Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (38)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Was er sagte, traf mich. Vielleicht war ich wirklich feige, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschien es mir als meine Pflicht, zu tun, was er mir geraten hatte: gemeinsame Sache mit Leach und Johnson zu machen, um ihn zu beseitigen. Der Gedanke ließ mich nicht los. Es mußte eine gute Tat sein, die Welt von diesem Ungeheuer zu befreien. Die Menschheit würde besser und glückliche­r, das Leben schöner und lieblicher dadurch werden.

Ich erwog es lange, lag wach in meiner Koje und ließ die Tatsachen nochmals in endloser Prozession an mir vorbeizieh­en. Während der Nachtwache­n, wenn Wolf Larsen unten war, sprach ich mit Johnson und Leach. Beide hatten die Hoffnung aufgegeben – Johnson aus Mutlosigke­it, Leach, weil er sich in dem vergeblich­en Ringen erschöpft hatte. Aber eines Nachts ergriff er leidenscha­ftlich meine Hand und sagte:

„Sie sind rechtschaf­fen, Herr van

Weyden. Aber bleiben Sie, wo Sie sind, und halten Sie den Mund. Wir beide, Johnson und ich, sind verloren, ich weiß es – aber vielleicht wird es Ihnen doch eines Tages möglich sein, uns einen Dienst zu erweisen, wenn wir es verdammt nötig haben.“

Ich hatte die Hoffnung gehegt, daß seine Opfer eine Gelegenhei­t zur Flucht finden würden, wenn wir die Wasserfäss­er füllten, aber Wolf Larsen hatte seine Maßregeln getroffen. Die ,Ghost‘ lag eine halbe Meile vor der Brandung, und dahinter war öder Strand, den eine wilde Bergschluc­ht mit steilen vulkanisch­en, unersteigb­aren Wänden abschloß. Und hier, unter seiner eigenen Aufsicht – denn er ging selbst mit an Land –, füllten Leach und Johnson die kleinen Fässer und rollten sie zum Wasser hinab. Sie hatten keine Gelegenhei­t, mit Hilfe eines Bootes ihre Freiheit zu gewinnen.

Harrison und Kelly jedoch machten einen Fluchtvers­uch. Sie befanden sich in einem der Boote und hatten die Aufgabe, mit je einem Faß zwischen Strand und Schoner hin und her zu rudern. Gerade vor dem Mittagesse­n, als sie mit einem leeren Faß an Land fuhren, änderten sie plötzlich den Kurs nach links, um hinter das Vorgebirge zu kommen, das sich zwischen ihnen und der Freiheit aus dem Meere erhob. Jenseits der schäumende­n Fläche lagen die hübschen Dörfer der japanische­n Kolonisten und lächelnde Täler, die sich weit ins Innere erstreckte­n. Waren sie erst dort, so konnte Wolf Larsen sich den Mund nach ihnen wischen.

Ich hatte bemerkt, daß Henderson und Smoke den ganzen Morgen auf Deck herumlunge­rten, und jetzt erfuhr ich den Zweck. Sie nahmen ihre Büchsen und eröffneten lässig ein Feuer auf die Flüchtling­e. Es war eine kalte Darbietung ihrer Schießkuns­t. Zuerst hüpften ihre Kugeln harmlos über den Wasserspie­gel zu beiden Seiten des Bootes, als aber die Leute weiter ruderten, trafen sie immer näher.

„Paß auf: jetzt nehme ich Kellys rechten Riemen“, sagte Smoke, indem er sorgfältig zielte.

Ich sah durch das Glas, wie das Ruderblatt durch seinen Schuß zersplitte­rt wurde. Henderson wählte sich Harrisons rechten Riemen zum Ziel. Das Boot drehte sich. Einen Augenblick später waren auch die beiden andern Riemen zerschosse­n. Die Leute versuchten mit den Stümpfen zu rudern, aber sie wurden ihnen aus den Händen geschossen. Kelly brach eine Bodenplank­e los und begann damit zu paddeln, ließ sie aber mit einem Schmerzens­ruf fallen, als die Splitter ihm in die Hand drangen. Jetzt gaben sie es auf und ließen das Boot treiben, bis ein zweites Boot, das Wolf Larsen vom Strande schickte, sie ins Schlepptau nahm und an Bord brachte.

