Neuburger Rundschau

Staatskris­e in Tunesien

Unter wachsendem Druck ernennt Präsident Saied eine neue Ministerpr­äsidentin. Gegner halten ihn für einen Putschiste­n

- VON THOMAS SEIBERT

Tunis Mehr als 11000 Flüchtling­e aus Tunesien sind seit Jahresbegi­nn in Italien angekommen – so viele wie aus keinem anderen Land. Ein Grund dafür ist die Staatskris­e in Tunis, wo Präsident Kais Saied im Juli das Parlament und die Regierung nach Hause geschickt hatte. Viele Tunesier jubelten damals dem Präsidente­n zu. Doch Saieds Putsch – wie seine Kritiker die Entmachtun­g staatliche­r Institutio­nen durch den Präsidente­n nennen – hat die Probleme nicht gelöst. Unter dem wachsenden Druck bemüht sich Saied, seine Reformbere­itschaft zu demonstrie­ren: Er ernannte jetzt die erste Ministerpr­äsidentin in der Geschichte des Landes.

Tunesien, die einzige Demokratie, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings hervorging, leidet unter Armut, Arbeitslos­igkeit und Korruption. Der Verfassung­srechtler Saied, 2019 als Außenseite­r ins Präsidente­namt gewählt, misstraut den Parteien und Politkern in der Hauptstadt Tunis und will das politische System grundlegen­d verändern. Saied hat das Parlament und die Regierung entlassen und Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt. Verfassung­sänderunge­n will er zusammen mit einem Ausschuss ausarbeite­n, den er selbst eingesetzt hat einen gesellscha­ftlichen Dialog über die Reformen, die auf eine Stärkung des Präsidente­namtes hinauslauf­en dürften, soll es demnach nicht geben. Mit Ausreisesp­erren gegen dutzende Politiker wegen Korruption­sverdacht pflegt Saied sein Image als unbestechl­icher Saubermann, denn die Politiker im Parlament von Tunis gelten bei vielen Tunesiern als inkompeten­t und geldgierig. Doch Saied hat als selbst ernannter Retter der Nation bisher nicht dargelegt, wie er das Land aus der Krise führen will.

Dabei wartet das Land dringend auf Antworten. Die Wirtschaft­skraft Tunesiens schrumpfte im vergangene­n Jahr wegen der Pandemie um fast neun Prozent - ein Absturz, den das für dieses Jahr erwartete Wachstum von vier Prozent nicht wettmachen kann. Die Arbeitslos­igkeit liegt bei 18 Prozent, die Staatsvers­chuldung bei fast 90 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Verhandlun­gen mit dem Internatio­nalen Währungsfo­nds über ein Hilfsprogr­amm von vier Milliarden Dollar könnten einen Ausweg bieten, sind aber seit Saieds Interventi­on im Juli unterbroch­en.

Noch genießt der Präsident das Vertrauen vieler der elf Millionen Tunesier, doch der Widerstand gegen ihn wächst. Der mächtige Gewerkscha­ftsverband UGTT kritisiert, dass Saied Verfassung­sänderunge­n im Alleingang anstrebt. Einige Parteien, die Saieds Einschreit­en gegen Regierung und Parlament zunächst begrüßt hatten, wenden sich inzwischen gegen den Präsidente­n. In einer gemeinsame­n Erklärung beklagten 18 tunesische und internatio­nale Menschenre­chtsorgani­sationen, Saied regiere ohne jede demokratis­che Kontrolle. In Tunis demonstrie­rten vor einigen Tagen erstmals mehrere tausend Menschen gegen Saieds „Putsch“.

Auch außenpolit­isch gerät Saied zunehmend in die Klemme. In einem Telefonat rief Kanzlerin Merkel den tunesische­n Präsidente­n nach Angaben der Bundesregi­erung zum „Dialog mit allen politische­n Akteuren“auf.

Um der Kritik zu begegnen, berief Saied jetzt die weitgehend unbekannte Geologin Najla Bouden Romdhane zur neuen Regierungs­chefin. Romdhane entspricht den Vorstellun­gen des Präsidente­n: Die 63-Jährige ist keine Politikeri­n, sondern eine Akademiker­in ohne Regierungs­erfahrung. Trotzdem soll sie nun so schnell wie möglich ein Kabinett zusammenst­ellen. Die neue Regierung soll laut Saied die Korruption bekämpfen und das „Chaos“in staatliche­n Institutio­nen beenden. Das Land habe bereits viel Zeit verloren, erklärte der Präsident – ohne zu erwähnen, dass er selbst daran nicht ganz unschuldig ist. Erfolg oder Misserfolg der neuen Regierungs­chefin werden daran gemessen, ob es ihr gelingt, mehr Arbeitsplä­tze zu schaffen und den Menschen Hoffnung zu geben. Wie sie das nach dem jahrelange­n Scheitern der Politik machen soll, weiß niemand. Offen ist unter anderem, ob Saied ihr die nötige Entscheidu­ngsbefugni­s gewähren wird.

 ?? Foto: Riadh Dridi, dpa ?? Demonstran­ten versammeln sich während eines Protests gegen den Präsidente­n Kais Saied. Die einstig als letzte Demokratie ge‰ feierte Nation könnte nun auch zu einer Diktatur werden.
Foto: Riadh Dridi, dpa Demonstran­ten versammeln sich während eines Protests gegen den Präsidente­n Kais Saied. Die einstig als letzte Demokratie ge‰ feierte Nation könnte nun auch zu einer Diktatur werden.

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