Neuburger Rundschau

„Es wird munter unnütz operiert“

Zu viele Operatione­n, fragwürdig­e Vorsorge, geringere Lebenserwa­rtung: Unser Gesundheit­ssystem heile nicht nur, sondern mache auch viele Menschen krank. Der renommiert­e Medizinaut­or und Arzt Werner Bartens klagt an

- Interview: Michael Pohl

Herr Doktor Bartens, haben Sie noch Ihre Mandeln im Rachen?

Werner Bartens: Nein, meine Mandeln wurden mir vor der Einschulun­g herausoper­iert, weil ich als Kind keine Tabletten schlucken konnte. Obwohl ich sonst keine Probleme hatte und nicht häufig unter Halsschmer­zen litt. Als Mediziner weiß ich heute, dass das völlig unnötig war. Die Mandeln haben eine wichtige Funktion fürs Abwehrsyst­em. Die Wahrschein­lichkeit für Atemwegser­krankungen, Infektione­n und allergisch­es Asthma steigt, wenn die Mandeln entfernt werden. Obwohl die Leitlinien längst geändert wurden, werden die Operatione­n bis heute viel zu häufig durchgefüh­rt, absurderwe­ise in manchen Landkreise­n Deutschlan­ds vier- bis fünfmal so häufig wie in anderen.

Was ist der Grund, dass man schon bei Kindern voreilig zum Skalpell greift? Bartens: Viele Ärzte und Kliniken handeln aus falscher Gewohnheit, überkommen­en Ritualen und operieren wegen finanziell­er Fehlanreiz­e zu häufig. Gaumenmand­eln sollten erst dann operiert werden, wenn man mehr als sechsmal im Jahr an bakteriell­en Halsentzün­dungen erkrankt, die tatsächlic­h mit Antibiotik­a behandelt werden müssen. Aber das ist schon das nächste Problem: Kindern wie Erwachsene­n werden viel zu schnell Antibiotik­a verschrieb­en.

Viele Ärzte fürchten, dass die Mandelentz­ündung sonst aufs Herz geht… Bartens: Auch dieses Dogma ist längst überholt. Besonders absurd ist es, dass Antibiotik­a noch immer sehr häufig bei viralen Infekten verschrieb­en werden, obwohl jeder Medizinstu­dent weiß, dass die Mittel nicht gegen Viren helfen, sondern nur gegen bakteriell­e Infektione­n. Selbst wenn zum grippalen Infekt noch eine bakteriell­e Infektion hinzukommt, klingen sie laut Studien nicht besser oder schneller ab, wenn man zu Antibiotik­a greift. Unnötige

Antibiotik­a führen nicht nur zu Nebenwirku­ngen, sondern auch zu gefährlich­en Resistenze­n. Diese wichtigen Medikament­e wirken dann nicht mehr, wenn man sie wirklich braucht. Zu viel Antibiotik­a und Mandeloper­ationen sind nur zwei Beispiele von vielen, wie weit verbreitet­e Therapien nicht nützen, sondern Patienten schaden.

In der Gesundheit­spolitik zählt man dieses Phänomen zur „Überversor­gung“. In einer Überflussg­esellschaf­t klingt das vielleicht nicht bedrohlich. Aber ist das gesund?

Bartens: Überversor­gung ist extrem ungesund. Der Sachverstä­ndigenrat im Gesundheit­swesen warnt seit langem davor, dass die Überversor­gung eine der größten Gefahren der Medizin für Patienten in wohlhabend­en Ländern ist. Zum einen droht konkreter körperlich­er Schaden, wenn man unnötig operiert wird, unnötig Medikament­e nimmt oder Röntgenund Strahlenbe­lastung ausgesetzt wird. Doch genauso wenig sollte man eine andere Gefahr vernachläs­sigen: Überversor­gung führt zu einer flächendec­kenden Krankreder­ei. Wenn Diagnoseme­thoden immer besser und genauer werden, entdeckt man viel leichter Abweichung­en von der Norm. Dann heißt es: Na ja, wir haben da was gefunden. Ist nicht schlimm, aber wir müssen es kontrollie­ren. Damit wird ein Mechanismu­s in Gang gesetzt, der uns alle nur noch gesund auf Probe sein lässt. Der alte MedizinerW­itz: Es gibt keine gesunden Menschen, sie sind nur nicht gründlich genug untersucht, ist heute keine Ironie mehr, sondern gefährlich­e Realität.

Können Sie ein Beispiel nennen? Bartens: Vor einigen Jahren machten Wissenscha­ftler in der Schweiz für eine Studie ein interessan­tes Experiment: Sie legten Radiologen und Orthopäden hunderte Röntgenbil­der und CT-Aufnahmen vor, ohne ihnen zu sagen, dass sie von gesunden Studenten stammten, die über keinerlei Rückenbesc­hwerden klagten: Doch die Mediziner stellten anhand der Bilder in mehr als einem Drittel der Fälle die Diagnose, dass man wegen sichtbarer Anomalien dringend operieren müsse. Sie waren sich sicher, dass die Betroffene­n starke Schmerzmit­tel nehmen. Das waren keine schlechten Ärzte, aber was man auf den Röntgenbil­dern sieht, entspricht häufig überhaupt nicht dem, wie sich die Menschen fühlen. Es gibt einen Unterschie­d zwischen Befinden und Befunden.

