Jack London: Der Seewolf (34)
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Gleichzeitig mußte er auf Wolf Larsen heruntergesprungen sein. Das erste nun folgende Geräusch war wie das eines Kampfes zwischen einem Stier und einem Wolfe. Ich hörte ein wütendes Gebrüll von Wolf Larsen und ein Knurren von Leach, das verzweifelt und haarsträubend klang. Johnson muß ihm sofort zu Hilfe gekommen sein, so daß sein untertäniges, kriecherisches Wesen in den letzten Tagen nichts als Verstellung gewesen war. Ich war so entsetzt über diesen Kampf im Dunkeln, daß ich mich zitternd gegen die Treppe lehnte und nicht imstande war hinaufzugehen. Ich hatte wieder das alte Gefühl in der Magengrube, das mich stets beim Anblick von Gewalttätigkeiten überkam. In diesem Falle konnte ich zwar nichts sehen, aber ich hörte das dumpfe Geräusch der Schläge, den klatschenden Ton, der entsteht, wenn Fleisch auf Fleisch prallt. Dann hörte ich den krachenden Zusammenstoß von Körpern, schwere Atemzüge und kurze, rasche
Schmerzensausbrüche. Es mußten sich wohl noch andere an der Verschwörung gegen Kapitän und Steuermann beteiligen, denn aus den verschiedenen Geräuschen erkannte ich, daß Leach und Johnson schnell Verstärkung von ihren Kameraden erhalten hatten.
„Ein Messer her!“schrie Leach. „Zerschlag ihm den Kopf! Zerquetsch ihm das Gehirn!“rief Johnson.
Aber nach dem ersten Gebrüll machte Wolf Larsen keinen Lärm mehr. Grimmig und stumm kämpfte er um sein Leben. Er war arg in der Klemme. Im ersten Augenblick war er zu Boden geworfen, und es war ihm nicht möglich, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fühlte, daß er trotz seiner ungeheuren Kraft keine Hoffnung hatte.
Ich erhielt selbst einen deutlichen Begriff von der Gewalt des Kampfes, denn ich wurde von den umherwirbelnden Körpern zu Boden geschleudert und bös gequetscht. Aber es gelang mir, in der Verwirrung in eine leere Unterkoje zu kriechen, wo ich mich in Sicherheit befand.
„Alle her! Wir haben ihn! Wir haben ihn!“konnte ich Leach rufen hören.
„Wen?“fragten die, welche wirklich geschlafen hatten und jetzt, sie wußten nicht wie, geweckt worden waren. „Den blutigen Steuermann“, antwortete Leach listig. Diese Auskunft wurde mit einem Freudengeheul begrüßt, und jetzt waren sieben starke Mann über Wolf Larsen. Ich glaube, Louis beteiligte sich nicht am Kampfe. Die Back glich einem Bienenstock, dessen wütende Insassen durch einen Eindringling aufgescheucht waren.
„Was ist denn los da unten?“hörte ich Latimer durch die Luke herunterrufen. Er war zu vorsichtig, um in diese Hölle der Leidenschaften herabzusteigen, die er in der Finsternis toben hörte.
„Kann denn niemand ein Messer finden? Ein Messer, ein Messer!“flehte Leach in einem Augenblick verhältnismäßiger Ruhe.
Die große Zahl der Angreifer verursachte Verwirrung. Sie hinderten sich gegenseitig, ihre Kräfte zu entfalten, während Wolf Larsen, der nur ein Ziel kannte, dadurch gewann. Dieses Ziel war, sich bis zur Luke durchzuschlagen. Obgleich völlige Finsternis herrschte, konnte ich durch das Geräusch seine Fortschritte
verfolgen. Endlich hatte er die Treppe erreicht, und was er jetzt tat, vermochte nur ein Riese zu tun. Zoll für Zoll zog er sich, allein durch die Kraft seiner Arme, aus dem Haufen von Männern heraus, die ihn umklammert hielten, und richtete sich auf, bis er auf den Füßen stand. Und dann arbeitete er sich, Stufe um Stufe, mit Händen und Füßen die Treppe hinauf.
