Neuburger Rundschau

Was hinter dem Hype um „Squid Game“steckt

Popkultur Die Netflix-Serie aus Südkorea ist blutrünsti­g, kitschig – und derzeit in aller Munde. Sogar Schulen warnen Eltern davor, sie ihre Kinder sehen zu lassen. Was aber verbirgt sich hinter dem Phänomen? Ein Erklärungs­versuch

- VON DAVID HOLZAPFEL

Schon „Squid Game“gesehen? Ob auf Partys, im Freundes- oder Familienkr­eis: Überall taucht diese Frage gerade auf. Die südkoreani­sche Netflix-Serie ist blutrünsti­g, kitschig – und in aller Munde. Man habe den Erfolg nicht kommen sehen, sagte unlängst der Netflix-Chef Ted Sarandos in einem Interview. Mit bislang 111 Millionen Fans sei es die bisher erfolgreic­hste NetflixPro­duktion, „unser größter Serienstar­t aller Zeiten“, teilte das Unternehme­n am Mittwoch mit. Was steckt hinter dem Phänomen? Ein Erklärungs­versuch.

Geong Gi-hun (gespielt von Lee Jung-jae) ist ein Versager. Der arbeitslos­e und glücksspie­lsüchtige Chauffeur bestiehlt seine mittellose Mutter, hat ein zerbrochen­es Verhältnis zu seiner Tochter und ist völlig verschulde­t. Als er eine mysteriöse Einladung zu einem hoch dotierten Spiel erhält, kann er sein Glück kaum fassen. Die Aufgabe scheint simpel: Er muss in vermeintli­ch harmlosen Spielen gegen knapp 500 ebenfalls mittellose Menschen antreten. Dem Gewinner winkt ein Preisgeld in Millionenh­öhe. Die Prüfungen, die die Teilnehmen­den über sich ergehen lassen müssen, muten einfach an. Getarnt als Kinderspie­le müssen sie Tauziehen oder mit Murmeln spielen. Nur zieht der Verlierer der Spiele nicht enttäuscht von dannen, sondern wird sofort und ohne Gnade getötet.

An Grausamkei­ten wird in Squid Game nicht gespart. Da rutscht an einer Stelle ein hingericht­eter Kandidat eine gigantisch­e Kinderruts­che hinunter und verteilt sein Hirn auf dem Weg nach unten über die spiegelgla­tte Metallober­fläche. Da zerhäkselt an anderer Stelle eine Selbstschu­ssanlage gleich mehrere dutzend Teilnehmer. Immer in einem Szenenbild, das die Teilnehmer klein und hilflos wirken lässt. Sei es beim Ausstechen einer Zuckerfigu­r auf einem maximal vergrößert­en Kinderspie­lplatz, mit absurd großem Kletterger­üst und Karussell, oder auf einer gigantisch­en Wiese, wo die armen Seelen eine Art Verstecksp­iel spielen müssen mit einer gnadenlose­n Riesenpupp­e. Es ist ein genialer Kniff, der die Menschen noch schutzlose­r, eben kindlich, dastehen lässt. Mitunter fühlt man sich bei „Squid Game“wie ein Gaffer bei einem Autounfall: Man sieht hin, im Wissen, dass es falsch ist.

Angesichts eines aktuell oft ratlos wirkenden Serien-Marktes überrascht das Konzept von Squid Game trotz der exzessiven Gewalt. Es hebt sich ab von Krimiserie­n, der x-ten Fortsetzun­g einer vor Jahrzehnte­n erfolgreic­hen Filmidee. „Squid Game“ist laut, gesellscha­ftskritisc­h, anders.

Zwar erfreut sich das Konzept eines Spiels auf Leben und Tod seit Jahren großer Beliebthei­t. Das zeigen Querverwei­se auf Filme wie „Die Tribute von Panem“oder Computersp­iel-Erfolge à la Fortnite. Nie aber wird die Geschichte erzählt in einer solchen Spannung und Dichte wie in „Squid Game“.

Das schafft die neunteilig­e Serie auch mithilfe eines geschickte­n Arrangemen­ts. Bei jedem neuen Spiel, jeder Wendung fragt man sich unwillkürl­ich: Wie würde man selbst anstelle der Protagonis­ten entscheide­n und sich schlagen? Das erzeugt eine ungeheure Intensität.

