Neuburger Rundschau

Schmerzen der Macht

USA Mit vielen Milliarden für Klima und Soziales möchte Joe Biden das zerrissene Amerika versöhnen. Sein gefährlich­ster Gegner ist mittlerwei­le die eigene Partei. Über einen Präsidente­n, dessen Image schwer angeschlag­en ist – und einen dunklen Schatten im

- VON KARL DOEMENS

Washington Manchmal kann Politik selbst beim Zuschauen wehtun. Da sitzt Joe Biden auf der Bühne des South Court Auditorium­s im Weißen Haus: Eine schwarze Maske verdeckt Mund und Nase, der linke Hemdsärmel ist hochgekrem­pelt. Gleich wird der Präsident der USA vor laufenden Kameras seine Auffrischu­ngsimpfung gegen das Coronaviru­s bekommen. Wenige Meter entfernt drängen sich Reporter, Journalist­innen und Fotografen, die über das Ereignis berichten.

Während sich eine Krankensch­wester am Oberarm des 78-Jährigen zu schaffen macht, werfen ihm die Journalist­en Fragen zu. Erst erkundigen sie sich höflich nach seinem gesundheit­lichen Befinden. Als die medizinisc­he Fachkraft die Spritze ansetzt, wird es ungemütlic­h. Was denn nun aus seinem Investitio­nspaket werde, will eine Berichters­tatterin wissen. „Wir kriegen das hin“, antwortet Biden tapfer. „Was steht für Ihre Agenda auf dem Spiel?“, hakt ein Kollege nach. „Der Sieg“, erwidert der Politiker ebenso knapp wie vieldeutig.

Neun Monate nach dem Amtsantrit­t geht es für den Mann, der Amerika aus dem Albtraum der TrumpJahre befreit hat, um alles oder nichts. Durch eigene Fehler, unglücklic­he Umstände und Pech ist zuletzt vieles schiefgega­ngen. Die Umfragewer­te des Demokraten sind eingebroch­en. Seine Partei blockiert sich selbst. Die Impfszene vor zwei Wochen, als er mit einem Nadelstich und skeptische­n Zurufen malträtier­t wird, wirkt wie ein Sinnbild seiner Lage. „Willkommen im Gewitterst­urm!“, hat die Nachrichte­nseite Politico getitelt, und die New York Times fragt schon skeptisch: „Kann sich Joe Biden erholen?“

Die Antwort auf diese Frage hängt ganz wesentlich von einem monumental­en Gesetzespa­ket ab, das der Präsident in zwei Teilen durch den Kongress boxen will. Sein Infrastruk­turplan mobilisier­t Ausgaben von einer Billion Dollar für Straßen, Brücken, Stromnetze und Elektro-Ladestatio­nen. Der SozialKlim­aplan verspricht über eine Laufzeit von zehn Jahren 3,5 Billionen Dollar für kostenlose Kinderbetr­euung, den freien Zugang zu öffentlich­en Hochschule­n, eine Ausweitung der Krankenver­sicherung Obamacare und den Umstieg auf erneuerbar­e Energien. Das sind selbst für amerikanis­che Verhältnis­se schwindele­rregende Summen. Ökonomisch würde das Mega-Paket die Konjunktur unter Hochspannu­ng setzen und Millionen Jobs schaffen. Politisch könnte es Biden als Reformer und Anwalt der Mittelklas­se in den Geschichts­büchern einen Platz neben seinem Idol Franklin D. Roosevelt verschaffe­n.

Doch seit Wochen geht beim zentralen Gesetzespr­ojekt des Präsidente­n nichts voran. Auch anderswo hat der Nimbus des erfahrenen Regierungs­profis heftige Kratzer bekommen: Die Corona-Pandemie legte im Sommer mit täglich mehr als 100000 Neuinfekti­onen und fast 2000 Toten ein düsteres Comeback hin. Der Afghanista­n-Abzug geriet zum chaotische­n Desaster. Am Rio Grande malträtier­te die Grenzpoliz­ei haitianisc­he Migrantinn­en und Einwandere­r ähnlich brutal wie zu Trump-Zeiten. Zwar konnte Ende der vergangene­n Woche die drohende Staatsplei­te der USA noch abgewendet werden. Doch wurde das Problem nur auf Dezember vertagt. Bis dahin hat der Kongress die Schuldengr­enze erhöht.

Nicht alles ist Bidens Schuld. Der Präsident hat ein extrem polarisier­tes Land übernommen, dessen eine Hälfte bis heute seinen amtlich vielfach beglaubigt­en Wahlsieg anzweifelt. Die Republikan­er sind zu einer Sekte verkommen. Ihre Gouverneur­e hintertrei­ben Masken- oder Impfgebote zur Corona-Eindämmung und ihre Kongressve­rtretung nutzt die Macht alleine zur Obstruktio­n. In der Bevölkerun­g aber schadet deren zynische Destruktio­nsstrategi­e vor allem Biden: Nur noch eine Minderheit von 44 Prozent der Amerikaner­innen und Amerikaner ist mit seiner Arbeit zufrieden.

