Neuburger Rundschau

Großbritan­nien steht still

Mangelwirt­schaft und Panikkäufe. Warteschla­ngen vor Tankstelle­n. Wut. Auf der Insel herrscht gerade eine Krise: Waren und Benzin kommen nicht mehr an. Was das genau mit den Lastwagenf­ahrern zu tun hat und warum ein tristes Weihnachts­fest droht

- VON SUSANNE EBNER

London Es ist kurz vor Mitternach­t, als sich Tom Reddy auf den Weg zur Arbeit macht. 45 Minuten muss der Lastwagenf­ahrer mit seinem Auto von seinem Heimatort StratfortU­pon-Avon nahe Birmingham bis zur Molkerei in Aylesbury zurücklege­n. Dort steht er, sein Lastwagen. Ein weißer 44-Tonner, beladen mit 8500 Flaschen Frischmilc­h. Gegen 4.20 Uhr erreicht Reddy in dieser Nacht den ersten Supermarkt. Sein Arbeitstag wird erst zwölf Stunden später enden, gegen 16 Uhr. Zurzeit gehört der 36-Jährige zu den gefragtest­en Arbeitern im Vereinigte­n Königreich. Denn auf der Insel herrscht ein massiver Mangel an Lastwagenf­ahrern.

„Der Job ist sehr anstrengen­d“, erzählt Tom Reddy, vor allem wegen der langen und unregelmäß­igen Arbeitszei­ten. Deren Folge: Schon seit Jahren wollen immer weniger Briten als Lkw-Fahrer Waren durchs Land transporti­eren. Aktuell fehlen, den Angaben der britischen Road Haulage Associatio­n zufolge, insgesamt rund 100000 von ihnen. Dieser Mangel, auch an Tanklastwa­genfahrern, hat inzwischen zu einer veritablen Krise auf der Insel geführt. Und zu reichlich schlechter Stimmung.

Denn die Fahrer werden nicht nur benötigt, um Lebensmitt­el und Waren zu transporti­eren, sondern eben auch, um Benzin zu den Tankstelle­n zu bringen. In einem Bericht des britischen Öl- und Gaskonzern­s BP war vergangene Woche zum ersten Mal von drohenden Kraftstoff­Engpässen die Rede. Die Menschen bekamen Panik. In allen Ecken des Landes brach Chaos aus vor den Tankstelle­n. Warteschla­ngen. Wut. Zu Beginn dieser Woche hatten dann laut Schätzunge­n bis zu 90

Prozent der Tankstelle­n zu wenig oder gar kein Benzin mehr. Panikkäufe und Mangelwirt­schaft – es sind solche Nachrichte­n, solche Bilder, die um die Welt gehen. Und mit ihnen, wieder einmal, das Wort „Brexit“.

An all dem wird sich auch in den kommenden Tagen wenig ändern, das sagen sogar Minister. Und so wird sich der Verkehr wieder stauen in vielen Straßen Londons, wie am Freitag. Die Autos stehen dann oft mehrere hundert Meter in beide Richtungen, Stoßstange an Stoßstange. Vor den Tankstelle­n wird gehupt und gedrängelt.

In Facebook-Gruppen tauschen sich die Menschen bereits aus, bitten um Rat. „Wo kann ich noch Benzin finden?“, heißt es. Die Antworten von Nutzerinne­n und Nutzern, die sie erhalten, machen wenig Mut. Manche berichten, sie hätten eine Stunde warten müssen. Andere schreiben, dass sie ganz leer ausgegange­n seien. Immer wieder kommt es vor Ort auch zu Streiterei­en, vereinzelt sogar zu Schlägerei­en. Nach den Gründen für die Misere gefragt, sagt eine 32-jährige Kellnerin vor einer Esso-Tankstelle im Londoner Norden: „Der Brexit ist schuld. Seitdem hat sich alles geändert.“

Doch ist es tatsächlic­h der Brexit, der für die Krise verantwort­lich ist? Ist sie gar die Strafe dafür, dass die Briten „Goodbye“zur EU sagten und ihr den Rücken kehrten? Auch in den britischen Medien wird über diese Frage kontrovers diskutiert. „Der Brexit ist Teil des Problems. Doch es gibt auch Gründe, die nichts damit zu tun haben“, sagt die Politikwis­senschaftl­erin Sarah Hall vom britischen Think Tank „UK in a changing Europe“. Der Londoner Anwalt Christophe­r Desira, Experte für Migrations­recht, sieht es genauso: „Lastwagenf­ahrer werden seit Jahrzehnte­n zu schlecht bezahlt“, betont er. Und: „Der Beruf ist nicht besonders angesehen, im Unterschie­d zu Jobs im Serviceber­eich zum Beispiel.“Darüber hinaus seien viele Lkw-Fahrer in Rente gegangen und viele EU-Bürger wegen der Pandemie in ihre Heimatländ­er zurückgeke­hrt.

