Neuburger Rundschau

Wie es Julia jetzt geht

Suchaktion Zwei Tage und Nächte war die Achtjährig­e im Wald herumgeirr­t. Ein Kinderarzt und eine Trauma-Psychiater­in über die körperlich­en und psychische­n Folgen

- VON ALEXANDRA HARTMANN

Ceská Kubice Ein Mädchen ist nachts allein im Wald. Das klingt fast wie der Beginn eines Horrorfilm­s – doch es war für die achtjährig­e Julia Realität. Zwei Tage und Nächte harrte das Mädchen aus Berlin im Böhmerwald aus – ohne Proviant, bei Temperatur­en nahe dem Gefrierpun­kt. Im Zuge der bislang wohl größten Suchaktion im bayerisch-tschechisc­hen Grenzgebie­t mit 1400 Helfern hat der tschechisc­he Förster Martin Semecky das unterkühlt­e Mädchen am Dienstagna­chmittag gefunden. „Es geht ihr eigentlich relativ gut“, sagte am Mittwoch der Sprecher des Polizeiprä­sidiums Oberpfalz, Josef Weindl. Äußerlich zeige die achtjährig­e Julia – bis auf einen Kratzer am Bein – keine Verletzung­en. Das grenzt nach Angaben des Bayerische­n Roten Kreuzes Cham an ein Wunder.

„Es ist wirklich erstaunlic­h, dass sie es geschafft hat“, sagt Kinderarzt Dr. Christian Voigt. Der Obmann des Berufsverb­ands der Kinder- und Jugendärzt­innen und -ärzte Augsburg und Nordschwab­en erklärt, dass beim Überleben in einer solchen Situation Faktoren wie Gewicht, Größe, Temperatur und Wetter eine wichtige Rolle spielen. „Prinzipiel­l sind Kinder aufgrund geringerer Körpermass­e schneller von Auskühlung betroffen als Erwachsene“, sagt Voigt. Die Kälte ist also die größte Bedrohung gewesen. Da Julia aber mehrere Kilometer zu Fuß zurücklegt­e, sich also viel bewegte, sei ihr Körper langsamer ausgekühlt.

Förster Martin Semecky hatte gesagt, dass er sie im hohen Gras gefunden und sie – angesproch­en auf ihren Namen – nur genickt habe. Das ist laut Voigt ein Anzeichen, dass Julias Vitalität wegen der Kälte bereits sehr eingeschrä­nkt war. „Man friert im wahrsten Sinne des Wortes ein“, erklärt Voigt. Wäre sie später gefunden worden, wäre sie vermutlich an Unterkühlu­ng gestorben. Mehr als 48 Stunden ohne Wasser seien überdies sehr kritisch. Julia ist jedoch lediglich einen Kilometer entfernt von der Quelle „Ceska Studanka“entdeckt worden – möglicherw­eise habe sie daraus getrunken. Wie lange ein Kind ohne Nahrung auskommt, „hängt von den Energieres­erven

ab“, sagt Voigt. Er ist sich nun aber sicher: „Gesundheit­lich sind keine Folgen zu erwarten.“Nachdem Semecky Julia am frühen Dienstagna­chmittag gefunden hatte, war sie in ein Krankenhau­s in Deutschlan­d gebracht worden. Ein unterkühlt­er Mensch muss laut Voigt zunächst langsam aufgewärmt werden. Sobald die Körpertemp­eratur wieder auf 35 bis 36 Grad steigt, springt die Stoffwechs­elversorgu­ng schnell wieder an. Schon Mittwochmi­ttag hatte Julia das Krankenhau­s dann in Begleitung von Familienan­gehörigen verlassen können. Dr. Christian Voigt geht jedoch von möglichen psychische­n Folgen aus.

Diese erklärt Dr. Gabriele Unterlaß, Oberärztin der Trauma-Ambulanz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie an der Augsburger KJF Klinik Josefinum, näher. „Diese Extremsitu­ation wäre für jeden Menschen mit hoher psychische­r Belastung verbunden“, sagt Unterlaß. Wie Menschen auf ein derartiges Ereignis reagieren, hänge stark von deren psychische­r Gesundheit ab.

Es gebe zwei mögliche Verhaltens­weisen, erklärt Unterlaß: den Kampfmodus und die innere Flucht. Entweder man versucht, sich selbst zu retten, oder man zieht sich aus Überforder­ung in sich zurück. Dass Julia mehrere Kilometer zurückgele­gt hat, passt laut Unterlaß zum Kampfmodus. Sie habe wohl versucht, dieser Situation selbst zu entkommen. Dass sie schließlic­h bewegungsl­os gefunden wurde, hänge möglicherw­eise mit Resignatio­n zusammen. Ein weiterer möglicher Grund sei die Erschöpfun­g.

Polizeispr­echer Weindl sagte über Julias Zustand: „Sie spricht und ist so weit unauffälli­g.“Dr. Gabriele Unterlaß erklärt, dass sich erst in den nächsten Tagen und Wochen Symptome zeigen könnten. Möglich seien Schlafstör­ungen, Trennungsa­ngst oder andere Ängste sowie erhöhte Schreckhaf­tigkeit. Die Oberärztin betont jedoch auch: „Nicht jedes potenziell traumatisc­he Ereignis führt automatisc­h zu einer Erkrankung.“Wie Menschen Ausnahmesi­tuationen verarbeite­n, das sei abhängig von

der Resilienz – der psychische­n Widerstand­sfähigkeit. Grundsätzl­ich seien Kinder schutzbedü­rftiger als Erwachsene. Was sie bisher erlebt haben, beeinfluss­t stark, wie sie extreme Erlebnisse verarbeite­n können.

Für Julia sei nun wichtig, ihr inneres Gefühl der Sicherheit wiederherz­ustellen. Dafür braucht es nach Angaben der Kinder- und Jugendpsyc­hiaterin einen vertrauten Rahmen, bekannte Routinen und den Kontakt zur Familie. „Wenn sie sprechen will, sollte man sie über die Ereignisse sprechen lassen“, sagt Unterlaß.

Wie die Trauma-Expertin erklärt, liegt der Fokus meist auf den Betroffene­n. Doch nicht nur für Julia war das Verschwind­en eine Ausnahmesi­tuation. Auch ihre Eltern sind massiv betroffen und brauchen Unterstütz­ung, sagt Unterlaß. Sie haben bei der Verarbeitu­ng die wichtige Rolle, ihrer Tochter Schutz und Geborgenhe­it zu spenden. Daher sollten Mutter und Vater bei der Frage, wie sie Julia nun helfen können, profession­elle Unterstütz­ung bekommen.

 ?? Symbolfoto: Thomas Warnack, dpa ?? 1400 Helferinne­n und Helfer hatten im Böhmerwald fast 48 Stunden nach Julia gesucht. Als die Achtjährig­e lebend gefunden wur‰ de, war die Erleichter­ung riesengroß.
Symbolfoto: Thomas Warnack, dpa 1400 Helferinne­n und Helfer hatten im Böhmerwald fast 48 Stunden nach Julia gesucht. Als die Achtjährig­e lebend gefunden wur‰ de, war die Erleichter­ung riesengroß.

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