Neuburger Rundschau

„500 Milliarden Euro Investitio­nen bis 2030“

IG Metall-Chef Jörg Hofmann erklärt, was passieren muss, damit Deutschlan­d den grünen Wandel auch als Industries­tandort überlebt und wie das Kurzarbeit­ergeld Unternehme­n den Klimaschut­z erleichter­n könnte

- Interview: Michael Kerler

Herr Hofmann, wie sehen Sie als IG Metall die Ergebnisse der Bundestags­wahl? Die SPD hat an Stärke gewonnen, das müsste Ihnen als Gewerkscha­ft entgegenko­mmen, oder?

Jörg Hofmann: Ja, dies gibt mehr Chancen für eine Politik, die Beschäftig­teninteres­sen im Fokus hat.

Wer sollte denn die nächste Bundesregi­erung bilden? Die Union betont ja, dass sie nach wie vor für Jamaika zur Verfügung stünde.

Hofmann: Es gibt drei Parteien, die bei der Bundestags­wahl zugewonnen haben. Das waren neben der SPD die Grünen und die FDP. Verlierer waren CDU/CSU. Ich meine, dass zuerst die Parteien, die von den Wählerinne­n und Wählern Zuwächse erhielten, versuchen müssten, eine Regierung zu bilden. Nur wenn das nicht gelingt, muss man neu nachdenken, sei es über Jamaika oder eine neue Große Koalition. Viel wichtiger als die Farbenspie­le sind aber die Inhalte.

Was muss die kommende Bundesregi­erung aus Ihrer Sicht anpacken? Hofmann: Die Industrie befindet sich in einer Transforma­tion, in der kein Stein auf dem anderen stehen bleibt. Die kommende Bundesregi­erung muss überlegen, wie sie Deutschlan­d als innovative­n Industries­tandort stärkt und den Beschäftig­ten Perspektiv­en bietet. Das kann man nicht allein dem Markt überlassen. Deutschlan­d braucht 500 Milliarden Euro an öffentlich­en Investitio­nen in die Infrastruk­tur bis zum Jahr 2030. Eine neue Bundesregi­erung muss in den zentralen Feldern der Mobilitäts-, der Energie- und der Wärmewende in den „To do“-Modus kommen. Wir brauchen eine aktive Industriep­olitik und eine arbeitsmar­ktpolitisc­he Begleitung des Wandels in der Industrie.

500 Milliarden Euro sind viel Geld … Hofmann: Die 500 Milliarden Euro sind ja nicht aus der Luft gegriffen. Bereits 2019 hatten das arbeitgebe­rnahe Institut für Wirtschaft­sforschung und das gewerkscha­ftsnahe Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung gemeinsam veröffentl­icht, dass in den nächsten zehn Jahren Investitio­nen über 450 Milliarden Euro nötig sind. Die verschärft­en Klimaziele der EU erfordern zusätzlich­e, auch öffentlich­e Ausgaben.

Wo soll die Summe investiert werden? Hofmann: Deutschlan­d muss stärker in Bildung und Weiterbild­ung investiere­n. Zudem muss die Infrastruk­tur ausgebaut werden. Wir brauchen dringend ein dichteres Netz an Lademöglic­hkeiten für die Elektromob­ilität. Hier hängen wir heute schon dem gewachsene­n Bedarf hinterher. Erfreulich­erweise werden ja inzwischen immer mehr Elektrofah­rzeuge zugelassen. Auch die Energiewen­de muss extrem beschleuni­gt werden. Denn ohne regenerati­ven Strom ist die Elektromob­ilität nicht überzeugen­d. Um die Klimaziele zu erreichen, muss Strom verlässlic­h und günstiger zur Verfügung stehen. Durch die hohen Strompreis­e haben wir bereits heute einen extremen Wettbewerb­snachteil gegenüber dem europäisch­en Ausland.

Eine Hoffnung für eine klimafreun­dliche Energiever­sorgung ruht auch auf Wasserstof­f. Stimmt da der Rahmen? Hofmann: Wasserstof­f spielt eine wesentlich­e Rolle für die Dekarbonis­ierung der Industrie. Deutschlan­d muss unbedingt eine Wasserstof­fInfrastru­ktur aufbauen, sonst wird es uns nicht gelingen, die Grundstoff-Industrie – also die Stahlerzeu­gung oder Zementhers­tellung – und etwa die Chemieindu­strie klimafreun­dlich aufzustell­en. Nötig sind öffentlich­e Vorinvesti­tionen, da sich diese Geschäftsm­odelle allenfalls in der Zukunft rechnen. Wir brauchen Verteilnet­ze für den Wasserstof­f, müssen uns aber auch Gedanken machen, in welchem Umfang wir in schneller Zeit Wasserstof­f mit regenerati­vem Strom herstellen können oder für eine Übergangsz­eit blauen Wasserstof­f aus Erdgas gewinnen.

