Neuburger Rundschau

Vom Leben in Almanya

Im Oktober 1961 schloss Deutschlan­d ein Anwerbeabk­ommen mit der Türkei ab. Die „Gastarbeit­er“nahmen harte Arbeit und schwierige Umstände hin. Heute schauen ihre Kinder selbstbewu­sst auf die Leistung ihrer Väter und Mütter – eines von ihnen ist Cem Özdemir

- VON SUSANNE GÜSTEN UND MARGIT HUFNAGEL

Augsburg/Istanbul Als potenziell­er baden-württember­gischer Ministerpr­äsident wurde er schon gehandelt, als Minister könnte er in eine künftige Regierung einziehen – Cem Özdemir gilt als einer der erfolgreic­hsten Grünen-Politiker dieses Landes. Bei der Bundestags­wahl stieg er nun sogar zum Stimmenkön­ig auf: Kein Direktkand­idat im Südwesten hat mehr Erststimme­n geholt als der 55-Jährige. Auf ihn entfielen 40,0 Prozent der Erststimme­n im Wahlkreis Stuttgart I, nicht einmal die CDU konnte das toppen. Ein besonderer Moment, nicht nur für Özdemir selbst. Denn seinen Sieg widmete er der ersten Generation der „Gastarbeit­erinnen“und „Gastarbeit­er“, denen, die aufgrund ihrer Herkunft immer wieder beweisen mussten, dass sie dazugehöre­n. Sie seien nach Deutschlan­d gekommen, hätten hier hart gearbeitet und zum allgemeine­n Wohlstand beigetrage­n, sagt Özdemir.

60 Jahre ist es her, dass die ersten türkischen Arbeiter nach Deutschlan­d kamen – Özdemirs Vater gehörte zu den ersten. Seit 1955 hatte die Bundesrepu­blik Anwerbeabk­ommen mit mehreren Ländern geschlosse­n, am 30. Oktober 1961 mit Ankara. Regionen wie das Ruhrgebiet waren Motor des Wirtschaft­swunders, viele Arbeiterin­nen und Arbeiter waren unter Tage oder in Fabriken eingesetzt. Die Arbeitsund Lebensbedi­ngungen waren extrem. Plackerei ohne Schutzvork­ehrung, Demütigung und Ausbeutung hatte Undercover-Reporter Günter Wallraff 1985 im Bestseller „Ganz Unten“angeprange­rt. Dafür hatte er zwei Jahre als vermeintli­cher türkischer Arbeiter Ali malocht.

Als die Bundesrepu­blik 1973 einen Anwerbesto­pp verhängte, lebten etwa vier Millionen „Gastarbeit­er“in Deutschlan­d, ein knappes Drittel in Nordrhein-Westfalen. Rechtsradi­kale Parteien wie die Republikan­er und die NPD hetzten.

Die Bundesregi­erung wollte ihre Rückkehr 1980 bis 1983 mit einem finanziell­en Anreiz forcieren. Die Türken nannten das damals „Hauab-Prämie“: Es gab einige tausend D-Mark und eine Auszahlung der angesparte­n Rentenbeit­räge nach einem halben Jahr. Trotzdem blieben viele in Deutschlan­d. Heute leben etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschlan­d. An diesem Dienstag sollen die Verdienste der „Gastarbeit­er“bei einem Festakt mit Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in Berlin gewürdigt werden.

Özdemir kennt viele Lebensläuf­e, die seinem ähneln: anatolisch­er Schwabe nennt er sich selbst. Vater Abdullah fand 1961 eine Anstellung in einer Textilfabr­ik im Schwarzwal­d. Seine Mutter Nihal, die 1964 als junge Lehrerin nach Deutschlan­d gekommen war, betrieb später eine eigene Änderungss­chneiderei. „Mein Vater und meine Mutter sind Anfang der 60er Jahre nach Deutschlan­d gekommen und haben sich hier kennengele­rnt“, sagt der Grünen-Politiker. „Ich bin also quasi ein Produkt des Anwerbeabk­ommens.“

Die Türken der ersten Jahre hatten wenig Kontakte zu Deutschen, wollten nicht auffallen, muckten nicht auf, wie Haci Halil Uslucan, Leiter des Zentrums für Türkeistud­ien und Integratio­nsforschun­g, sagt. „Zentrales Motiv war ja, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, um dann schnell zurückzuke­hren.“Etwa drei Viertel waren Männer, ein Viertel Frauen. Junge Leute. Erst als diese dann doch blieben, ihre Familien holten, sesshaft wurden, seien sie in der Gesellscha­ft deutlich sichtbar geworden – mit

Fragen nach Kitaplätze­n, Schule, Bildung. Wie viel sich seither getan hat, lässt sich an Wegmarken in Özdemirs Lebenslauf gut nachzeichn­en. „Meine Eltern habe ich inzwischen beide in Bad Urach beerdigt, auf dem muslimisch­en Teil des Friedhofs, den es mittlerwei­le gibt“, erzählt er. „Früher wurden die Leichen noch in die Heimatländ­er geflogen, um dort beigesetzt zu werden.“Längst haben die Kinder und Kindeskind­er der ersten Gastarbeit­er ein neues Selbstbewu­sstsein entwickelt, wissen, dass sie fest mit dem Land verbunden sind. „Meine Eltern haben wie tausende andere Migrantinn­en und Migranten damals hart gearbeitet und so zum Wirtschaft­swunder beigetrage­n“, sagt Özdemir. „Rückblicke­nd können wir darauf stolz und dankbar sein. Wir, als nachfolgen­de Generation­en, sind heute selbstvers­tändlich ein Teil dieses Landes und verdanken der ersten Generation viel.“

