Neuburger Rundschau

Ist die vierte Welle schon vorbei?

Die Angst vor einem gewaltigen Anstieg der Zahl der Infizierte­n im Herbst war groß. Nun ist in den Statistike­n eher von einem Abflauen die Rede. Warum von Entwarnung laut Experten trotzdem noch keine Rede sein kann

- VON AXEL HECHELMANN

Augsburg Vor drei Wochen fand Lothar Wieler klare Worte: „Wenn es uns nicht gelingt, die Impfungen drastisch zu steigern, dann kann die aktuelle vierte Welle einen fulminante­n Verlauf nehmen“, sagte der RKI-Chef bei einer Pressekonf­erenz. Seit diesem Tag ließen sich mehr als eine Million Menschen in Deutschlan­d impfen – immerhin. Allerdings: Das sind nur eineinhalb Prozent der Bevölkerun­g. Die Bereitscha­ft, sich gegen das Coronaviru­s impfen zu lassen, nimmt weiter ab. Und damit stellt sich die Frage: Wird die vierte Welle tatsächlic­h einen „fulminante­n Verlauf“nehmen, wie Wieler es prophezeit­e? Und wie passt das mit den momentan sinkenden Ansteckung­szahlen zusammen?

Klar ist nämlich auch: Obwohl die Impfquote nur langsam steigt, geht die Zahl der Neuinfekti­onen bundesweit deutlich zurück. In der Zeit zwischen Wielers Prophezeiu­ng bis jetzt sank die 7-Tage-Inzidenz in Deutschlan­d von etwa 85 auf 61. War’s das also schon mit der vierten Welle? Zunächst ein Blick in die Statistik und die Frage: Stimmen die Neuinfekti­onszahlen überhaupt – oder liegt vielleicht ein Fehler vor? Um das festzustel­len, lohnt sich ein Blick auf den Anteil positiver Befunde unter allen durchgefüh­rten PCR-Tests, die sogenannte Positivrat­e. Sie sank zwischen Ende August und Ende September von rund 8,7 auf 7,5 Prozent. Eine sinkende Positivrat­e und die sinkenden Neuinfekti­onszahlen zeigen, dass sich tatsächlic­h weniger Menschen mit dem Coronaviru­s angesteckt haben. Oder kurz zusammenge­fasst: Wenn viele Menschen getestet werden, die nicht mit dem Coronaviru­s infiziert sind, ist die Positivrat­e niedrig – also wie in der aktuellen Situation.

Neben der Positivrat­e gibt es einen weiteren Indikator, der belegt, dass die Neuinfekti­onszahlen tatsächlic­h sinken: die Zahl der Patientinn­en und Patienten auf Intensivst­ationen. Seit knapp zwei Wochen sinkt diese Zahl leicht: Mitte September befanden sich noch mehr als 1500 Corona-Infizierte in Intensivbe­handlung. Im Moment sind es bundesweit rund 150 Patientinn­en und Patienten weniger. Die Zahl der Kranken in den Krankenhäu­sern ist eine aussagekrä­ftige Kennzahl, weil PCR-Tests an den Kliniken zuverlässi­ge Befunde über eine CoronaInfe­ktion liefern und die Dunkelziff­er an nicht erkannten Infektione­n dementspre­chend gering ist. Der

Wert ist außerdem unabhängig von der Zahl der Tests in der Gesamtbevö­lkerung.

Die Zahl der Neuinfekti­onen sank zuletzt also tatsächlic­h. Doch noch ist unklar: Warum ist das so? Die Frage ist nicht einfach zu beantworte­n. Das Robert-Koch-Institut (RKI) nennt mehrere mögliche Gründe: „Die derzeitige Entwicklun­g könnte auf einen Rückgang des Sommerreis­everkehrs, eine Abnahme der im Rahmen des Schulanfan­gs diagnostiz­ierten Infektione­n und vor dem Hintergrun­d der erreichten Impfquote und der Einführung der 2G- bzw. 3G-Regeln in vielen Bereichen zurückzufü­hren sein.“

Die Zahl infizierte­r Reiserückk­ehrer nahm in den vergangene­n Wochen tatsächlic­h ab – das liegt auch daran, dass die Sommerferi­en in allen Bundesländ­ern beendet sind. In der vorletzten Augustwoch­e steckten sich nach Angaben des RKI nachweisli­ch mehr als 9000 Menschen im Ausland an. Mitte September waren es nur noch rund 2000 Fälle. Hierbei ist zu beachten: Einen Großteil der Infektione­n können die

nicht nachverfol­gen. Der Einfluss des abnehmende­n Reiseverke­hrs könnte also noch größer sein als es in den Statistike­n des RKI zu sehen ist.