Das allerletzte sah ich. Denn Latimer, der endlich eine Laterne geholt hatte, hielt sie so, daß sie die Treppe hinableuchtete. Wolf Larsen mußte beinahe oben sein, wenn ich ihn auch nicht sehen konnte. Allein sichtbar war der Klumpen von Männern, die sich an ihn klammerten. Der Klumpen zappelte wie eine ungeheure Spinne mit vielen Beinen und schwankte hin und her mit dem Rollen des Schiffes. Aber Zoll um Zoll, mit langen Pausen dazwischen, hob sich der Klumpen. Einmal taumelte er und schien herabzustürzen, aber er gewann den verlorenen Halt wieder und kroch weiter. „Wer ist da?“rief Latimer. Im Schein der Lampe konnte ich sein bestürztes Gesicht herabblicken sehen.
„Larsen“, hörte ich eine gedämpfte Stimme inmitten des Klumpens. Latimer streckte die freie Hand herab. Ich sah eine andere Hand emporschnellen und die seine packen. Latimer zog, und die nächsten Stufen wurden im Sturm genommen. Dann streckte sich die andere Hand Wolf Larsens empor und umklammerte den Rand der Luke. Der Klumpen pendelte zurück, und die Treppe war frei, während die Männer noch an dem fliehenden Feinde hingen. Sie begannen abzufallen, einige wurden von dem scharfen Lukenrand abgefegt, andere mit den Füßen fortgestoßen. Leach war der letzte, der losließ. Er fiel kopfüber auf seine am Boden krabbelnden Kameraden. Wolf Larsen und die Laterne verschwanden, und wir blieben im Dunkeln zurück.
Fluchen und Jammern ertönten, als die Männer am Fuße der Treppe wieder auf die Füße zu kommen versuchten.
„Kann nicht jemand ein Streichholz anzünden, mein Daumen ist ausgerenkt“, rief einer der Leute, namens Parsons, ein dunkelhäutiger, melancholischer Mann, Standishs Steuerer – in demselben Boot, dessen Puller Harrison war.
„Die liegen irgendwo am Mastfuß herum“, sagte Leach und setzte sich auf den Rand seiner Koje, in der ich mich verkrochen hatte.
Man suchte nach Streichhölzern, dann wurde eines angezündet, und die Lampe flackerte auf, trübe und rauchig. In ihrem geisterhaften Schein bewegten sich barfüßige
Männer und sahen nach ihren Wunden. Oofty-Oofty packte Parsons Daumen, zog daran und ließ ihn wieder ins Gelenk schnappen. Dabei bemerkte ich, daß der Knöchel des Kanaken aufgeschlitzt und der Knochen bloßgelegt war. Er zeigte die Wunde und erklärte mit einem Grinsen, das seine prachtvollen Zähne zeigte, er hätte sie bekommen, als er Larsen auf den Mund schlug.
„Also du warst es, du schwarzer Schurke?“fragte Kelly kriegerisch. Er war ein geborener Irländer, ein Leichtmatrose, der seine erste größere Reise machte und Kerfoots Puller war.
Bei dieser Frage spuckte er eine Handvoll Blut und Zähne aus und drängte sich mit streitsüchtiger Miene an Oofty-Oofty heran. Der Kanake sprang in seine Koje, war mit einem zweiten Satz wieder da und schwang ein langes Messer.
„Ach, leg’ dich nieder, sonst setzt es was“, mischte Leach sich hinein. Trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit gab er offenbar in der Back den Ton an. „Geh, Kelly, laß Oofty in Ruhe. Wie sollte er denn im Dunkeln erkennen, daß du es warst?“
Kelly murmelte noch etwas und beruhigte sich dann, während der Kanake dankbar lächelnd die weißen Zähne fletschte.