Gefangen in der Endlosschleife
Während die Koalitionsgespräche in Berlin beginnen, tun sich die Parteien in den Niederlanden seit acht Monaten schwer, ein neues Kabinett zu bilden. Warum Mark Rutte noch immer keine Regierung zustande gebracht hat
Den Haag/Brüssel Mark Rutte drängte, so viel vorab, auf schnelle Koalitionsverhandlungen. Das war am Abend des 17. März dieses Jahres und der Niederländer strahlte und lachte und scherzte noch nach seinem Wahlsieg. Zwar erklärte der Premier damals nicht, wie genau er „schnell“definiert. Bei diesem Begriff nämlich dürften die Meinungen in den Niederlanden auseinandergehen. 2017 etwa dauerte es 225 Tage, bis eine Regierung stand. Es war ein böses Vorzeichen. Denn seit fast 200 Tagen gibt es nun keine Regierung – und von einem neuen Kabinett scheinen die Parteien weiter entfernt denn je. Selbst für die leiderprobten Niederländer fühlt sich das endlose Drama in Den Haag mittlerweile als genau solches an.
Hinter den Kulissen wird bereits über Neuwahlen spekuliert. Aber würden die aus der Sackgasse helfen? „Es ist eine peinliche Situation“, sagt Wilco Boom, der politische Korrespondent der niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt NOS. Große Herausforderungen, etwa in der Klimapolitik,
oder das Problem von fehlendem Wohnraum würden nicht angegangen, weil die Regierung Rutte nach einem kollektiven Rücktritt schon seit Januar nur noch geschäftsführend im Amt ist. Die Parteien blockieren sich gegenseitig. Weil das Ergebnis der Bundestagswahl auch die Verhältnisse in Berlin auf den Kopf stellt und der Bundestag künftig so zersplittert sein wird wie nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte, fürchten einige bereits ein ähnliches Chaos wie beim Nachbarn. Droht der deutschen Politik wirklich eine Hollandisierung?
Während es noch in den 90er Jahren eine Zweier-Koalition gab, sind mittlerweile 19 Parteien im niederländischen Parlament vertreten. Die Fragmentierung in der Politik schreitet mit jeder Wahl weiter voran, auch, weil es im Oranje-Staat – anders als in Deutschland – keine Fünf-Prozent-Hürde gibt. Der Einzug so vieler Parteien in die Kammer in Den Haag pries Rutte nach der Wahl als „Höhepunkt der Demokratie“an. Gleichwohl stockt die Regierungsbildung. „Die politische Mitte, seit 1917 das Rückgrat der
Demokratie, ist implodiert“, schrieb ein Kommentator in der Zeitung NRC Handelsblad. Tatsächlich verkleinerte sich die Mitte mit jedem Urnengang. Dafür erstarkten die Flügel am rechten und linken Rand, die jedoch keine Rolle bei den Koalitionsverhandlungen spielen. Hoffentlich, so schimpfte der Zeitungskolumnist, würden die Politiker, egal welcher Partei, nicht vergessen, „dass gerade ihre Unfähigkeit,
ihre Selbstsucht während der Regierungsbildung“die Umstände schaffe, von denen Figuren wie etwa der Rechtsaußen-Politiker Thierry Baudet profitieren können.
Theoretisch sind fünf Parteien willens, mit Ruttes rechtsliberaler VVD zu kooperieren: Da sind die Christdemokraten (CDA) und die Linksliberalen (D66), die bis zur Neuwahl im März der Regierung angehörten. Hinzu kommen die links der Mitte stehenden Sozialdemokraten (PvdA) und die Grünen. Das Problem ist, dass die Unterschiede zwischen den Formationen – unüberbrückbar? – groß sind, etwa bei medizinisch-ethischen Fragen wie jener der Sterbehilfe. Dementsprechend festgefahren ist die politische Situation.
Außerdem genießt Rutte, der seit 2010 die 17 Millionen Einwohner mit wechselnden Koalitionen führt, längst nicht mehr die Autorität und Beliebtheit, die in der Vergangenheit zu einer Kompromissbereitschaft aufseiten anderer Parteien und Politikern geführt hatte, sagt Wilco Boom. Der NOS-Journalist verweist darauf, dass der Premier viel Vertrauen verloren habe, weil er Öffentlichkeit und Parlament über seinen Versuch belogen hatte, den als unbequem geltenden Abgeordneten Pieter Omtzigt loszuwerden. Die Vertuschungsaffäre brachte Rutte ein Misstrauensvotum ein, das er zwar gewann. Aber vergessen ist der Skandal keineswegs. Das dürfte ungewohnt für „TeflonMark“sein. Er war stets erfolgreich darin, Krisen und politische Fehler an sich abprallen zu lassen.
Wie es nun weitergehen soll, weiß niemand so genau. Denn es fehlt an einer schlichtenden Person, die als Unterhändler fungieren könnte. Früher kam dem Königshaus diese Rolle zu, doch seit 2012 ist es das Parlament mit dem Wahlsieger an der Spitze, das für die Koalitionsbildung sorgt. Offenbar hofft Rutte darauf, dass irgendwann einer der zahlreichen möglichen Partner die Nerven verliert. Eine Taktik, die im Volk auf Unverständnis stößt. Aber weil die Wirtschaft blühe und die Arbeitslosigkeit gering sei, halte sich der Ärger in der Bevölkerung bislang in Grenzen, so Boom. „Die Leute finden zwar, es sei eine Schande, doch es hat noch keine Folgen für ihr alltägliche Leben.“