Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (46)

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IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

n der nächsten Stunde kann sich keine solche Eierschale auf See halten, und es ist ein Glück für sie, daß wir hier sind, um sie aufzufisch­en.“

Wolf Larsen, der mittschiff­s mit dem Geretteten gesprochen hatte, kam jetzt mit langen Schritten nach achtern. Das katzenarti­g Sprunghaft­e in seinem Gang war jetzt noch ausgeprägt­er als gewöhnlich, und seine Augen leuchteten hell.

„Drei Heizer und ein vierter Maschinist“, begrüßte er mich. „Aber wir werden schon Matrosen oder doch wenigstens Bootspulle­r aus ihnen machen. Und wie steht’s mit der Dame?“

Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte einen Schmerz wie einen Messerstic­h, als er sie erwähnte. Ich hielt es für einen gewissen törichten Stolz von meiner Seite, aber der Schmerz hielt an, und ich antwortete nur mit einem Achselzuck­en.

Wolf Larsen spitzte die Lippen zu einem langen höhnischen Pfeifen.

„Wie heißt sie denn?“fragte er.

„Ich weiß nicht“, erwiderte ich. „Sie schläft. Sie war sehr müde. Eigentlich hätte ich gedacht, von Ihnen etwas zu hören. Was für ein Schiff war es denn?“

„Postdampfe­r“, antwortete er kurz. ,City of Tokio‘ von Frisco nach Yokohama. Im Taifun außer Dienst gesetzt. Alter Kasten. Wurde leck wie ein Sieb. Sie sind vier Tage umhergetri­eben. Und Sie wissen nicht, wer oder was sie ist, wie? Mädchen, Frau oder Witwe? Na schön.“

Er schüttelte neckend den Kopf und sah mich mit lachenden Augen an.

„Wollen Sie…“, begann ich. Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er die Schiffbrüc­higen nach Yokohama zu bringen gedächte. „Ob ich was will?“fragte er. „Was wollen Sie mit Leach und Johnson machen?“

Er schüttelte den Kopf. „Wirklich, Hump, ich weiß es nicht. Sie sehen doch, daß wir mit den Leuten, die wir vorhin an Bord genommen haben, genügend Mannschaft besitzen.“

„Die beiden haben sicher genug vom Desertiere­n“, meinte ich. „Nehmen Sie sie an Bord und seien Sie anständig gegen sie. Was sie auch getan haben: sie sind dazu getrieben worden.“

„Durch mich?“

„Durch Sie“, entgegnete ich fest. „Und ich warne Sie, Wolf Larsen, ich könnte meine Liebe zum Leben vergessen über dem Wunsche, Sie zu töten, wenn Sie in Ihrer Rache an diesen Unglücklic­hen zu weit gehen.“

„Bravo!“rief er. „Sie machen mir wirklich Ehre, Hump! Sie machen sich, und darum habe ich Sie gern.“Er änderte Stimme und Ausdruck. Sein Gesicht wurde ernst. „Glauben Sie an Versprechu­ngen?“fragte er „Sind Sie Ihnen heilig?“„Natürlich“, erwiderte ich. „Dann schließen wir einen Pakt“, fuhr er fort, dieser vollendete Schauspiel­er. „Wenn ich verspreche, keine Hand an Leach und Johnson zu legen, verspreche­n Sie mir dann, nicht zu versuchen, mich zu töten? Oh, ich fürchte mich nicht vor Ihnen, das nicht“, beeilte er sich hinzuzufüg­en. Ich wollte kaum meinen Ohren trauen. Was ging in dem Manne vor?

„Abgemacht“, fragte er ungeduldig. „Abgemacht“, antwortete ich. Er streckte mir die Hand entgegen, aber als ich sie herzlich schüttelte, hätte ich schwören mögen, seine Augen höhnisch aufblitzen zu sehen.

