Auf Eskalationskurs
Handel Der Streit zwischen der EU und Großbritannien um das Nordirland-Protokoll verschärft sich. London will Teile des Abkommens neu verhandeln. In Brüssel legt man nun einen Kompromissangebot vor
Brüssel Es war wieder einmal die britische Regierung, die vorlegte im Dauerstreit mit der Europäischen Union. Wie gewohnt in der BrexitSaga passierte das in scharfem Ton und auf allen Kanälen. Der britische EU-Minister Lord David Frost hatte die Medien auf der Insel bereits am Wochenende mit Drohungen versorgt, gerichtet an den Partner auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Am Dienstag schoss er dann mit einer Rede verbal aus Lissabon gen Kontinent – und stellte das Königreich als Opfer der Unnachgiebigkeit der Staatengemeinschaft dar. Die EU solle keinen „historischen Fehler begehen“, warnte er.
In Brüssel, wo der Geduldsfaden nach jahrelangen Querelen beim Thema Brexit ohnehin äußerst dünn ist, herrscht eine Stimmung, die man getrost als schlecht bezeichnen darf. Man ist vollends genervt. Denn Frost hatte in seiner Ansprache von der EU gefordert, das vor nicht einmal zwei Jahren ausgehandelte Nordirland-Protokoll aufzukündigen und durch eine neue Vereinbarung zu ersetzen. Es funktioniere nicht, urteilte der Konservative. Er vergaß dabei zu erwähnen, dass es eben diese Regierung war, die den Vertrag nicht nur ausgehandelt und an Heiligabend 2019 unterzeichnet, sondern geradezu bejubelt und triumphierend als großen Sieg über die EU verkauft hatte. Nun drohte Frost, das Abkommen durch einen Notfallmechanismus teilweise außer Kraft zu setzen.
Am Mittwoch versuchte die EUKommission, mit einem Kompromissvorschlag den Konflikt zu entschärfen. Vizepräsident Maros Sefcovic präsentierte am Abend ein Maßnahmenpaket, wie die Zollbürokratie für britische Firmen minimiert werden kann. „Wir haben unsere Regeln auf den Kopf gestellt und auf links gedreht, um eine stabile Lösung für eine außergewöhnliche Herausforderung zu finden“, sagte der Brexit-Beauftragte. Es geht weiterhin um die ehemalige Bürgerkriegsregion, die seit Jahren als Zankapfel herhalten muss.
Mit dem im Brexit-Abkommen vereinbarten Nordirland-Protokoll hatten London und Brüssel eine Lösung gefunden, um sichtbare Kontrollen an der Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland zu verhindern. Die notwendige Zollgrenze wurde in die Irische See verlegt. Damit gehört der nördliche Landesteil de facto weiterhin
zum EU-Binnenmarkt, sodass Warentransporte, etwa bei der Lieferung von Fleischprodukten wie Würstchen, Hackfleisch, Lammsteaks und Hühnerschlegeln, aus Großbritannien in die Provinz zum Teil kontrolliert werden müssen.
Inakzeptabler Umstand für London. Eine logische Folge des Brexit für Brüssel. Bis jetzt. Zu den Ideen von Sefcovic gehört, Ausnahmen für einzelne Produkte, etwa bestimmte Lebensmittel und Medikamente, zu machen, um so die Schwierigkeiten im Handelsverkehr auf der Insel zu mindern. Für bestimmte Warengruppen sollen demnach voraussichtlich 80 Prozent der Kontrollen
wegfallen. Damit könnte der sogenannte „Würstchen-Krieg“ein Ende haben. Zudem soll der Bürokratieaufwand reduziert werden. Derweil schloss er eine grundsätzliche Neuverhandlung des Protokolls aus und bestand weiterhin auf die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als Instanz für die Überwachung der Protokollregeln.
Ob die Erleichterungen von Seiten der EU für Zufriedenheit in Großbritannien sorgen werden, darf bezweifelt werden, insbesondere hinsichtlich des EuGHs. BrexitHardliner feiern vielmehr den Konfrontationskurs von Frost. Und der scheint sogar auf Eskalation aus.
Man habe Nordirland zugehört, meinte Irlands Außenminister Simon Coveney. „Ich hoffe, dass heute ein Tag sein kann, um die Beziehungen zu nordirischen Unternehmen und der unionistischen Gemeinde im Speziellen zu verbessern.“Tatsächlich trug der EUAustritt dazu bei, die alten Spannungen zwischen proirischen Republikanern und probritischen Unionisten wieder anzuheizen.
Zahlreiche Loyalisten betrachten sich als die Verlierer der Brexit-Saga, da die Grenze in der Irischen See de facto Nordirland vom britischen Mutterland trennt. Sie sehen ausgerechnet das feindliche Lager der Republikaner als Sieger. Im April flogen in Belfast an den sogenannten Friedensmauern, die das protestantisch-unionistische Wohnviertel und die katholisch-republikanische Gegend trennen, Molotowcocktails. Zwar kennen viele jener krawallmachenden Jugendlichen die Details des Nordirland-Protokolls nicht, und der Grund für die Ausschreitungen war keineswegs nur Großbritanniens EU-Austritt. Doch er spielte – und spielt noch immer – eine Rolle. Das dürfte sich angesichts der neuen Runde im BrexitStreit auch mit dem Kompromissangebot der EU nicht ändern.