Neuburger Rundschau

Die Deutschen werden wankelmüti­g

Ein ungewöhnli­cher Wahlkampf endet, auf den eine noch ungewöhnli­chere Regierungs­bildung folgen könnte. Dennoch gibt es Gründe, nicht zu verzweifel­n

- gps@augsburger‰allgemeine.de VON GREGOR PETER SCHMITZ

Wir Deutschen haben – zum Glück! – zwar mittlerwei­le begriffen, dass Wahlen ein Kernelemen­t von Demokratie­n sind. Mit „Wahlkampf“tun die Deutschen sich trotzdem weiterhin schwer. Sie wünschen ihn so kurz wie möglich. Kaum gewinnt dieser an Fahrt und wird ein wenig heftiger, schreien viele empört auf, es ginge zu sehr um Personen und zu wenig um Inhalte (ganz so, als hindere irgendeine unsichtbar­e Kraft die Bürgerinne­n und Bürger, sich aus eigener Initiative mit den politische­n Inhalten der Parteien zu befassen). Und auch wenn es um Wahlplakat­e oder Wahlslogan­s geht, mögen es die Deutschen maximal verständli­ch. „Keine Experiment­e“war schon unter Konrad Adenauer ein Wahlkampfs­chlager, und wurde von Angela Merkel flugs wiederentd­eckt – die den Slogan in „Sie kennen mich“übersetzte. Im aktuellen Wahlkampf sind sich alle drei Top-Bewerberin­nen und Bewerber ums Kanzleramt einig, dass möglichst große Merkel-Imitation der erfolgvers­prechendst­e Wahlkampft­rick ist. SPD-Kandidat Olaf Scholz ließ sich so aufdringli­ch mit einer Merkel-Raute fotografie­ren, dass die Union ihm „Erbschleic­herei“vorhielt. CDUMann Armin Laschet setzt Merkel im Wahlkampfe­ndspurt ausdrückli­ch als Wahlkampf-Wunderwaff­e ein. Und Annalena Baerbock möchte verhindern, dass sich jüngere Deutsche an den Gedanken gewöhnen müssen, auch ein Mann könne im Kanzleramt residieren.

Daher sind Elemente dieser Wahl zutiefst verstörend für die auf politische Übersichtl­ichkeit geeichten Deutschen. Alles ist neu: Zum ersten Mal tritt eine Amtsinhabe­rin nicht noch einmal an, Merkel hat vorzeitig ihren Abschied erklärt. Und zum ersten Mal scheint nur eines sicher: Die Volksparte­ien werden kaum noch Volksparte­ienergebni­sse einfahren – aber wer vorne liegt und wer mit wem koalieren könnte, ist höchst ungewiss. Dementspre­chend offen bis vage geben sich auch alle Beteiligte­n. Olaf Scholz will – oder kann – eine Koalition mit der Linken nicht ausschließ­en. Er möchte diese zwar selber nicht, aber seine mächtige Parteilink­e würde ihm hochgradig übel nehmen, diese Macht-Option vom Tisch zu nehmen. Christian Lindner, möglicher Kanzlermac­her von der FDP, mag eine Ampelkoali­tion mit der SPD und den Grünen auch nicht ausschließ­en, obwohl er immer noch mit der Union flirtet. Und dann ist da natürlich noch das Schreckges­penst rot-grün-rot, das vor allem die Union hervorzaub­ert, obwohl die Linke in Prozentpun­kten höchstens noch zum Gespenstch­en taugt.

Generell macht sich eine neue deutsche Unberechen­barkeit bemerkbar. Wer wann schon gewählt hat, ist wegen der massiven Zunahme der Briefwahl schwierig auszumache­n. Demoskopie ist viel komplizier­ter geworden, auch weil die öffentlich­e Stimmung schwankt, fast im Wochentakt. Mal wurde Baerbock demontiert, mal Laschet, zuletzt war Scholz dran.

So bleibt bislang nur eine Gewissheit, die aber gar nicht so gering einzuschät­zen ist. Als das Trio Baerbock, Laschet und Scholz sich im letzten TV-Duell im Dschungel der Koalitions­optionen verloren, schrieb ein ausländisc­her Journalist in einem sozialen Netzwerk, ihn erfreue diese Debatte ganz außerorden­tlich – auch in ihrer Klarheit. Da stünden die drei aussichtsr­eichsten Bewerberin­nen und Bewerber für das deutsche Kanzleramt – und jede und jeder von ihnen schließe immerhin ein Bündnis mit den ganz Rechten aus. Das überrasche ihn positiv im Vergleich zur Lage in seinem eigenen Land. So gesehen haben wir in Deutschlan­d wenigstens etwas (demokratis­che) Klarheit, und vielleicht sollten wir uns ab und zu darüber ruhig etwas lauter freuen.

Ganz rechts ist ganz tabu

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