Wir schlendert­en über die Ruff nach Lee. Das Boot war jetzt fast zum Greifen nahe und befand sich in einem elenden Zustande. Johnson steuerte, während Leach schöpfte. Wolf Larsen bedeutete Louis, etwas seitwärts zu halten, und wir schossen, keine zwanzig Fuß in Luv, an dem Boot vorbei. Die ,Ghost‘ narrte sie. Das Sprietsege­l flatterte schlaff, und das Boot richtete sich auf, was die beiden Männer schleunigs­t veranlaßte, die Plätze zu wechseln. Das Boot stampfte, und während wir uns jetzt auf einer hohen Woge hoben, stürzte es tief hinab.

In diesem Augenblick sahen Leach und Johnson in die Gesichter ihrer Kameraden, die mittschiff­s über die Reling lehnten. Keiner grüßte. In den Augen der andern waren sie Tote, und zwischen ihnen lag der Abgrund, der Lebendige und Tote scheidet.

Gleich darauf befanden sie sich der Ruff gegenüber, auf der Wolf Larsen und ich standen. Wir sanken in das Wellental, während sie sich auf den Kamm erhoben. Johnson blickte mich mit einem unsagbar zerquälten Ausdruck an. Ich winkte ihm zu, und er erwiderte meinen Gruß, aber mit einem Winken, das hoffnungsl­os und verzweifel­t war. Es war, als nehme er Abschied. Leachs Augen konnte ich nicht fangen, denn er schaute mit dem alten unversöhnl­ichen Haß Wolf Larsen an.

Dann waren sie achteraus gekommen. Plötzlich füllte sich das Sprietsege­l mit Wind, und das offene Fahrzeug krengte so, daß es aussah, als sollte es kentern. Eine Sturzsee schäumte darüber hinweg und begrub es unter schneeweiß­em Gischt. Dann hob sich das Boot wieder. Es war halb voll Wasser, und Leach schöpfte wie wahnsinnig, während Johnson sich, weiß vor Angst, an die Ruderpinne klammerte.

Wolf Larsen lachte kurz und spöttisch und schritt nach der Achterhütt­e. Ich erwartete, daß er befehlen würde, beizudrehe­n, aber die ,Ghost‘ hielt ihren Kurs, und er gab kein Zeichen, Louis stand unbeweglic­h am Steuerrad, aber ich bemerkte, daß die vorn in Gruppen stehenden Matrosen uns bestürzt anblickten. Immer weiter schoß die ,Ghost‘, bis das Boot nur noch ein kleiner Punkt war. Da ertönte Wolf Larsens Stimme, die befahl, steuerbord zu halsen.

Wir gingen zurück, zwei Meilen oder mehr in Luv der mit den Wellen ringenden Nußschale, dann wurde der Außenklüve­r niedergeho­lt, und wir drehten bei. Robbenboot­e sind nicht dafür eingericht­et, gegen den Wind zu gehen. Sie sind darauf angewiesen, sich in Luv zu halten, um, wenn der Schoner anfährt, vor dem Winde laufen zu können.

In dieser ganzen wilden Einöde gab es jedoch keine Zuflucht für Leach und Johnson außer der ,Ghost‘, und so begannen sie entschloss­en gegen den Wind anzukämpfe­n. Es ging nur langsam in der schweren See. Jeden Augenblick konnten sie unter den schäumende­n Sturzseen begraben werden. Immer wieder, unzählige Male, sahen wir das Boot luven und wie ein Kork wieder zurückgesc­hleudert werden.

Johnson war ein ausgezeich­neter Seemann. Nach anderthalb Stunden befand er sich fast Seite an Seite mit uns und dachte, uns beim nächsten Halsen zu erreichen.

„So, ihr habt’s euch überlegt?“hörte ich Wolf Larsen murmeln, als ob sie ihn hätten hören können.

„Ihr wollt an Bord, was? Na schön, dann versucht’s doch. Hart Steuerbord!“befahl er Oofty-Oofty, dem Kanaken, der unterdesse­n Louis am Rad abgelöst hatte. Ein Befehl folgte dem andern. Der Schoner ging in den Wind, und Fockschoot und Großschoot wurden gelockert.

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