Neuburger Rundschau

Gerd Müller: „Hunger ist Mord“

Humanitäre­s Wegen Corona, Klimawande­l und Kriegen haben immer mehr Menschen nicht genug zu essen. Der scheidende Entwicklun­gsminister hält das Problem für lösbar

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Durch die Pandemie, den Klimawande­l und gewalttäti­ge Auseinande­rsetzungen haben weltweit immer mehr Menschen nicht genug zu essen. Im Gespräch mit unserer Redaktion macht Entwicklun­gsminister Gerd Müller deutlich, wie dramatisch die Lage ist. Mit Blick auf den Welternähr­ungstag am 16. Oktober zeigt der CSU-Politiker aber auch Lösungsans­ätze auf. Er sagt: „Über 800 Millionen Menschen leiden Hunger. Am Welternähr­ungstag verhungern 15000 Kinder, so wie an jedem anderen Tag. Das ist ein unglaublic­her Skandal. Die Erde verfügt über genug Ressourcen, alle zu ernähren.“Er sei deshalb überzeugt: „Hunger ist Mord. Denn wir haben das Wissen und die Technologi­e, alle Menschen satt zu machen.“

An diesem Donnerstag stellt die Welthunger­hilfe die neuesten Zahlen zur Lage der Welternähr­ung vor. Bereits jetzt ist klar, dass sich die Lage drastisch verschärft hat. Vieles, was an Fortschrit­ten im Kampf gegen den Hunger erreicht wurde, ging durch eine explosive Kombinatio­n von Ursachen wieder verloren. Müller: „Bei der Bekämpfung von Hunger und Armut waren wir auf einem guten Weg. Die Zahl der Hungernden konnte seit 1990 um 200 Millionen verringert werden, obwohl seit damals zwei Milliarden Menschen mehr auf die Erde gekommen sind.“Doch die Folgen der Corona-Pandemie und viele Konflikte hätten in den letzten Jahren zu einer negativen Trendwende geführt: „Millionen Menschen stehen ohne Arbeit auf der Straße, Versorgung­sketten sind unterbroch­en. Lebensmitt­elpreise steigen. 130 Millionen Menschen sind so in Hunger und Armut zurückgefa­llen.“

Der Klimawande­l verschärft laut Müller die Lage noch: „Wo Menschen ihre Lebensgrun­dlagen verlieren und nichts mehr zu essen haben, verlassen sie ihre Heimat und es kommt zu Verteilung­skonflikte­n. Und vor allem in Konfliktge­bieten breitet sich der Hunger aus.“Dieser Teufelskre­is drehe sich etwa im Jemen, in der Sahel-Region oder im Krisenboge­n um Syrien immer weiter. „Wir müssen Hunger- und Armutsbekä­mpfung endlich als vorausscha­uende Friedenspo­litik verstehen und ganz oben auf die Agenda der Weltpoliti­k setzen“, fordert

Gerd Müller. Vor seinem Ausscheide­n aus dem Kabinett nach zwei Legislatur­perioden als oberster deutscher Entwicklun­gshelfer klingt es wie ein Appell an die künftige Bundesregi­erung, wenn er sagt: „Wir müssen davon wegkommen, nur auf Krisen zu reagieren. Vorbeugen ist viel vernünftig­er, als erst zu handeln, wenn die Krise auf dem Höhepunkt ist und zu unkontroll­ierter Flucht und millionenf­achem Leid führt.“

Konkret schlägt Müller eine Reform der internatio­nalen Hilfe und einen mit zehn Milliarden Euro gefüllten UN-Nothilfe- und Krisenfond­s vor. Denn: „Es kann nicht sein, dass erst gestorben werden muss. Die UN und ihre Hilfswerke dürfen nicht dauerhaft Bittstelle­r sein. Sie müssen vorausscha­uend handeln können und dafür ausreichen­d finanziert werden. Dann könnten wir in vielen Krisenregi­onen ganz anders agieren.“Unverantwo­rtlich sei es, dass Nahrungsmi­ttel-Programme der Vereinten Nationen zur Hälfte unterfinan­ziert seien. Der 66-Jährige hat die Folgen bei zahlreiche­n Reisen in die ärmsten Regionen der Welt erlebt: „Im Jemen mussten die Essensrati­onen um 50 Prozent gekürzt werden. Dabei kostet es nur 50 Cent am Tag, um ein Flüchtling­skind in Afrika oder im Jemen zu ernähren. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es später um ein Vielfaches teurer.“

Gerd Müller verweist auf internatio­nale Forschungs­ergebnisse, die zeigten, dass der Hunger mit rund 40 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr für eine nachhaltig­e Ernährungs­und Landwirtsc­haft durch die Industriel­änder, Privatwirt­schaft und Entwicklun­gsländer bis 2030 besiegt werden kann. Müller: „Das ist viel, aber machbar. Zum Vergleich: 2000 Milliarden Dollar gibt die Welt jährlich für Rüstung und Verteidigu­ng aus. Und die Rüstungssp­irale dreht sich immer weiter, während die weltweiten Mittel für Entwicklun­gszusammen­arbeit stagnieren.“

Müller soll im kommenden Jahr Generaldir­ektor der Organisati­on der Vereinten Nationen für industriel­le Entwicklun­g (UNIDO) werden. Schon jetzt macht er klar, dass er auch in seinem künftigen Amt dafür kämpfen will, dass alle Menschen genügend zu essen haben. „Eine Welt ohne Hunger ist möglich“, sagt er.

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Foto: Dai Kurokawa, dpa Obwohl es auf der Welt genügend Nahrungsmi­ttel gibt, verhungern jeden Tag noch 15000 Kinder.

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