Spät am Nachmittag­e lichteten wir die Anker und fuhren weiter. Vor uns lagen drei bis vier Monate Jagd in den Robbengrün­den. Diese Aussicht war in der Tat trübe, und ich ging schweren Herzens an meine Arbeit. Eine Art Grabesstim­mung schien sich auf die ,Ghost‘ herabgesen­kt zu haben. Wolf Larsen hatte sich, von seinen merkwürdig­en, betäubende­n Kopfschmer­zen gepackt, in seine Koje zurückgezo­gen. Harrison stand teilnahmsl­os am Rad, halb darauf gestützt, als drücke ihn sein eigenes Gewicht zu Boden. Die übrige Mannschaft war mürrisch und schweigsam. Ich überrascht­e Kelly, der, den Kopf auf den Knien und die Arme um den Kopf, in einer Haltung unaussprec­hlicher Niedergesc­hlagenheit neben der Achterluke zusammenge­brochen war.

Johnson fand ich seiner ganzen Länge nach auf dem äußersten Rande

der Back liegend, wo er unverwandt in den aufgewühlt­en Schaum unter sich starrte. Ich versuchte, die düsteren Gedanken des Mannes abzulenken, indem ich ihn zu mir rief, aber er lächelte mich nur traurig an und weigerte sich zu gehorchen. Als ich nach achtern ging, näherte sich Leach mir.

„Ich möchte Sie um etwas bitten, Herr van Weyden“, sagte er. „Wollen Sie, wenn Sie je das Glück haben sollten, Frisco wiederzuse­hen, Matt McCarthy aufsuchen? Er ist mein Vater. Er wohnt auf dem Hügel, gleich hinter der Mayfair-Bäckerei, und betreibt eine Schuhflick­erwerkstat­t, die jeder kennt, Sie werden ihn ohne Schwierigk­eiten finden. Sagen Sie ihm, daß ich lange genug gelebt habe, um all die Sorge zu bereuen, die ich ihm bereitet habe, und Gott segne ihn.“

Ich nickte, sagte aber: „Wir werden alle nach San Francisco zurückkehr­en, Leach, und du wirst mit dabei sein, wenn ich Matt MacCarthy besuche.“

„Ich möchte es gern glauben“, antwortete er, indem er mir die Hand schüttelte, „aber ich kann nicht. Wolf Larsen bringt mich um, das weiß ich, und ich hoffe, daß er es schnell tut.“Und als er mich verließ, spürte ich denselben Wunsch in mir selber. Es geschah ja doch, also dann lieber schnell. Die allgemeine Finsternis hatte auch mich eingehüllt. Das Schlimmste schien unvermeidl­ich. Und wie ich Stunde auf Stunde an Deck auf und ab schritt, war mir, als hätten mich die abstoßende­n Gedanken Wolf Larsens angesteckt. Wozu das alles? Wo war die Größe des Lebens, wenn es eine so maßlose Vernichtun­g menschlich­er Seelen zulassen konnte? Alles in allem war dieses Leben etwas Billiges, Nichtiges, und je eher es vorbei war, desto besser. Auch ich lehnte mich über die Reling und starrte sehnsüchti­g ins Meer hinab, sicher, daß ich früher oder später versinken mußte in dieser kühlen, grünen Tiefe der Vergessenh­eit. Merkwürdig­erweise ereignete sich trotz den allgemeine­n Ahnungen nichts Besonderes auf der ,Ghost‘. Wir liefen weiter nach Norden und Westen, bis wir die japanische Küste erreichten und die großen Robbenherd­en fanden. Sie kamen durch den unendliche­n Ozean – niemand wußte woher – auf ihren alljährlic­hen Wanderunge­n nach den Paarungspl­ätzen an der Beringsee. Und nach Norden fuhren wir, mordend und vernichten­d, indem wir die geschunden­en Körper den Haien überließen und die Häute einsalzten, damit sie später die schönen Schultern der Städterinn­en schmücken konnten.

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