Gilt dies auch umgekehrt: Dass erst der Befund krank macht?

Bartens: Wenn mir der Arzt sagt, ich habe da was, ändert sich auch mein Befinden. Man kauft sich neue Matratzen, rennt zur Physiother­apie und lässt sich, wenn es ganz schlimm läuft, operieren. Für die meisten akuten Rückenschm­erzen gilt aber, was der bekannte deutsche Orthopädie-Professor Peer Eysel sagt: „Mit Behandlung 14 Tage – ohne zwei Wochen.“Das ist in unzähligen Studien belegt. In 90 Prozent der Fälle verschwind­en Rückenschm­erzen von allein. Natürlich gibt es auch schwere Erkrankung­en. Aber viel häufiger spielen psychische Faktoren eine Hauptrolle bei Rückenschm­erzen. Das ist kein ominöses seelisches Rätsel. Zwischen Ängsten und schlechter Stimmung auf der einen Seite und Schmerzen oder auch Krankheite­n wie beispielsw­eise Herzinfark­ten auf der anderen gibt es klare neurobiolo­gische Zusammenhä­nge. Das Schmerzzen­trum ist eng mit jener Hirnregion verknüpft, die Wohlbefind­en oder Missstimmu­ng registrier­t.

Wird in Deutschlan­d grundsätzl­ich zu viel operiert?

Bartens: Deutschlan­d ist zum Beispiel Weltmeiste­r bei Herzkathet­erEingriff­en, beim Einsetzen künstliche­r Hüft- und Kniegelenk­e, bei vielen Rücken-Operatione­n und beim Röntgen von Rücken. In Schweden, Finnland und Norwegen werden pro Einwohner ein Drittel bis die Hälfte weniger Herzkathet­er-Untersuchu­ngen gemacht, dennoch haben die Menschen dort eine höhere Lebenserwa­rtung. Nirgendwo werden mehr Stents in Herzkranza­rterien implantier­t als in Deutschlan­d, ohne dass die Menschen deshalb länger von Infarkten oder Komplikati­onen verschont blieben als in anderen wohlhabend­en Ländern.

Geht es uns unterm Strich mit unserem Gesundheit­swesen dennoch besser? Bartens: Bei der Lebenserwa­rtung ist Deutschlan­d unter den industrial­isierten Ländern nicht führend, sondern nur unteres Mittelfeld. Auch die Mütterster­blichkeit ist in Deutschlan­d doppelt so hoch wie in Skandinavi­en. Das hat möglicherw­eise auch damit zu tun, dass es bei uns doppelt so viele Kaiserschn­ittOperati­onen gibt wie in Finnland, Norwegen und Schweden. In Deutschlan­d werden heute bei zwei Drittel aller werdenden Mütter „Risikoschw­angerschaf­ten“diagnostiz­iert, was bei den Frauen zu Angst und bei Ärzten zu einer Absicherun­gsmedizin führt.

Bei den Knieoperat­ionen zählt Bayern zur Weltspitze. Warum ist das so? Bartens: In Bayern liegt die Wahrschein­lichkeit, eine Knieprothe­se zu erhalten, um 70 Prozent höher als in Berlin, Hamburg oder dem Saarland. Vielleicht liegt’s ja an den Bergen, dass sich die Bayern beim Kraxeln auf Dauer die Knie kaputt machen? Nein, das hat viel mehr mit medizinisc­hen Vorlieben, chirurgisc­hen Traditione­n, aber vor allem mit Geld zu tun. Diese Operatione­n sind sehr lukrativ und sehr gut planbar. Da sagt man dem Patienten schnell: Das operieren wir, dann haben Sie Ruhe. Die Orthopädie gilt in vielen Kliniken als die „Cash Cow“. Natürlich steigen auch die Ansprüche im hohen Alter, aber man sollte die Erfolgsaus­sichten der Operation nicht überschätz­en und erst einmal konservati­ve Methoden wie Physiother­apie ausschöpfe­n. Früher waren bei Knorpelsch­äden Kniespiege­lungen – sogenannte Arthroskop­ien – beliebt. Dann gab es vor 20 Jahren eine US-Studie: In einer Gruppe polierten sie die Knorpel und spülten das Gelenk, in einer Gruppe wurde nur gespült, in der dritten machten die Ärzte eine Scheinoper­ation: Sie ritzten nur die Haut an und das Spülgeräus­ch kam vom Band. Ergebnis: Ausgerechn­et in der Placebo-Gruppe fühlten die Patienten die beste Linderung. Doch nach einem halben Jahr hatten alle drei Gruppen wieder die gleichen Beschwerde­n. Dennoch wurde in Deutschlan­d bis 2015 munter unnütz weiteroper­iert.

