Jack London: Der Seewolf (29)
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Wolf Larsen und Johansen waren ganz von ihrem Tun in Anspruch genommen. Sie trafen ihn mit ihren Fäusten, stießen ihn mit ihren schweren Schuhen, schlugen ihn zu Boden und rissen ihn wieder hoch, um ihn von neuem hinzuschleudern. Seine Augen waren geblendet, er konnte nichts sehen. Das Blut rann ihm aus Ohren, Nase und Mund und verwandelte die Kajüte in ein Schlachthaus. Und als er sich nicht mehr erheben konnte, schlugen sie weiter auf den am Boden Liegenden ein.
„Sachte, Johansen, sachte, es ist genug!“sagte Wolf Larsen endlich.
Aber die Bestie war los in dem Steuermann, und Wolf Larsen mußte ihn mit einer Handbewegung beiseitefegen – anscheinend ganz sanft, aber Johansen flog wie ein Kork zurück, und sein Kopf schlug mit einem Knall gegen die Wand. Halb betäubt fiel er zu Boden und blieb einen Augenblick keuchend und blöde blinzelnd liegen.
„Tür auf, Hump!“wurde mir befohlen.
Ich gehorchte, und die beiden Bestien hoben den Ohnmächtigen wie einen Sack Lumpen auf und zwängten ihn die Treppe hinauf und durch die enge Türöffnung an Deck. Das Blut schoß aus seiner Nase in einem scharlachroten Strahl über die Füße des Rudergastes, der kein andrer als Louis, sein Bootssteurer, war. Aber Louis bediente sein Rad und blickte unerschütterlich ins Kompaßhaus.
Anders George Leach, der frühere Kajütsjunge. Auf dem ganzen Schiffe hätte mich nichts so überraschen können wie sein Benehmen. Ohne Befehl kam er nach der Ruff und schleppte Johnson nach vorn, wo er sich mit ihm zu schaffen machte und ihm die Wunden, so gut er konnte, verband. Johnson war nicht mehr als Johnson kenntlich. Und nicht nur das, seine Züge hatten überhaupt jedes menschliche Gepräge verloren, so verzerrt und verschwollen waren sie in der kurzen Zeit, seit er die Kajüte betreten hatte.
Während ich die Kajüte säuberte, hatte Leach sich Johnsons angenommen. Ich kam an Deck, um frische Luft zu schöpfen und zu versuchen, meine erregten Nerven ein wenig zur Ruhe zu bringen. Wolf Larsen rauchte seine Zigarre und untersuchte das Patentlog, das gewöhnlich achtern nachschleppte, aber aus irgendeinem Grunde eingeholt war.
Plötzlich drang Leachs Stimme an mein Ohr. Sie war angestrengt und heiser vor verhaltener Wut. Ich drehte mich um und sah ihn gerade an der Backbordseite der Kombüse neben der Hütte stehen. Sein Gesicht war weiß und verzerrt, seine Augen blitzten, und er hob die geballten Fäuste gegen Wolf Larsen.
„Gott verdamme deine Seele in die Hölle, Wolf Larsen! Die Hölle ist noch zu gut für dich, Feigling, Mörder, Schweinehund!“Mit diesem Gruß begann er. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich erwartete seine augenblickliche Vernichtung. Aber Wolf Larsen war nicht in der Laune, ihn zu vernichten. Er schlenderte langsam die Ruff hinab, stützte die Ellbogen auf das Kajütendach und blickte nachdenklich und neugierig den aufgeregten Jungen an.
Und der Junge überschüttete Wolf Larsen mit Anklagen, wie sie ihm noch nie gesagt worden waren. Die Matrosen sammelten sich furchtsam vor der Achterluke, sahen zu und lauschten. Die Jäger drängten sich aus dem ,Zwischendeck‘ heraus, und als Leach auch jetzt noch nicht schwieg, blickten sie besorgt herüber. Selbst sie waren erschrocken, nicht über die furchtbaren Worte des Jungen, sondern über seinen entsetzlichen Wagemut. Es erschien ihnen ganz undenkbar, daß ein lebendes Wesen Wolf Larsen derart Trotz bieten sollte. Ich selbst war erschüttert, so bewunderte ich den Jungen, in dem ich jetzt die herrliche seelische Unüberwindlichkeit sah, die sich über das Fleisch und die Furchtsamkeit des Fleisches erhob, um, wie die alten Propheten, die Ungerechtigkeit zu verfluchen.
