahren. Der jetzige Minister hat bis heute keinen wirklichen Plan, was er aus seinem Amt machen soll. Auch seine Partei hat sich nie an seinen massiven Fehleinschätzungen gestört. Etwa dem von Anfang an zum Scheitern verurteilten Versuch, die US-Sanktionen gegen den Iran auszuhebeln, was in Washington den Eindruck hinterlassen hat, Deutschland sei ein unzuverlässiger Verbündeter. Und die enorme Fehleinschätzung beim Abzug in Afghanistan. Alle wussten, was folgt, nur die Bundesregierung war als Einzige am Ende überrascht. Die Verantwortlichen haben sich die Scheuklappen fest vor die Augen gehalten, weil sie nicht sehen wollten, was jeder gesehen hat.
Interview Michael Pohl
Prof. Thomas Jäger Der 61Jährige gilt als renommierter Experte für die USA, Außen und Sicherheitspoli tik und hat den Lehrstuhl für Inter nationale Politik an der Uni Köln.