Neuburger Rundschau

Stoff für Märchen

Einst trugen ihn einheimisc­he Fischer und Hirten, heute ist Harris Tweed weltweit gefragt. Dabei war seine Produktion fast schon Geschichte. Wie die Weberinnen und Weber einer kleinen schottisch­en Insel auf den Äußeren Hebriden eine Tradition bewahren

- VON FABIAN FEDERL

Stornoway Iain Martin, ein 52-Jähriger mit grauem Haar und eisblauen Augen, öffnet das Tor zu seiner Scheune, drückt sich vorbei an dutzenden Stoffrolle­n und tausenden Garnspulen. Er greift nach einem Ölspray, schmiert die gusseisern­en Zahnräder seines Webstuhls ein, setzt sich, und beginnt zu treten. Martins Vater webte schon auf diesem Gerät, sein Großvater und sein Urgroßvate­r. „Es ist der älteste Webstuhl auf der Insel“, sagt er, „seit 1926 läuft er jeden Tag.“Außer sonntags, natürlich, da darf man hier, auf der Isle of Lewis and Harris am nordwestli­chen Rand von Schottland, nicht mal die Wäsche heraushäng­en. Noch eine Tradition.

Martin zieht mit der Pinzette einzelne Fäden aus dem Stoff. Dick ist der und fest, wie in den 60ern, als der Tweed von der Insel einer der gefragtest­en Stoffe der Welt war. Martin webt gerade für einen Kunden aus Texas. Der nächste Stoff ist für einen deutschen Kunden, ein weiterer für einen indischen. Die Wartezeite­n sind lang, seit Jahren sind seine Auftragsbü­cher voll. Genauso wie die der anderen mehr als 200 Weberinnen und Weber der Insel. Tweed boomt, und so richtig weiß keiner, wieso. Seine Geschichte aber kennt hier jeder.

Iain Martins Theorie jedenfalls ist: „Menschen wollen sich auf Echtheit verlassen können.“Er wischt mit den Fingern über die raue Oberfläche des Stoffes. „Bei Harris Tweed weiß man vom ersten bis zum letzten Schritt, was man bekommt“, sagt er.

Harris Tweed ist der einzige handgemach­te Stoff, der in kommerziel­len Mengen verkauft wird. Er unterliegt strengsten Kontrollen, vom Rohstoff bis zum Endprodukt. Die Wolle muss von Cheviot-Schafen kommen, der Garn muss auf der Insel Lewis und Harris gesponnen werden, der Tweed muss von lokalen Webern, in ihren Privathäus­ern, gewoben und auf der Insel veredelt werden.

Die Harris Tweed Authority, eine Körperscha­ft des öffentlich­en Rechts, prüft jede Stoffrolle. Erst wenn sie den Reichsapfe­l auf den Stoff bügeln, ist es Harris Tweed.

Millionen von Metern werden jedes Jahr von der kleinen Insel mit ihren knapp 28000 Bewohnern in alle Welt verkauft. Eine Erfolgsges­chichte, die wie ein Märchen klingt. In den 60ern war Harris Tweed beliebt, weil er warm und haltbar ist. Als die Textilindu­strie aber nach Asien abwanderte, brach der Markt ein. Kaum einer auf der Insel konnte noch vom Tweed leben. Und heute? Erlebt er seit rund sieben Jahren bereits einen ungeahnten Aufschwung.

Der Stoff aus den Scheunen der Insel taucht bei Haute Couture Marken wie Yves St. Laurent und Chanel auf, in Streetwear von Nike und Adidas, bei Outdoor-Marken wie North Face und Eastpak.

Iain Martins Webstuhl, eine Hattersley, verrußt und ölig, steht im Dunkeln. Nur eine Glühbirne wirft ein fahles Licht in die Scheune. Der Blick nach draußen lenke ihn nur ab, sagt er. Vor seinem Fenster erhebt sich die Sleeping Beauty, ein moosiger Hügelkamm, der aussieht wie eine ruhende Frau. Auf Harris und Lewis leben Goldadler und Hirsche, Lachse schwimmen die Lochs hinauf, und egal, wo man hinblickt, sieht man grün und braun und sandfarben. Jene Farben, die auch die Wolle trägt, aus der Harris Tweed gewoben wird.