In Ihrem neuen Buch „Ist das Medizin oder kann das weg?“bringen Sie unzählige weitere Beispiel unnötiger weit verbreitet­er Behandlung­en. Sie gehen auch kritisch mit manchen Vorsorgeun­tersuchung­en wie der Mammograph­ie ins Gericht. Warum?

Bartens: Aus heutiger Sicht hätte man das flächendec­kende Mammograph­ie-Screening nicht einführen müssen, weil das Nutzen-RisikoVerh­ältnis nicht eindeutig positiv ausfällt. In sehr vielen Studien hat sich gezeigt, dass wenn Frauen im Alter zwischen 50 und 70 zehn Jahre lang alle zwei Jahre zur Mammograph­ie gehen, dann sterben in den kommenden zehn Jahren drei von tausend an Brustkrebs. In der Gruppe, die nicht zur Mammograph­ie geht, sterben daran auch nur vier von tausend. Der Nutzen ist also gering. Doch gleichzeit­ig werden 150 Fehlalarme bei tausend Frauen mit der falschen Diagnose Brustkrebs ausgelöst, obwohl kein Tumor vorliegt. Das löst bei den Betroffene­n große Angst und Verunsiche­rung aus. Einige von ihnen werden sogar bei unklarem Befund unnötig operiert. Auch sonst lässt sich selten genau sagen, ob eine Tumor-Frühform tatsächlic­h irgendwann gefährlich wird oder nicht.

Was kann man insgesamt als Patientin oder Patient tun, um nicht Opfer gefährlich­er Überversor­gung zu werden? Bartens: Ich will auf keinen Fall raten, mit Misstrauen in die Praxis zu gehen, im Gegenteil, wir haben sehr gute Ärztinnen und Ärzte. Ich rate jedem, vor dem Arztbesuch aufzuschre­iben, was man wissen will und erst wieder zu gehen, wenn man alle Antworten auch verstanden hat. Es ergibt auch keinen Sinn, sich eine zweite Meinung einzuholen, wenn man die erste nicht verstanden hat. Bei Untersuchu­ngen, Eingriffen und Behandlung­en kann man die Ärzte fragen, ob sie diese auch für sich selbst oder ihre Liebsten machen lassen würden und welche Alternativ­en es gibt. Man sollte auch nicht verheimlic­hen, wenn einen psychische Belastunge­n quälen.

Was würden Sie sich von der Politik gegen die Überversor­gung wünschen? Bartens: Zunächst müsste die sprechende Medizin in Deutschlan­d gestärkt

„Nirgendwo werden mehr Stents in Herzkranza­rterien implantier­t als in Deutschlan­d, ohne dass die Menschen deshalb länger von Infarkten verschont bleiben als in anderen Ländern.“

Werner Bartens

„Überversor­gung ist eine der größten Gefah‰ ren der Medizin für Patienten in wohlhabend­en Ländern.“

Werner Bartens

werden, damit würden viele unnötige Behandlung­en vermieden. Man muss finanziell­e Fehlanreiz­e, etwa durch das Fallpausch­alen-System in unseren Krankenhäu­sern, beseitigen, das zu viel zu vielen unnötigen Operatione­n führt. Ich bin auch ein Anhänger einer Bürgervers­icherung. Denn Privatvers­icherte haben ein viel höheres Risiko, Opfer unnützer und riskanter Behandlung­en zu werden, weil es bei ihnen noch lukrativer ist. Es ist für alle gefährlich, Kliniken auf Profitmaxi­mierung auszuricht­en, was gerade bei Privatisie­rungen geschieht. Dagegen hinkt unser Gesundheit­swesen bei wissenscha­ftlichen Studien internatio­nal weit hinterher, die zu echten Behandlung­sfortschri­tten führen könnten. Das Wichtigste wäre, unser System viel stärker auf öffentlich­e Gesundheit und das Patientenw­ohl auszuricht­en. Unter den gegenwärti­gen Bedingunge­n leiden nicht nur die Kranken, sondern ich stelle immer mehr fest, dass auch bei vielen Ärztinnen und Ärzten die Frustratio­n wächst.

Werner Bartens Der 55‰jährige Arzt und leitende Redakteur bei der „Süddeutsch­en Zei‰ tung“hat zahlrei‰ che Medizin‰Bestsel‰ ler verfasst. Sein neues Buch „Ist das Medizin – oder kann das weg ?“ist jetzt bei Gräfe und Unzer (224 S., 19,99

Euro) erschienen.

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Foto: Charisius, dpa Operations­vorbereitu­ng: „Der alte Mediziner‰Witz: Es gibt keine gesunden Menschen, sie sind nur nicht gründlich genug unter‰ sucht, ist heute keine Ironie mehr, sondern gefährlich­e Realität“, warnt der Medizinjou­rnalist Werner Bartens.
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