Leach wütete wie ein Wahnsinniger. Auf seine Lippen trat seifiger Schaum, und zuweilen ging ihm der Atem aus, daß er nur unartikulierte Laute hervorbringen konnte.
Während dieser ganzen Zeit stand Wolf Larsen ruhig und untätig, auf die Ellbogen gestützt, da und bildete, wie in tiefe Neugier versunken, hinunter.
Jeden Augenblick erwartete ich – und alle mit mir –, daß er sich auf den Jungen stürzen und ihn vernichten würde. Aber in der Laune war er nicht. Seine Zigarre ging aus, und er blickte weiter, stumm und prüfend. Leach hatte sich in eine wahre Ekstase ohnmächtiger Wut verrannt.
„Schwein, Schweinehund! Schweinehund!“wiederholte er immer wieder mit der vollen Kraft seiner Lunge. „Warum kommst du nicht herunter und tötest mich, Mörder? Tu es doch! Ich fürchte mich nicht! Niemand hindert dich! Verdammt, lieber tot als lebendig und in deinen Klauen! Komm doch, Feigling! Töte mich! Töte mich! Töte mich!“
In diesem Augenblick betrat Thomas Mugridge, von seiner ruhelosen Seele getrieben, den Schauplatz. Er hatte an der Kombüsentür gelauscht, kam aber jetzt heraus, vorgeblich, um Abfall über Bord zu werfen, in Wirklichkeit aber, um zu sehen, wie Leach getötet würde, was er bestimmt erwartete. Er schmunzelte in seiner fettigen Art Wolf Larsen zu, der ihn jedoch nicht zu sehen schien. Aber das störte den Cockney nicht. Er wandte sich an Leach: „Welche Sprache! Pfui Teufel!“Leachs Wut war nicht mehr ohnmächtig. Hier war ein Gegenstand, an dem er sie auslassen konnte. Und dazu war es das erstemal, daß der Koch ohne sein Messer an Deck erschien, seit er Leach angefallen hatte. Kaum hatte er ausgesprochen, als Leach ihn auch schon zu Boden schlug. Dreimal sprang Mugridge auf und versuchte, die Kombüse zu erreichen, und jedesmal wurde er wieder niedergeschmettert.
„O Gott!“schrie er. „Hilfe! Hilfe! Haltet ihn, hört ihr, haltet ihn!“
Die Jäger lachten aus reiner Erleichterung. Die Tragödie war vorbei, jetzt begann der Schwank. Die Matrosen rotteten sich achtern kühn zusammen, grinsten und schoben sich immer näher, um zu sehen, wie mit dem verhaßten Cockney abgerechnet wurde. Und selbst ich fühlte eine große Freude in mir aufsteigen. Ich gestehe, daß ich mich über die Prügel, die Thomas Mugridge von Leach bekam, freute, obgleich sie schrecklich, fast ebenso schrecklich waren wie die, die Mugridge Johnson verschafft hatte. Aber in Wolf Larsens Gesicht änderte sich nicht eine Miene. Er änderte nicht einmal seine Stellung, sondern blickte weiter mit großer Neugier herab. Trotz all seiner unfehlbaren Gewißheit schien er Spiel und Bewegung des Lebens in der Hoffnung zu beobachten, etwas Neues zu erfahren, in seinen tollsten Zuckungen etwas zu finden, das ihm bisher entgangen war – vielleicht den Schlüssel zu dem Geheimnis, der alles offenbarte. Aber die Prügelei! Sie war ähnlich der, der ich in der Kajüte beigewohnt hatte. Vergebens suchte der Koch sich gegen den rasenden Jungen zu wehren. Und vergebens suchte er die schützende Kombüse zu erreichen.
»30. Fortsetzung folgt