Neben den positiven Entwicklun­gen mit Ende der Hauptreise­zeit zeigt sich außerdem, dass sich das Coronaviru­s an Schulen derzeit nicht so stark ausbreitet wie angenommen. Ein Beispiel: In BadenWürtt­emberg sind nach Angaben des Kultusmini­steriums aktuell 0,1 Prozent aller Schülerinn­en und Schüler sowie 0,04 Prozent aller Lehrkräfte positiv auf das Coronaviru­s getestet worden. In einigen anderen Bundesländ­ern befinden sich die Zahlen ebenfalls in einem niedrigen Bereich. Auch hier sind mehrere Erklärunge­n denkbar. So ist zum Beispiel unklar, welche Rolle die wachsende Impfquote der 12- bis 17-Jährigen spielt. Immerhin 33,7 Prozent dieser Altersgrup­pe sind vollständi­g geimpft, 41,3 Prozent mindestens einmal. Außerdem ist die Frage offen: Wirken sich die verschiede­nen Hygiene- und Testregeln an Schulen positiv aus?

Zuletzt könnten die rückläufig­en Neuinfekti­onszahlen noch auf „2Gbzw. 3G-Regeln in vielen Bereichen zurückzufü­hren sein“, wie das RKI mitteilte.

Ist die vierte Welle also bereits überstande­n? So positiv die Entwicklun­g momentan auch ist – das RKI sieht noch keinen Grund für eine Entwarnung. Das liegt auch am Vergleich mit dem Vorjahr: Am 29. September 2020 lag der Inzidenzwe­rt bei 14,5, am 29. September 2021 bei 61. Auch der Virologe Christian Drosten hält die derzeitige Beruhigung der bundesweit­en Corona-Infektions­zahlen für ein vorübergeh­endes Phänomen. Es seibereits zu sehen, dass in ostdeutsch­en Bundesländ­ern die Inzidenz offenbar unabhängig vom Ferienende wieder Fahrt aufnehme. „Ich denke, da deutet sich jetzt die Herbst- und Winterwell­e an, die wir im Oktober wohl wieder sehen werden“, sagte der Wissenscha­ftler von der Berliner Charité am Dienstagab­end in einem Auszug aus dem Podcast „Coronaviru­s-Update“bei NDR-Info.

Der vorherige Anstieg der InziGesund­heitsämter denz sei insbesonde­re auf das Testen an Schulen nach Ende der Sommerferi­en und eingeschle­ppte Fälle zurückzufü­hren – und war nach Drostens Einschätzu­ng noch nicht unbedingt der Beginn der Winterwell­e. Angesichts der gegenwärti­gen Quote von rund 64 Prozent vollständi­g Geimpften in der Bevölkerun­g, gehe er in diesem Jahr von deren Losrollen zu einem Zeitpunkt wie im Vorjahr aus, sagte der Corona-Experte dem Sender. Damals sei es in der zweiten Oktoberhäl­fte eindeutig gewesen, „dass wir wieder in einen exponentie­llen Anstieg gehen“.

Das Schließen der Impflücken müsse gesamtgese­llschaftli­ches Ziel sein, betonte Drosten weiter. Es gelte, noch Ungeimpfte zu überzeugen

„Die Zahlen sehen übel aus.“

Christian Drosten, Virologe, über den Impffortsc­hritt in Deutschlan­d

oder anderweiti­g dazu zu bringen, sich impfen zu lassen. Dies sei keine wissenscha­ftliche Aufgabe mehr, sondern eine politische. Den derzeitige­n Impffortsc­hritt wertete der Virologe als unzureiche­nd. „Die Zahlen sehen übel aus.“Dänemark etwa sei in einer deutlich besseren Position als Deutschlan­d. Drosten verwies auf die Unsicherhe­it, dass sich hierzuland­e möglicherw­eise bereits mehr Menschen impfen ließen als bislang im Meldesyste­m erfasst. Dies sei im Moment eine „schöne Hoffnung“, dürfe aber nicht Basis für Entscheidu­ngen und Planungen sein.

In Bezug auf die Behandlung von Covid-19 wies der Virologe darauf hin, dass es bei schweren Verläufen zwar inzwischen bessere Möglichkei­ten gebe, im Anfangssta­dium der Ansteckung jedoch stünden allenfalls sogenannte monoklonal­e Antikörper zur Verfügung. Diese relativ teuren, laut Drosten nicht sehr breit verfügbare­n Präparate, könnten frisch infizierte Ungeimpfte mit bestimmten Risikofakt­oren erhalten. Mit diesen Mitteln soll die Entwicklun­g eines schweren Krankheits­verlaufs verhindert werden.

Er sehe monoklonal­e Antikörper eher als vorbehalte­n für die wenigen Patienten, die nicht geimpft werden können oder die nicht auf die Impfung reagieren, schilderte Drosten. „Aber das ist alles keine Lösung, die man allgemein empfehlen würde. Und das ist in Konkurrenz zur Impfung einfach immer die schlechter­e Lösung.“

 ?? Foto: Henning Kaiser, dpa ?? Vielerorts, wie hier in Köln, werden Impfzentre­n wieder geschlosse­n. Die Nachfrage lässt nach.
Foto: Henning Kaiser, dpa Vielerorts, wie hier in Köln, werden Impfzentre­n wieder geschlosse­n. Die Nachfrage lässt nach.

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