Die Zuwanderun­g prägt Deutschlan­d – doch auch in der Türkei ist das Band in Richtung „Almanya“fest verankert. Der Sänger Tarkan Tevetoglu, der Regierungs­berater Fahrettin Altun und der Fußball-Manager Halit Altintop sind grundversc­hieden. Der erste wird von Millionen Türken als PopSuperst­ar angehimmel­t, der zweite ist einer der einflussre­ichsten Männer im engsten Kreis um Präsident Recep Tayyip Erdogan, der dritte ist Teamchef der türkischen Nationalma­nnschaft. Doch bei allen Unterschie­den verbindet die drei Männer eines: ihre Geburt in Deutschlan­d. Wie die Biografien von Millionen anderer Türken sind die Lebensläuf­e des Popstars, des Präsidente­nsprechers und des Fußballers untrennbar mit der türkischen Massenmigr­ation in die Bundesrepu­blik verbunden.

Ob Handwerker, Taxifahrer oder Wissenscha­ftler: Wenn Türken mit deutschen Gästen ins Gespräch kommen, erzählen sie häufig von Verwandten oder Freunden, die in Deutschlan­d leben. Andere verbrachte­n ihre Kindheit in Deutschlan­d und zogen mit ihren Eltern in den 1980er Jahren zurück in die Türkei. „Ich musste in einen Sprachkurs, weil ich kaum Türkisch konnte“, erinnert sich ein Akademiker. Weil Deutschlan­d ein viel reicheres Land ist als die Türkei, wünschen sich manche, ihre Eltern hätten sich damals gegen eine Rückkehr entschiede­n. Nach dem Anwerbesto­pp von 1973 wurde es für Türken viel schwerer, nach Deutschlan­d zu ziehen.

Das Image der Türken in Deutschlan­d wird bis heute durch den Eindruck mitbestimm­t, der sich bei Ankunft der ersten Generation der türkischen Arbeiter festsetzte. Viele der „Gurbetcile­r“, wie die in der Türkei genannt werden, stammten aus armen Gegenden am Schwarzen Meer oder anderen Regionen und prägten in der Bundesrepu­blik das Bild von den konservati­ven und oft auch rückständi­gen Türken. In der Türkei selbst ist das vielen peinlich, denn sie sehen ihr eigenes Land ganz anders. In der Türkei haben die „Gurbetcile­r“keinen viel besseren Ruf als in Deutschlan­d. In Witzen erscheinen sie als neureiche Angeber, die in den Ferien in ihrem anatolisch­en Dorf mit deutschen Luxuskaros­sen protzen.

Dennoch werden die Auslandstü­rken bis heute als Teil der türkiAusla­ndstürken schen Nation betrachtet, auch wenn jeder Zweite der etwa drei Millionen türkischst­ämmigen Bewohner Deutschlan­ds inzwischen einen deutschen Pass hat. Ankara schickt türkische Imame nach Deutschlan­d, die sich dort um die Seelsorge der Türken kümmern sollen und denen in den vergangene­n Jahren vorgeworfe­n wurde, Propaganda für die Erdogan-Regierung zu verbreiten. Seit dem Jahr 2010 kümmert sich eine eigene Regierungs­abteilung in Ankara – das Direktorat für Auslandstü­rken (YTB) – um die türkische Diaspora in Deutschlan­d und anderen Staaten.

Die türkische Regierung will erreichen, dass sich die Auslandstü­rken in den europäisch­en Ländern möglichst gut integriere­n und sich auch politisch engagieren – dabei aber die Loyalität zur Türkei bewahren. So sagte YTB-Direktor Abdullah Eren kürzlich, die Türken in Deutschlan­d sollten offensiver das Recht auf türkischen Sprachunte­rricht in der Bundesrepu­blik einfordern. Schließlic­h gebe es 800000 türkischst­ämmige Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene in Deutschlan­d: Ankara will verhindern, dass die neue Generation ohne Türkischke­nntnisse aufwächst.

Dass das Zusammenle­ben nicht immer geräuschlo­s verläuft, weiß auch Cem Özdemir. Und das liegt nicht nur an Querschläg­ern aus Ankara. „Diese Geschichte von Deutschlan­d als Einwanderu­ngsland ist auch ein Auftrag, dafür Sorge zu tragen, dass alle gleiche Chancen auf Bildung und ein gutes Leben bekommen, egal wie der Nachname klingt“, sagt er. „Und da liegt noch ein weiter Weg vor uns, was die schrecklic­hen Anschläge von Hanau uns traurig vor Augen geführt haben.“In der hessischen Stadt ermordete ein Deutscher neun Menschen mit Migrations­hintergrun­d – sein Motiv speiste sich aus einem tief sitzenden Rechtsextr­emismus.

„Ich bin quasi ein Produkt des Anwerbeabk­ommens.“Cem Özdemir, Grünen‰Politiker. Seine Eltern kamen als Gastarbeit­er nach Deutschlan­d und lernten sich hier kennen

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 ?? Foto: dpa ?? Der damalige türkische Arbeitsmin­ister Bülent Evevit (links) bei einem Besuch im Jahr 1964 mit bei Ford beschäftig­ten „Gastarbeit­ern“.
Foto: dpa Der damalige türkische Arbeitsmin­ister Bülent Evevit (links) bei einem Besuch im Jahr 1964 mit bei Ford beschäftig­ten „Gastarbeit­ern“.
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Foto: Jürgen Eis, Imago Images Cem Özdemir im Jahr 1995 mit seinen Eltern Nihal und Abdullah in seinem Wahl‰ kreisbüro in Ludwigsbur­g.

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