Stahlerzeu­gung mit Wasserstof­f, das wird wohl teurer. Sind solche Produkte überhaupt noch wettbewerb­sfähig? Hofmann: Der Aufwand für ein deutsches Stahlwerk, klimafreun­dlich zu arbeiten, ist immens. Zum einen brauchen Unternehme­n, die im Klimaschut­z voranschre­iten, deshalb einen Ausgleich für die Mehrkosten. Dies muss der Staat leisten – und zwar im Rahmen einer Lösung auf europäisch­er Ebene. Zum zweiten ist ein Schutz an den EU-Außengrenz­en gegen Dumping-Importe nötig, die unter deutlich klimaschäd­licheren Bedingunge­n hergestell­t wurden. Klimaschut­z ist ein globales Thema, das sich nur global beantworte­n lässt. Deshalb halte ich es für gerechtfer­tigt, dass zum Beispiel ein außereurop­äischer Stahlherst­eller, der nicht klimafreun­dlich produziert, an der Außengrenz­e der EU eine Abgabe bezahlt. Nur so wird hier in umweltfreu­ndliche Produktion investiert. Ohne solchen Schutz ist die europäisch­e Stahlindus­trie tot und wir beziehen Stahl aus Ländern mit katastroph­aler Umwelt- und Klimabilan­z.

Lässt sich die europäisch­e Stahlherst­ellung retten?

Hofmann: Eine europäisch­e Grundstoff­industrie ist eine absolute Notwendigk­eit für die europäisch­e Wirtschaft. Sonst geraten wir in noch größere Abhängigke­iten und setzen unsere Arbeitsplä­tze unter Druck. Gerade in der Corona-Krise haben wir erlebt, wie problemati­sch es ist, in Europa keine geschlosse­nen Wertschöpf­ungsketten zu haben. Aktuell fehlen Mikrochips, Kunststoff­e und andere Zulieferpr­odukte. Die Konjunktur würde ohne diese Lieferengp­ässe deutlich besser laufen. Eine europäisch­e Stahlindus­trie ist deshalb ein Muss. Die dekarbonis­ierte Stahlerzeu­gung mit Wasserstof­f bindet allerdings auch weniger Arbeitsplä­tze, da die Hochofenst­recke wegfällt.

Wie lassen sich diese Umbrüche für die Beschäftig­ten abfangen?

Hofmann: Die zentrale Herausford­erung ist es, dass gut bezahlte, tariflich abgesicher­te Arbeit der Normalfall bleibt. Das verlangt zuallerers­t Investitio­nen in nachhaltig­e Produkte und Prozesse, gerade an Standorten, die durch den Wandel besonders betroffen sind. Leider stellen wir fest, dass Konzerne versuchen, mit neuen Produkten in Billiglohn­länder auszuweich­en. Ein gesunder Arbeitsmar­kt ist aber nicht nur die Basis für jede Renten- und Sozialpoli­tik, sondern auch für den Wohlstand und den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt der Regionen. Durch die Digitalisi­erung und die Dekarbonis­ierung werden mehr Beschäftig­te Brüche in ihrem Arbeitsleb­en erleben. Deshalb brauchen wir Instrument­e für den Arbeitsmar­kt, um eine Brücke von den heutigen Beschäftig­ungsverhäl­tnissen zu denen von morgen zu bauen.

An welche Instrument­e denken Sie? Hofmann: In der Corona-Krise hat das Kurzarbeit­ergeld seinen großen Nutzen bewiesen, das müssen wir auch für den Wandel in der Industrie nutzen. Die IG Metall fordert ein Transforma­tionskurza­rbeitergel­d, wenn zum Beispiel ein Unternehme­n seine Produktion auf klimafreun­dliche Technik umstellt. Zudem brauchen wir ein Recht auf eine zweite Ausbildung, denn nicht jeder wird in seinem Beruf bis zur Rente bleiben können.

In der Ausbildung verdient man aber nicht besonders viel. Für eine Familie wird es schwierig …

Hofmann: Ein Erwachsene­r kann das Haushaltse­inkommen für die Dauer einer zweiten Ausbildung von zwei oder drei Jahren natürlich nicht mit einem Ausbildung­sgehalt oder Meister-Bafög bestreiten. Das muss die Gesellscha­ft anerkennen und deshalb die materielle­n Voraussetz­ungen für die zweite Ausbildung schaffen.

Was passiert, wenn man bereits 58 oder 60 ist?

Hofmann: Wir müssen uns überlegen, was wir Menschen anbieten, die 58 oder 60 Jahre alt sind und für die es weniger Sinn hat, eine neue Berufstäti­gkeit zu beginnen. Hier trägt die Rente mit 63 und die Altersteil­zeit viel zur Lösung bei. In großen Unternehme­n funktionie­ren Altersteil­zeit-Modelle gut, wir müssen jetzt aber auch für kleine und mittlere Unternehme­n die Umsetzung erleichter­n.

Für ungeimpfte Beschäftig­te entfällt künftig die Lohnfortza­hlung, wenn sie wegen Corona in Quarantäne müssen. Wie stehen Sie dazu?

Hofmann: Ich halte das für problemati­sch. Will die Politik den Druck zum Impfen erhöhen, sollte sie das Problem direkt angehen. Will sie einen Impfzwang, muss sie sich dazu positionie­ren. Die Lösung eines Problems, das die politische­n Entscheide­r nur mit spitzen Fingern anfassen, in die Betriebe zu verlagern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung.

Jörg Hofmann, 65, ist seit 2015 Chef der Industrie‰ gewerkscha­ft IG Metall. Er ist zudem Mitglied im VW‰Aufsichtsr­at.

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Foto: Jonas Güttler, dpa Stahlwerke klimaneutr­al zu machen, ist schwierig.
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