Neuburger Rundschau

Ohne Zuwanderer wäre Deutschlan­d um einiges ärmer

Vor 60 Jahren wurde ein Anwerbeabk­ommen mit der Türkei abgeschlos­sen. Seither werden die alten Fehler in der Migrations­politik immer wieder neu gemacht

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger‰allgemeine.de

Es entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, was der auch sonst selten um eine Volte verlegene Premier Boris Johnson da gerade veranstalt­et. Weil viele Regale in britischen Supermärkt­en leer bleiben und die Tankstelle­n auf dem Trockenen sitzen, will er Kurzzeit-Visa an ausländisc­he Billig-Arbeiter vergeben: Bis Weihnachte­n sollen sie den Briten den Alltag vereinfach­en, danach können sie zurück in ihre jeweiligen Heimatländ­er.

Der Brexit führt auf erstaunlic­h drastische Weise vor Augen, wie sehr die Wirtschaft vom Prinzip der offenen Grenzen innerhalb Europas profitiert. Seit Montag muss die Regierung Militär einsetzen, um die Krise abzufedern. Leider ist die Misere in Großbritan­nien eher Symptom eines größeren politische­n Versagens als nur ein bizarrer Einzelfall.

Obwohl es eines der wichtigste­n Themen ist, Gesellscha­ft und Wirtschaft maßgeblich beschäftig­t, machen viele europäisch­e Regierunge­n einen weiten Bogen um das Thema Migration. Aus Furcht, Wähler zu verschreck­en, dämmert auch Deutschlan­d seit vielen Jahren in einem fatalen migrations­politische­n Halbschlaf: Solange die Probleme nicht ganz über den Kopf wachsen, werden sie ignoriert. 60 Jahre nach dem Anwerbeabk­ommen mit der Türkei ist es noch immer nicht gelungen, ein echtes Zuwanderun­gsgesetz auf den Weg zu bringen, das beiden helfen würde: der Industrien­ation Deutschlan­d genauso wie den Menschen, die ihre Zukunft zwischen Nordsee und Alpen sehen.

Noch immer hängt das Flüchtling­sjahr 2015 dem Land wie ein Mühlstein um den Hals und bremst viele Fortschrit­te schon im Ansatz aus: Zu tief sitzt die Furcht, dass jede Neuregelun­g höhere Zuwanderun­gszahlen nach sich zieht. Dabei hat ein Zuwanderun­gsgesetz erst mal nichts mit dem Recht auf Asyl zu tun. Das ist aus gutem

Grund juristisch verankert, mit einem Zuwanderun­gsgesetz aber schafft sich die Politik ein eigenes Steuer-Element für Arbeitsmig­ration. Wie wichtig das wäre, zeigt eben jenes Anwerbeabk­ommen. Viele Fehler, die bis heute nachwirken, hätten vermieden werden können, wenn man sich nicht der Illusion hingegeben hätte, dass man Arbeiter beliebig ein- und dann wieder ausladen kann. Denn erst dadurch war es möglich, dass sich Parallelge­sellschaft­en gebildet haben, dass Integratio­n bisweilen bis heute schleppend verläuft. Ein echtes Miteinande­r war nie das Ziel.

Dabei kann Zuwanderun­g ein großer Gewinn sein – und das zeigen nicht nur Erfolgsges­chichten wie die der Biontech-Chefs Özlem Türeci und Ugur Sahin oder Politiker wie Cem Özdemir, dessen Vater 1961 unter den ersten „Gastarbeit­ern“

war. Im Alltag sind es die kleinen Begegnunge­n, diejenigen, die im Stillen arbeiten in den Pflegeheim­en, in den Schlachthö­fen, auf den Baustellen, die wir stärker schätzen sollten. Denn eines ist klar und wird durch das Beispiel Großbritan­nien noch einmal deutlicher: Die europäisch­e Wirtschaft kommt ohne Zuwachs von außen auf Dauer nicht aus. Jährlich müssten 480 000 Menschen einwandern, wenn die bis 2035 erwartete Abnahme der Bevölkerun­g im erwerbsfäh­igen Alter ausgeglich­en werden soll, rechnet das Statistisc­he Bundesamt aus.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass Zuwanderun­g anstrengen­d ist, dass sie nur gelingen kann, wenn Probleme offen angesproch­en werden. Wer nicht einmal über rudimentär­e Sprachkenn­tnisse verfügt, wird nie wirklich ankommen können. Wer die Werte und roten Linien nicht akzeptiert, muss sein Glück eben woanders suchen. Es wird die Aufgabe der künftigen Regierung sein, hier mutiger zu werden und sich nicht mit einem Minimalkom­promiss zufriedenz­ugeben, sondern aktiv zu gestalten.

Vieles aus den 60er Jahren wirkt bis heute nach

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