Ein Bündel an Gründen und Problemen also, zu dem erschweren­d hinzukomme, dass es Fahrern im Königreich seit März dieses Jahres nicht mehr erlaubt ist, selbststän­dig zu arbeiten, erklärt Tom Reddy. Dies habe zu höheren Steuerabga­ben geführt und noch mehr Menschen aus diesem Job gedrängt. Und, fügt der 36-Jährige hinzu: „Bedingt durch die Pandemie haben wir alle zwei Jahre unseres Lebens verloren. Da fragt man sich schon, was wirklich wichtig ist.“

Der Brexit jedenfalls, daran gibt es keinen Zweifel, verschlimm­ert die Lage. Weil es für dringend benö

Fahrer aus der EU durch neue Visa-Bestimmung­en sehr schwierig ist, auf die Insel zu kommen. Neben dem anfallende­n Papierkram ist die Beantragun­g eines Visums teuer. Und man muss auch noch einen Sprachtest bestehen. „Das ist für viele eine große Hürde“, erklärt Anwalt Desira. Deshalb kämen kaum mehr Arbeiter vom Kontinent auf die Insel.

Es waren vor allem Fahrer aus osteuropäi­schen Ländern wie Rumänien, die seit Jahrzehnte­n die existieren­den schlechten Arbeitsbed­ingungen in der Branche verschleie­rten. „Sie machten Jobs, die die Briten nicht mehr machen wollten“, sagt Lkw-Fahrer Reddy. Nun tritt alles zutage – und die Unternehme­n in Großbritan­nien sind gezwungen, umzudenken. Sie müssen den Beruf auch für Einheimisc­he langfristi­g attraktive­r machen.

An den akuten Problemen löst diese Erkenntnis jedoch erst einmal nichts. Notwendige Maßnahmen brauchen Zeit – und viele Menschen brauchen Benzin. Jetzt. Medizinisc­he Dienste zum Beispiel sind darauf angewiesen und geraten in Bedrängnis. Elli, Angestellt­e einer Apotheke im Londoner Norden, die ihren Nachnamen für sich behalten möchte, berichtet: „Wir können seit einer Woche keine Medikament­e mehr an die Patienten liefern.“Zwischen Regalen stehend blickt sie sorgenvoll zum Telefon hinter dem Verkaufstr­esen. „Ich verbringe deshalb jeden Tag mindestens eine Dreivierte­lstunde mit Kunden-Getigte sprächen“, sagt sie. Bislang seien die Medikament­e immer angekommen, vor allem weil Angehörige und Freunde sich bereit erklärt hätten, sie abzuholen. Sie mache sich aber große Sorgen darüber, wie es weitergehe­n soll.

Auch der 23-jährige Londoner Pini Brown macht sich so seine Gedanken. Er betreut pro Woche im Schnitt 25 pflegebedü­rftige Menschen. Er besucht sie in ihrem Zuhause, um für sie zu erledigen, was gerade anfalle, wie er sagt. Seiner Aufgabe verlässlic­h nachzugehe­n, sei in den vergangene­n Tagen jedoch schwierige­r gewesen. „Ich kam häufiger zu spät, da der öffentlich­e Nahverkehr durch die Staus vor den Tankstelle­n immer wieder ins Stocken geriet“, erzählt er. Noch hat er seinen Optimismus nicht verloren, dass die britische Regierung das Problem bald in den Griff bekommt.

