Wie es Julia jetzt geht
Suchaktion Zwei Tage und Nächte war die Achtjährige im Wald herumgeirrt. Ein Kinderarzt und eine Trauma-Psychiaterin über die körperlichen und psychischen Folgen
Ceská Kubice Ein Mädchen ist nachts allein im Wald. Das klingt fast wie der Beginn eines Horrorfilms – doch es war für die achtjährige Julia Realität. Zwei Tage und Nächte harrte das Mädchen aus Berlin im Böhmerwald aus – ohne Proviant, bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt. Im Zuge der bislang wohl größten Suchaktion im bayerisch-tschechischen Grenzgebiet mit 1400 Helfern hat der tschechische Förster Martin Semecky das unterkühlte Mädchen am Dienstagnachmittag gefunden. „Es geht ihr eigentlich relativ gut“, sagte am Mittwoch der Sprecher des Polizeipräsidiums Oberpfalz, Josef Weindl. Äußerlich zeige die achtjährige Julia – bis auf einen Kratzer am Bein – keine Verletzungen. Das grenzt nach Angaben des Bayerischen Roten Kreuzes Cham an ein Wunder.
„Es ist wirklich erstaunlich, dass sie es geschafft hat“, sagt Kinderarzt Dr. Christian Voigt. Der Obmann des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte Augsburg und Nordschwaben erklärt, dass beim Überleben in einer solchen Situation Faktoren wie Gewicht, Größe, Temperatur und Wetter eine wichtige Rolle spielen. „Prinzipiell sind Kinder aufgrund geringerer Körpermasse schneller von Auskühlung betroffen als Erwachsene“, sagt Voigt. Die Kälte ist also die größte Bedrohung gewesen. Da Julia aber mehrere Kilometer zu Fuß zurücklegte, sich also viel bewegte, sei ihr Körper langsamer ausgekühlt.
Förster Martin Semecky hatte gesagt, dass er sie im hohen Gras gefunden und sie – angesprochen auf ihren Namen – nur genickt habe. Das ist laut Voigt ein Anzeichen, dass Julias Vitalität wegen der Kälte bereits sehr eingeschränkt war. „Man friert im wahrsten Sinne des Wortes ein“, erklärt Voigt. Wäre sie später gefunden worden, wäre sie vermutlich an Unterkühlung gestorben. Mehr als 48 Stunden ohne Wasser seien überdies sehr kritisch. Julia ist jedoch lediglich einen Kilometer entfernt von der Quelle „Ceska Studanka“entdeckt worden – möglicherweise habe sie daraus getrunken. Wie lange ein Kind ohne Nahrung auskommt, „hängt von den Energiereserven
ab“, sagt Voigt. Er ist sich nun aber sicher: „Gesundheitlich sind keine Folgen zu erwarten.“Nachdem Semecky Julia am frühen Dienstagnachmittag gefunden hatte, war sie in ein Krankenhaus in Deutschland gebracht worden. Ein unterkühlter Mensch muss laut Voigt zunächst langsam aufgewärmt werden. Sobald die Körpertemperatur wieder auf 35 bis 36 Grad steigt, springt die Stoffwechselversorgung schnell wieder an. Schon Mittwochmittag hatte Julia das Krankenhaus dann in Begleitung von Familienangehörigen verlassen können. Dr. Christian Voigt geht jedoch von möglichen psychischen Folgen aus.
Diese erklärt Dr. Gabriele Unterlaß, Oberärztin der Trauma-Ambulanz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Augsburger KJF Klinik Josefinum, näher. „Diese Extremsituation wäre für jeden Menschen mit hoher psychischer Belastung verbunden“, sagt Unterlaß. Wie Menschen auf ein derartiges Ereignis reagieren, hänge stark von deren psychischer Gesundheit ab.
Es gebe zwei mögliche Verhaltensweisen, erklärt Unterlaß: den Kampfmodus und die innere Flucht. Entweder man versucht, sich selbst zu retten, oder man zieht sich aus Überforderung in sich zurück. Dass Julia mehrere Kilometer zurückgelegt hat, passt laut Unterlaß zum Kampfmodus. Sie habe wohl versucht, dieser Situation selbst zu entkommen. Dass sie schließlich bewegungslos gefunden wurde, hänge möglicherweise mit Resignation zusammen. Ein weiterer möglicher Grund sei die Erschöpfung.
Polizeisprecher Weindl sagte über Julias Zustand: „Sie spricht und ist so weit unauffällig.“Dr. Gabriele Unterlaß erklärt, dass sich erst in den nächsten Tagen und Wochen Symptome zeigen könnten. Möglich seien Schlafstörungen, Trennungsangst oder andere Ängste sowie erhöhte Schreckhaftigkeit. Die Oberärztin betont jedoch auch: „Nicht jedes potenziell traumatische Ereignis führt automatisch zu einer Erkrankung.“Wie Menschen Ausnahmesituationen verarbeiten, das sei abhängig von
der Resilienz – der psychischen Widerstandsfähigkeit. Grundsätzlich seien Kinder schutzbedürftiger als Erwachsene. Was sie bisher erlebt haben, beeinflusst stark, wie sie extreme Erlebnisse verarbeiten können.
Für Julia sei nun wichtig, ihr inneres Gefühl der Sicherheit wiederherzustellen. Dafür braucht es nach Angaben der Kinder- und Jugendpsychiaterin einen vertrauten Rahmen, bekannte Routinen und den Kontakt zur Familie. „Wenn sie sprechen will, sollte man sie über die Ereignisse sprechen lassen“, sagt Unterlaß.
Wie die Trauma-Expertin erklärt, liegt der Fokus meist auf den Betroffenen. Doch nicht nur für Julia war das Verschwinden eine Ausnahmesituation. Auch ihre Eltern sind massiv betroffen und brauchen Unterstützung, sagt Unterlaß. Sie haben bei der Verarbeitung die wichtige Rolle, ihrer Tochter Schutz und Geborgenheit zu spenden. Daher sollten Mutter und Vater bei der Frage, wie sie Julia nun helfen können, professionelle Unterstützung bekommen.