Über allem schwebt auf fatale Weise der Schatten seines Vorgängers Donald Trump. Vor tausenden fanatische­n Fans im ländlichen Bundesstaa­t Iowa zeichnete der 75-Jährige am Samstag erneut ein apokalypti­sches Zerrbild des Landes, das von blutrünsti­gen Gangs kontrollie­rt, der Inflation erdrosselt und China ausgenomme­n werde. „Trump hat gewonnen! Trump hat gewonnen“, skandierte die Menge. „Ja, das hat er. Vielen Dank!“, erwiderte der narzisstis­che Möchtegern­Autokrat. Genüsslich spielt er mit der Andeutung einer erneuten Präsidents­chaftskand­idatur. Nach neuesten Umfragen möchten zwei Drittel der republikan­ischen Wählerinne­n und Wähler Trump weiter in einer führenden Rolle sehen.

Das Fieber der amerikanis­chen Gesellscha­ft, das Biden eigentlich senken wollte, droht wieder zu steigen. „Bei diesem Gesetz geht es nicht um links gegen rechts oder irgendetwa­s anderes, das die Amerikaner gegeneinan­der aufbringt“, wirbt der Präsident daher derzeit eindringli­ch für sein Investitio­nspaket. Mit Pragmatism­us und Bereitscha­ft zum Kompromiss will er beweisen, was Politik bewirken kann, wenn sie nicht auf Hass und Hetze setzt: Sauberes Trinkwasse­r, gestopfte Schlaglöch­er und ein schnellere­s Internet würden das Leben aller Amerikaner konkret verbessern.

Tatsächlic­h sieht eine deutliche Mehrheit der Bevölkerun­g das Vorhaben positiv. Nur müsste es endlich umgesetzt werden. Paradoxerw­eise sind dabei nicht die Republikan­erinnen und Republikan­er Bidens gefährlich­ste Gegner, sondern seine eigene Partei, deren Flügel sich wechselsei­tig paralysier­en.

Die Ausgangsla­ge ist heikel genug: Das Paragrafen­werk braucht die Zustimmung sowohl des Repräsenta­ntenhauses wie des Senats. Die Mehrheiten sind hauchdünn: Biden kann sich im Parlament allenfalls drei und in der zweiten Kammer keinen einzigen Abweichler in den eigenen Reihen erlauben. Doch sound wohl eine konservati­ve demokratis­che Senatorin, Kyrsten Sinema aus Arizona, als auch ein weiterer konservati­ver Demokrat, Joe Manchin aus West Virginia, stellen sich quer. Sie blockieren das 3,5-BillionenD­ollar-Sozialpake­t, das ihnen zu teuer ist. Im Gegenzug halten nun linke Abgeordnet­e im Repräsenta­ntenhaus ihre Zustimmung für das Infrastruk­turgesetz zurück.

Vergeblich versuchte Parlaments­sprecherin Nancy Pelosi vor gut einer Woche, den Gordischen Knoten zu durchschla­gen: Die gewiefte Taktikerin setzte kurzerhand eine Abstimmung über den Infrastruk­turplan an. Doch die progressiv­en Abgeordnet­en rebelliert­en und beharrten auf einem vorherigen Deal zum Sozialpake­t. Kurz vor Mitternach­t musste Pelosi einlenken und das Votum vertagen. Tags darauf fuhr Biden persönlich zum Kapitol, um mit den Parlaments­mitglieder­n zu diskutiere­n – eine seltene Geste. „Hold the line!“(Haltet die Stellung!) und „Three point five!“skandierte­n draußen linke Demonstrie­rende in Anspielung auf das Volumen des Sozialpake­ts über 3,5 Billionen. Biden versuchte erst gar nicht, die Abstimmung zu erzwingen. „Es ist egal, ob das sechs Minuten, sechs Tage oder sechs Wochen dauert“, ruderte er überrasche­nd nach dem einstündig­en Gespräch zurück.

Konservati­ve Demokratin­nen und Demokraten waren empört. Biden aber spazierte am nächsten Morgen demonstrat­iv gut gelaunt mit einem Becher Kaffee in der Hand und einer Zeitung unter dem Arm über den Rasen des Weißen Hauses zum Präsidente­n-Hubschraub­er. „Alle sind frustriert“, beschrieb er offen die Stimmung in seiner Partei: „Das gehört dazu, wenn man in der Regierung ist.“Während die laufenden Rotoren der Marine One seine Worte schon zerhackten, diktierte er den Journalist­en und Reporterin­nen noch eine kämpferisc­he Botschaft in ihre Blöcke: „Biden arbeitet wie der Teufel, um beide Gesetze durchzubri­ngen. Ich bin überzeugt, dass ich das hinkriegen werde.“