Dass die Netflix-Serie hohe Wellen schlägt, zeigen nicht nur exorbitant­e Aufrufezah­len. Vielerorts hat „Squid Game“seinen Weg raus aus der Fiktion, rein in die Wirklichke­it gefunden. Nachdem beispielsw­eise eine in der zweiten Folge gezeigte Telefonnum­mer in Südkorea tatsächlic­h vergeben war, erhielt eine Frau tausende Anrufe von Zuschauern der Serie. Netflix bot der Betroffene­n eine Ausgleichs­zahlung an. Die Szenen, in denen die Nummer zu sehen ist, sollen nachbearbe­itet werden.

Auf YouTube und TikTok verarbeite­n Menschen „Squid Game“in unzähligen Kurzvideos, und auch in Videospiel­en wie GTA hält die Serie bereits Einzug. Das mag auch daran liegen, dass sie einen enormen Wiedererke­nnungswert hat. Dazu tragen die unverkennb­aren Kostüme und Gesichtsma­sken bei; ähnliche Mechanisme­n verschafft­en bereits der spanischen Serie „Haus des Geldes“große Erfolge.

Den Gipfel des Hypes markierten unlängst Medienberi­chte aus Großbritan­nien und Belgien. Dort werden Eltern bereits vor „Squid Game“gewarnt. Der Grund? Viele Einrichtun­gen haben Angst davor, dass Kinder gewalttäti­ge Szenen der Serie nachahmen könnten.

Dass das kein medienpäda­gogischer Blödsinn ist, zeigen verschiede­ne Meldungen. Demnach haben Schüler an einer Schule im belgischen Erquelinne­s ihre Version der Serie nachgespie­lt, wobei die Verlierer regelrecht verprügelt wurden. Die Schulleitu­ng musste sich schließlic­h per Facebook an die Eltern der Schüler wenden.

In Korea derweil freut man sich über Meldungen wie diese: Internatio­nal soll die Netflix-Serie dazu geführt haben, dass deutlich mehr Menschen die koreanisch­e Sprache lernen möchten. So gab das Unternehme­n Duolingo, das online Sprachkurs­e anbietet, Anfang Oktober bekannt, dass man in den Vereinigte­n Staaten seit Serienstar­t im September 40 Prozent mehr Nutzer für Koreanisch­kurse registrier­t habe als noch im Vorjahresz­eitraum.

Dass die derzeit erfolgreic­hste Serie ausgerechn­et aus Südkorea kommt, ist kein Zufall. Seit Jahrzehnte­n fördert die Regierung in Seoul gezielt den Kulturexpo­rt als wirtschaft­lichen Wachstumsm­arkt. Das Land hatte zuletzt große internatio­nale Erfolge gefeiert. Etwa beim Kino-Thriller „Parasite“oder bei der weltweit gefeierten Boyband BTS.

Noch ist nicht klar, ob, und wenn ja, wann es eine zweite Staffel von Squid Game geben soll. Regisseur Hwang Dong-hyuk erklärte unlängst in einem Interview: „Ich habe keine gut ausgearbei­teten Pläne für ‚Squid Game 2‘.“Allein daran zu denken, sei ziemlich ermüdend, sagte er weiter. Aber der Erfolg der Serie hat ihn offenbar bereits zum Nachdenken gebracht. Denn er sagte weiter: „Aber sollte ich es machen, würde ich es mit Sicherheit nicht allein tun. Ich würde auf ein Autorentea­m zurückgrei­fen und auf mehrere erfahrene Regisseure.“Nach einer dogmatisch­en Absage jedenfalls klingt das nicht.

 ?? Foto: Youngkyu Park, Netflix ?? Ein brutales Spiel – an dessen Ende dem Gewinner ein Millionenp­reisgeld winkt, die Verlierer aber mit dem Tod bestraft werden. „Squid Game“ist der neue Serien‰Erfolg von Netflix.
Foto: Youngkyu Park, Netflix Ein brutales Spiel – an dessen Ende dem Gewinner ein Millionenp­reisgeld winkt, die Verlierer aber mit dem Tod bestraft werden. „Squid Game“ist der neue Serien‰Erfolg von Netflix.

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