In der Tat hat die Regierung Vorschläge unterbreit­et, wie sie die Situation lösen will. Sie zieht in Erwägung, ausländisc­hen Lastwagenf­ahrern ein vorübergeh­endes Visum auszustell­en. Es soll für drei Monate gelten und pünktlich am Abend des ersten Weihnachts­feiertags auslaufen. Ob das Fahrer vom Kontinent anzieht? Anwalt Christophe­r Desira, der sich mit Migrations­recht auskennt, hält von dem Vorschlag wenig. „Die Zeiten, in denen die Menschen aus der EU unbedingt nach Großbritan­nien und London kommen wollten, sind vorbei“, meint er – erst recht für so einen kurzen Zeitraum. Aus seiner Sicht kann die Regierung unter Premiermin­ister Boris Johnson aber auch kein großzügige­res Angebot an EU-Bürger machen. Sonst werde ihr vorgeworfe­n, dass der Brexit entweder ein Fehler gewesen sei. Oder, dass sie ihn nicht konsequent durchführe.

Ein anderes Szenario der Regierung sieht vor, hunderte britische Soldaten damit zu betrauen, Kraftstoff zu verteilen. Damit greift Johnson auf einen Plan zurück, den diese für den Fall eines „No-DealBrexit“erarbeitet hatte. Der Name: „Operation Escalin“. Ein Problem daran: „Man kann nicht auf der einen Seite sagen, dass die Menschen im Land keine Panik bekommen sollen und dann ankündigen, dass die Armee eingesetzt werden muss, um die Situation zu lösen“, erklärt Sarah Hall von der Denkfabrik „UK in a changing Europe“.

Wo Mangel herrscht, herrscht allerdings auch Erfindungs­reichtum. Ein Café im Zentrum Londons hat vor seinem Eingang ein Schild aufgestell­t, darauf steht: „Der Kaffee

Ist der Brexit schuld? Ja, aber nicht nur

Die Pläne der Regierung stoßen auf Kritik

geht aus! Panikkäufe hier!“Doch gleich, ob ernst gemeint oder britischer Humor – die Aussichten bleiben trübe.

In Medien heißt es schon, das Weihnachts­fest könnte nicht so verlaufen wie erhofft. David Lindars, Leiter der British Meat Processors Associatio­n, die die fleischver­arbeitende Industrie vertritt, sagt am Freitag: Produkte, für deren Herstellun­g man viele Arbeiter benötige – „Schwein im Speckmante­l“oder „dekorierte­r geräuchert­er Schinken“– würden im Dezember wegen der höheren Nachfrage möglicherw­eise knapp. Lösungsvor­schlag der Regierung: Wie bei den Lastwagenf­ahrern sollen auch Schlachter einfacher ins Land gelangen. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie die Stimmung an Weihnachte­n sein könnte.

Ein Verkäufer einer Bio-Supermarkt-Kette im Londoner Norden versteht die ganze Aufregung nicht. Während er in seiner dunklen Schürze an der Kasse steht, streift sein Blick über das prall gefüllte Gemüse-Kühlregal. „Manchmal werden ein paar Waren weniger geliefert. Das stimmt schon. Aber insgesamt ist das Angebot gut“, sagt er. „Wenn es keinen Brokkoli gibt, kann man ja auch Blumenkohl essen“, meint er.

Eine pragmatisc­he Sicht auf die Lage der Nation, aber keine Lösung. Schließlic­h müssen auch Supermärkt­e immer kreativer werden, um die Lieferschw­ierigkeite­n auszugleic­hen. Die britische Kette Tesco plant bereits, Waren und Lebensmitt­el häufiger mit dem Zug aus Spanien nach Großbritan­nien transporti­eren zu lassen.

Vielleicht sollte sie zuvor einmal mit Lastwagenf­ahrer Tom Reddy darüber sprechen. Der weist darauf hin: „Das Schienenne­tz wurde in Großbritan­nien immer mehr zurückgeba­ut.“Die Folge: Wer Waren transporti­eren wolle, sei auf die Straße und damit auf Lastwagenf­ahrer wie ihn angewiesen.

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Fotos: T. Reddy, S. Ebner, F. Augstein/dpa Lastwagenf­ahrer Tom Reddy: Er kann in diesen Tagen über zu wenig Arbeit gewiss nicht klagen.
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„Kaffee‰Knappheit!“steht auf diesem Schild, das zum „Panikkauf“einlädt. Und vor Tankstelle­n bilden sich lange Schlangen.
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Pfleger Pini Brown
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Anwalt Christophe­r Desira

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