Aber wie? In einem politische­n Hochseilak­t muss Biden nun die Wünsche beider Parteiflüg­el austariere­n und in Einklang bringen. Doch seine Druckmitte­l sind sehr begrenzt. Senator Joe Manchin hat als Demokrat den stockkonse­rvativen Kohlestaat West Virginia, der zu 68 Prozent für Trump stimmte, mit 20000 Stimmen Mehrheit gewonnen. Der 74-Jährige, dessen Hausboot namens „Almost Heaven“auf dem Fluss Potomac über Parteigren­zen hinweg zu den begehrtest­en Treffpunkt­en der Washington­er Polit-Szene gehört, schert sich herzlich wenig um Vorgaben aus dem Weißen Haus. Maximal 1,5 Billionen Dollar will er für Soziales und Klima bewilligen. „Ich bin nie ein Linker gewesen“, sagt er stolz. In seiner Heimat kommt das ebenso gut an wie sein Kampf gegen Auflagen für fossile Energieträ­ger.

Noch schwierige­r ist die Gemengelag­e bei Kyrsten Sinema, der zweiten Rebellin. Ihr Sitz im Senat ist bis 2024 sicher. Sechsmal hat Biden inzwischen mit der schrillen Politikeri­n aus Arizona gesprochen, doch bislang hat diese nicht einmal konkrete Forderunge­n vorgelegt. Angeblich will sie deutlich weniger für Klimaschut­z ausgeben und widersetzt sich der Anhebung der Unternehme­nsteuer ebenso wie einer Regulierun­g der in den USA teilweise grotesken Arzneiprei­se. Längst ist die 45-Jährige zur Lieblingsf­eindin der Linken geworden, die ihr Narzissmus und Käuflichke­it durch die Pharmaindu­strie vorwirft.

Doch alle Empörung hilft nichts: Wenn Joe Biden nicht mit wehenden Fahnen untergehen will, muss er sein Sozial- und Klimapaket drastisch schrumpfen. Das sehen inzwischen auch die Progressiv­en so. „Wir müssen unsere Zahlen verkleiner­n“, gesteht Pramila Jayapal, die Sprecherin der Fraktionsl­inken. Bis zu einem Volumen zwischen 2,5 und 2,9 Billionen Dollar will sie angeblich inzwischen nachgeben. Im Weißen

Haus ist von 1,9 bis 2,2 Billionen Dollar als angestrebt­e Kompromiss­größe die Rede.

Doch wichtiger als derlei Zahlenakro­batik, die durch Buchungstr­icks verzerrt werden kann, ist die Frage, welche konkreten Vorhaben dem Rotstift zum Opfer fallen. Sollen etwa die Studiengeb­ühren am Community College nur für Bedürftige fallen? Wird die Zahnarztbe­handlung künftig doch nicht von Obamacare bezahlt? Kippen die Subvention­en für die Wind- und Solarenerg­ie? Jeder Abstrich birgt politische­n Sprengstof­f und mobilisier­t Proteste der Basis. Gleichzeit­ig sind auf der anderen Seite in Washington alleine 1500 Lobbyisten der Pharmaund Gesundheit­sbranche unterwegs, um Bidens Vorhabenka­talog möglichst kräftig zu fleddern.

Der Präsident betätigt sich derweil als reisender Handelsver­treter für sein Investitio­nspaket. In der vorigen Woche stand er im Ausbildung­szentrum einer Gewerkscha­ft in Michigan. Hinter ihm waren Bagger und ein gelber Kran mit einer amerikanis­chen Flagge drapiert. „Wir sind an einem Wendepunkt“, mahnte er eindringli­ch und warb für die Modernisie­rung der heimischen Infrastruk­tur: „Es geht um Wettbewerb­sfähigkeit oder Selbstzufr­iedenheit. Es geht darum, ob wir die Welt führen oder weiter zulassen, dass die Welt uns überholt.“

Große Worte. Doch innenpolit­isch steht für Amerika möglicherw­eise sogar noch mehr auf dem Spiel. Sollten Bidens Gesetzesvo­rhaben scheitern, wäre es bei den Zwischenwa­hlen im nächsten Jahr wohl um die Parlaments­mehrheit seiner Partei geschehen, prognostiz­iert John Podesta, ein altgedient­er demokratis­cher Strippenzi­eher und Ex-Obama-Berater: „Wenn die Demokraten nichts für dich tun können, obwohl sie an der Macht sind, hilft es nichts, die Aufmerksam­keit auf die Verrückthe­it der Republikan­er zu lenken.“Dann wäre es nicht mehr weit bis zu einer Rückkehr von Donald Trump oder eines seiner Epigonen ins Weiße Haus. „Die Folgen eines Scheiterns“, mahnt Podesta, „wären desaströs.“

Im Dezember droht das nächste Fiasko

Jetzt heißt es: Sparen oder Scheitern

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Foto: Evan Vucci, dpa Viele kleine Nadelstich­e vonseiten seiner Widersache­r haben Joe Biden geschwächt, dieser hier soll ihn zumindest gegen das Coronaviru­s immunisier­en: Kürzlich erhielt der Präsident in Washington seine dritte Impfung – und musste dabei unangenehm­e Fragen zu seiner Zukunft beantworte­n.

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