„500 Milliarden Euro Investitionen bis 2030“
IG Metall-Chef Jörg Hofmann erklärt, was passieren muss, damit Deutschland den grünen Wandel auch als Industriestandort überlebt und wie das Kurzarbeitergeld Unternehmen den Klimaschutz erleichtern könnte
Herr Hofmann, wie sehen Sie als IG Metall die Ergebnisse der Bundestagswahl? Die SPD hat an Stärke gewonnen, das müsste Ihnen als Gewerkschaft entgegenkommen, oder?
Jörg Hofmann: Ja, dies gibt mehr Chancen für eine Politik, die Beschäftigteninteressen im Fokus hat.
Wer sollte denn die nächste Bundesregierung bilden? Die Union betont ja, dass sie nach wie vor für Jamaika zur Verfügung stünde.
Hofmann: Es gibt drei Parteien, die bei der Bundestagswahl zugewonnen haben. Das waren neben der SPD die Grünen und die FDP. Verlierer waren CDU/CSU. Ich meine, dass zuerst die Parteien, die von den Wählerinnen und Wählern Zuwächse erhielten, versuchen müssten, eine Regierung zu bilden. Nur wenn das nicht gelingt, muss man neu nachdenken, sei es über Jamaika oder eine neue Große Koalition. Viel wichtiger als die Farbenspiele sind aber die Inhalte.
Was muss die kommende Bundesregierung aus Ihrer Sicht anpacken? Hofmann: Die Industrie befindet sich in einer Transformation, in der kein Stein auf dem anderen stehen bleibt. Die kommende Bundesregierung muss überlegen, wie sie Deutschland als innovativen Industriestandort stärkt und den Beschäftigten Perspektiven bietet. Das kann man nicht allein dem Markt überlassen. Deutschland braucht 500 Milliarden Euro an öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur bis zum Jahr 2030. Eine neue Bundesregierung muss in den zentralen Feldern der Mobilitäts-, der Energie- und der Wärmewende in den „To do“-Modus kommen. Wir brauchen eine aktive Industriepolitik und eine arbeitsmarktpolitische Begleitung des Wandels in der Industrie.
500 Milliarden Euro sind viel Geld … Hofmann: Die 500 Milliarden Euro sind ja nicht aus der Luft gegriffen. Bereits 2019 hatten das arbeitgebernahe Institut für Wirtschaftsforschung und das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung gemeinsam veröffentlicht, dass in den nächsten zehn Jahren Investitionen über 450 Milliarden Euro nötig sind. Die verschärften Klimaziele der EU erfordern zusätzliche, auch öffentliche Ausgaben.
Wo soll die Summe investiert werden? Hofmann: Deutschland muss stärker in Bildung und Weiterbildung investieren. Zudem muss die Infrastruktur ausgebaut werden. Wir brauchen dringend ein dichteres Netz an Lademöglichkeiten für die Elektromobilität. Hier hängen wir heute schon dem gewachsenen Bedarf hinterher. Erfreulicherweise werden ja inzwischen immer mehr Elektrofahrzeuge zugelassen. Auch die Energiewende muss extrem beschleunigt werden. Denn ohne regenerativen Strom ist die Elektromobilität nicht überzeugend. Um die Klimaziele zu erreichen, muss Strom verlässlich und günstiger zur Verfügung stehen. Durch die hohen Strompreise haben wir bereits heute einen extremen Wettbewerbsnachteil gegenüber dem europäischen Ausland.
Eine Hoffnung für eine klimafreundliche Energieversorgung ruht auch auf Wasserstoff. Stimmt da der Rahmen? Hofmann: Wasserstoff spielt eine wesentliche Rolle für die Dekarbonisierung der Industrie. Deutschland muss unbedingt eine WasserstoffInfrastruktur aufbauen, sonst wird es uns nicht gelingen, die Grundstoff-Industrie – also die Stahlerzeugung oder Zementherstellung – und etwa die Chemieindustrie klimafreundlich aufzustellen. Nötig sind öffentliche Vorinvestitionen, da sich diese Geschäftsmodelle allenfalls in der Zukunft rechnen. Wir brauchen Verteilnetze für den Wasserstoff, müssen uns aber auch Gedanken machen, in welchem Umfang wir in schneller Zeit Wasserstoff mit regenerativem Strom herstellen können oder für eine Übergangszeit blauen Wasserstoff aus Erdgas gewinnen.