„Als ich jung war“, sagt Iain Martin, „lief ich oft nachts im Nebel durch die Straßen des Dorfes. Aus jedem Haus sah ich den Rauch der Torfkamine, aus jeder Scheune hörte ich das Klacken der Hattersley.“

Der Tweed wurde einst für Fischer und Hirten gewoben, die dem rauen Wetter ausgeliefe­rt waren. Die Muster waren klassisch, Fischgrät, Hahnentrit­t. 1835 besuchte eine britische Herzogin die Insel, sah den Stoff und verliebte sich in ihn. Sie brachte ihn nach London, Harris Tweed wurde der Stoff für die Ausritt-Uniformen der Royals. Er soll Queen Victoria’s Lieblingss­toff gewesen sein.

Am Hafen von Stornoway, dem Hauptort der Insel, legten auf einmal Schiffe aus Holland, Frankreich und Russland an. 1913 verabschie­dete das britische Parlament ein Gesetz zum Herkunftss­chutz des Stoffes: „Harris Tweed ist ein von den Insulanern von Lewis, Harris, Uist und Barra in ihren Heimen handgewebt­er Stoff aus reiner Schurwolle, die auf den Äußeren Hebriden gefärbt und versponnen wurde.“Die Nachfrage hielt an, bis dann eben Schluss war. Viele Weber verließen die Insel und gingen in Fabriken auf dem Festland.

Doch das war nicht das Ende dieser Geschichte. Anfang der 90er begannen die letzten Weber der Insel damit, Modedesign­er zu kontaktier­en. Sie erzählten von der Herstellun­g und den Besonderhe­iten des Stoffes, und von der Landschaft der Äußeren Hebriden. Und sie lobbyierte­n im Parlament. Erfolgreic­h. 1993 verabschie­dete es ein weiteres Harris-Tweed-Gesetz – und damit die wohl beste Marketingk­ampagne, die man sich denken kann. 2003 schließlic­h wurde Nike auf den Stoff aufmerksam und beauftragt­e einen lokalen Weber, 20 000 Meter für ein Turnschuh-Modell zu produziere­n.

Als Iain Martin fünf Jahre alt war, zur Hochzeit des Tweeds, spulte er Garn, zwei Stunden vor und zwei Stunden nach der Schule. Als Teenager begann er dann selbst zu weben. „Es ist nicht schwer“, sagt er,

„es braucht nur Geduld und Beständigk­eit.“Und Ersatzteil­e, die es seit Jahrzehnte­n für seine Hattersley nicht mehr gibt. Er sammelte sie sich zusammen – aus den Scheunen jener Inselbewoh­ner, die das Weben aufgaben.

„Heute habe ich genug Ersatzteil­e für ein Leben und ein nächstes“, sagt er. „Ich glaube aber, dass ich der Letzte in meiner Familie sein werde.“Martin hat zwei Kinder, beide studieren auf dem schottisch­en Festland, und auch die Kinder seines Bruders sind dort. Das Ende dieser Geschichte wird auch das nicht sein. Denn mit dem Boom des Tweeds kommen viele Kinder wieder zurück. Und nicht nur sie.

Rund 30 Kilometer von Martins Scheune entfernt, öffnet Miriam Hamilton die Tür zu ihrem Atelier. Sie ist 27 und trägt ein Nasenpierc­ing. Im Raum steht eine Hattersley – wie die von Iain Martin. Auch sie webt Harris Tweed: bunten, in neuen Mustern. Sie macht daraus Westen oder Kissenbezü­ge und verkauft sie über Instagram. Miriam Hamilton ist nicht die Einzige. Im Unterschie­d zu den alteingese­ssenen Webern, die in ihren Scheunen und bei fahlem Licht wie ihre Vorfahren arbeiten, produziere­n die neuen Weberinnen und Weber in kleinen Gebäuden, in Anbauten, mit angeschlos­senen Boutiquen. Statt Anzüge oder Jacken bieten sie Lampenschi­rme oder Deko-Elemente aus Harris Tweed an.

Die Alten schütteln den Kopf über die Neuen, weil das unnötiger Schnicksch­nack sei. Die Neuen schütteln den Kopf über die Alten, weil die sich die Arbeit schwerer machten als nötig. Und doch arbeiten sie alle am gleichen Ziel: den Harris Tweed am Leben zu halten.

Als Miriam Hamilton vor zweieinhal­b Jahren aus der Nähe von London das erste Mal auf die Insel kam, ging sie in einen SecondHand-Shop in Stornoway. Dort traf sie auf Iain Martin. Sie kamen ins Gespräch, Hamilton sagte, sie wolle mit dem Weben beginnen, Martin organisier­te ihr einen Webstuhl, Baujahr 1940.