Stahlerzeugung mit Wasserstoff, das wird wohl teurer. Sind solche Produkte überhaupt noch wettbewerbsfähig? Hofmann: Der Aufwand für ein deutsches Stahlwerk, klimafreundlich zu arbeiten, ist immens. Zum einen brauchen Unternehmen, die im Klimaschutz voranschreiten, deshalb einen Ausgleich für die Mehrkosten. Dies muss der Staat leisten – und zwar im Rahmen einer Lösung auf europäischer Ebene. Zum zweiten ist ein Schutz an den EU-Außengrenzen gegen Dumping-Importe nötig, die unter deutlich klimaschädlicheren Bedingungen hergestellt wurden. Klimaschutz ist ein globales Thema, das sich nur global beantworten lässt. Deshalb halte ich es für gerechtfertigt, dass zum Beispiel ein außereuropäischer Stahlhersteller, der nicht klimafreundlich produziert, an der Außengrenze der EU eine Abgabe bezahlt. Nur so wird hier in umweltfreundliche Produktion investiert. Ohne solchen Schutz ist die europäische Stahlindustrie tot und wir beziehen Stahl aus Ländern mit katastrophaler Umwelt- und Klimabilanz.
Lässt sich die europäische Stahlherstellung retten?
Hofmann: Eine europäische Grundstoffindustrie ist eine absolute Notwendigkeit für die europäische Wirtschaft. Sonst geraten wir in noch größere Abhängigkeiten und setzen unsere Arbeitsplätze unter Druck. Gerade in der Corona-Krise haben wir erlebt, wie problematisch es ist, in Europa keine geschlossenen Wertschöpfungsketten zu haben. Aktuell fehlen Mikrochips, Kunststoffe und andere Zulieferprodukte. Die Konjunktur würde ohne diese Lieferengpässe deutlich besser laufen. Eine europäische Stahlindustrie ist deshalb ein Muss. Die dekarbonisierte Stahlerzeugung mit Wasserstoff bindet allerdings auch weniger Arbeitsplätze, da die Hochofenstrecke wegfällt.
Wie lassen sich diese Umbrüche für die Beschäftigten abfangen?
Hofmann: Die zentrale Herausforderung ist es, dass gut bezahlte, tariflich abgesicherte Arbeit der Normalfall bleibt. Das verlangt zuallererst Investitionen in nachhaltige Produkte und Prozesse, gerade an Standorten, die durch den Wandel besonders betroffen sind. Leider stellen wir fest, dass Konzerne versuchen, mit neuen Produkten in Billiglohnländer auszuweichen. Ein gesunder Arbeitsmarkt ist aber nicht nur die Basis für jede Renten- und Sozialpolitik, sondern auch für den Wohlstand und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Regionen. Durch die Digitalisierung und die Dekarbonisierung werden mehr Beschäftigte Brüche in ihrem Arbeitsleben erleben. Deshalb brauchen wir Instrumente für den Arbeitsmarkt, um eine Brücke von den heutigen Beschäftigungsverhältnissen zu denen von morgen zu bauen.
An welche Instrumente denken Sie? Hofmann: In der Corona-Krise hat das Kurzarbeitergeld seinen großen Nutzen bewiesen, das müssen wir auch für den Wandel in der Industrie nutzen. Die IG Metall fordert ein Transformationskurzarbeitergeld, wenn zum Beispiel ein Unternehmen seine Produktion auf klimafreundliche Technik umstellt. Zudem brauchen wir ein Recht auf eine zweite Ausbildung, denn nicht jeder wird in seinem Beruf bis zur Rente bleiben können.
In der Ausbildung verdient man aber nicht besonders viel. Für eine Familie wird es schwierig …
Hofmann: Ein Erwachsener kann das Haushaltseinkommen für die Dauer einer zweiten Ausbildung von zwei oder drei Jahren natürlich nicht mit einem Ausbildungsgehalt oder Meister-Bafög bestreiten. Das muss die Gesellschaft anerkennen und deshalb die materiellen Voraussetzungen für die zweite Ausbildung schaffen.
Was passiert, wenn man bereits 58 oder 60 ist?
Hofmann: Wir müssen uns überlegen, was wir Menschen anbieten, die 58 oder 60 Jahre alt sind und für die es weniger Sinn hat, eine neue Berufstätigkeit zu beginnen. Hier trägt die Rente mit 63 und die Altersteilzeit viel zur Lösung bei. In großen Unternehmen funktionieren Altersteilzeit-Modelle gut, wir müssen jetzt aber auch für kleine und mittlere Unternehmen die Umsetzung erleichtern.
Für ungeimpfte Beschäftigte entfällt künftig die Lohnfortzahlung, wenn sie wegen Corona in Quarantäne müssen. Wie stehen Sie dazu?
Hofmann: Ich halte das für problematisch. Will die Politik den Druck zum Impfen erhöhen, sollte sie das Problem direkt angehen. Will sie einen Impfzwang, muss sie sich dazu positionieren. Die Lösung eines Problems, das die politischen Entscheider nur mit spitzen Fingern anfassen, in die Betriebe zu verlagern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung.
Jörg Hofmann, 65, ist seit 2015 Chef der Industrie gewerkschaft IG Metall. Er ist zudem Mitglied im VWAufsichtsrat.