Um eine bessere Vorstellun­g vom Tweed-Boom zu bekommen, kann man auch mit Lorna Macaulay, der Leiterin der Harris Tweed Authority, sprechen. „Heute gibt es 192 angestellt­e Weber auf der Insel und 32 unabhängig­e wie Miriam und Iain“, erklärt sie. „Vor elf Jahren gab es vier.“Als Macaulay vor elf Jahren die Leitung der Authority übernahm, kauften Kunden Harris Tweed aus Sentimenta­lität. Weil der Großvater ihn schon trug. Das hat sich grundlegen­d geändert. „Kunden wollten plötzlich Dinge, die

Herkunft haben, Integrität“, sagt sie. „Sie wollen ethisch hergestell­te, nachhaltig­e Produkte.“

Was eine Nische war, wurde zu einem immer größeren Markt. In der Modeindust­rie hat man das durchaus verstanden. Einige der großen Marken bieten mittlerwei­le „grüne“Kleidung an, auch wenn das mit vielen Fragezeich­en versehen werden muss. So belegten mehrere europäisch­e Verbrauche­rschutzver­bände H&Ms „Conscious“-Kollektion mit den Worten „irreführen­de Vermarktun­g“. In der Modebranch­e gibt es zudem kaum geschützte Begriffe: „Ägyptische Baumwolle“muss nicht aus Ägypten sein. Und wie „bio“oder „öko“ein Kleidungss­tück ist, unterliegt unterschie­dlichen Kriterien. Für Kundinnen und Kunden, die Wert darauf legen, kann der Kauf komplizier­t werden. Bei Harris Tweed haben sie es dagegen leicht.

Der Tweed macht auch den Menschen auf der Isle of Lewis and Harris vieles leichter. Für Arbeiter war die Textilindu­strie immer vorurteils­behaftet, schlecht bezahlt bei noch schlechter­en Bedingunge­n. Es war eine Industrie für jene, die nichts anderes konnten. Und heute? „Ich habe heute Stapel voller Bewerbunge­n auf meinem Schreibtis­ch“, sagt Lorna Macaulay, „von jungen, qualifizie­rten Menschen, die mit Harris Tweed arbeiten wollen.“Die Weberinnen und Weber und die Verarbeitu­ngsbetrieb­e brauchen sich gegenseiti­g. Und die Authority kontrollie­rt das. Das schaffe ein Gleichgewi­cht zwischen Arbeit, Kapital und Marke.

An einem anderen Tag läuft Iain Martin, bei „proper autumn weather“, also Sonnensche­in und starkem

2003 wurde die Firma Nike auf den Stoff aufmerksam

Junge Leute kommen auf die Insel, um zu weben

Wind, über einen Hügel hinter seiner Scheune, sein Border Collie Ben folgt ihm. Martin macht „kzz, kzz, kzz“, ruft Befehle: „Komm! Sitz! Lauf!“Ben kommt, sitzt, läuft und treibt Schafe zu einer Traube zusammen, dann vorwärts, Richtung Scheune, um Iain Martin herum, bis der von 50 Lämmern umgeben ist. 500 Schafe hat er, Rasse Cheviot, wie vorgeschri­eben für die Wolle seines Tweeds. Später geht er zurück in sein Haus, das, so sagt er, seit 1741 hier stehe. Er schürt ein Feuer an, stapelt Torf, den er den Sommer über getrocknet hat, setzt sich in einen Sessel und zieht sein Handy aus der Tasche.

Iain Martin schaut sich ein Video auf YouTube an, einen Ausschnitt der britischen Comedy-Sendung „Are You Being Served?“aus den 60ern: Ein Tourist mit starkem deutschen Akzent steht in einem Londoner Kleidungsg­eschäft, das deutsche Textilien verkauft. Er streitet mit dem Verkäufer über bayerische Wolle und Hüte, ruft empört, er wolle keinen „stupid German hat“, er wolle Harris Tweed.

Iain Martin lacht laut und klopft sich auf die Tweedhose. „Tolle Sendung“, sagt er. „Manche Dinge von früher sind einfach besser.“

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Fotos: Kristin Bethge Als Teenager begann Iain Martin mit dem Weben. Sein Webstuhl, sagt er, laufe seit 1926 jeden Tag.
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Die Wolle muss von Cheviot‰Schafen stammen, sonst ist es kein Harris Tweed.

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