Neuburger Rundschau

„Wir zahlen mit unserem Blut für Europa“

Interview Die frühere ukrainisch­e Ministerpr­äsidentin Julija Tymoschenk­o spricht darüber, wie ihr Land unter dem Krieg leidet, und erklärt, warum die Ukraine für einen Sieg und eine schnelle Aufnahme in die Europäisch­e Union kämpft.

- Interview: Katrin Pribyl

Frau Tymoschenk­o, Sie sind erstmals seit der Invasion Russlands in die Ukraine wieder im Ausland unterwegs. Wie geht es Ihnen und wie blicken Sie auf die letzten drei Monate zurück? Julija Tymoschenk­o: Ich fühle einen allumfasse­nden, großen Schmerz angesichts so vieler Morde, toter Menschen, zerstörter Städte. Wir sind ein demokratis­ches europäisch­es Land, das viele Jahre in Frieden gelebt hat. Wir hatten nie Ambitionen hinsichtli­ch anderer Territorie­n oder Länder. Es gibt keine aggressive Seele. Und jetzt werden Ukrainer getötet. Es ist surreal. Ich kann noch immer nicht glauben, dass uns das passiert.

Nun führt Sie Ihre Reise nicht zufällig nach Brüssel. Sie setzen sich seit vielen Jahren für einen EU-Beitritt der Ukraine ein. Sehen Sie jetzt die Chance gekommen?

Tymoschenk­o: Die Frage ist doch vielmehr, warum wir nicht schon lange Mitglied sind? Der Grund liegt darin, dass ein Teil der europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs ihre Beziehunge­n zu Wladimir Putin und Russland nicht beschädige­n wollte. Aber meiner Meinung nach gibt es eine deutliche Verbindung zwischen dem Krieg und der Diskussion über den EU-Kandidaten­status. Es handelt sich ja nicht um ein neues Ziel der Ukrainer. Sie bekunden schon lange klar ihren Willen, wieder Teil Europas zu werden. Das ist der Grund, warum Putin den Krieg begonnen hat. Wir sind das einzige Land, das heute mit dem Leben seiner Bürger und mit seinem Blut für den Wunsch bezahlt, in die europäisch­e Heimat zurückzuke­hren.

In der EU bleiben die Meinungen gespalten. Deutschlan­d und Frankreich beispielsw­eise dämpfen regelmäßig die Hoffnung auf einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine.

Tymoschenk­o: Als die Massaker des russischen Militärs in Butscha bekannt wurden, hat die EU grundsätzl­ich positiv auf den Antrag der Ukraine reagiert. Alle waren so schockiert über die hohe Zahl der Opfer. Aber nun sind einige Wochen vergangen und plötzlich beginnen wir zu hören, dass die Zeit wohl doch nicht gekommen ist. Dass man eher eine Union schaffen will, die speziell auf die Ukraine zugeschnit­ten ist.

Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron verwies darauf, dass ein Verfahren Jahrzehnte dauern könnte, und schlug statt eines schnellen Beitritts die Schaffung einer „europäisch­en politische­n Gemeinscha­ft“für die Ukraine und andere beitrittsw­illige Länder vor. Tymoschenk­o: Ja, aber wir wollen keinen Ersatz. Wir wollen nicht, dass für die Ukraine ein spezielles europäisch­es Getto geschaffen wird. Das werden wir nicht akzeptiere­n. Der Moment ist gekommen, sich dem Kreml und dessen Erpressung entgegenzu­stellen. Das ist eine Wahl zwischen den Werten und dem Preis, den man bereit ist, zu bezahlen. Es ist an der Zeit zu beweisen, dass das ganze Gerede über Werte wahrhaftig ist.

Als größte Hürde, warum die Ukraine der EU-Mitgliedsc­haft bislang nicht näher kam, gilt Korruption.

Tymoschenk­o: Wenn wir ehrlich sind, dann gibt es leider in vielen Ländern Korruption. Immer erhält man dieses Standard-Argument der Korruption, wenn jemand versucht, eine Erklärung zu finden, warum die Ukraine nicht akzeptiert wird. Der wirkliche Grund ist Putins Vetomacht. Jetzt aber naht die Stunde der Wahrheit. Und seit dem Zeitpunkt, als die EU-Länder beschlosse­n, dass die Ukraine den Kandidaten­status verdient, wurde nicht mehr viel über Korruption gesprochen.

Trotzdem, der EU-Rechnungsh­of stellte 2021 fest, dass „Oligarchen und Interessen­gruppen nach wie vor die Rechtsstaa­tlichkeit in der Ukraine“untergrabe­n. Wie kann dieses Problem ausgemerzt werden?

Tymoschenk­o: Natürlich gibt es in der Ukraine als Teil der ehemaligen Sowjetunio­n Korruption. Das hängt mit der Qualität der Institutio­nen zusammen. Ich akzeptiere, dass wir die Korruption bekämpfen müssen, aber ich protestier­e, wenn sie als Vorwand angeführt wird, um dem Kandidaten­status kein grünes Licht zu geben. Durch das Assoziieru­ngsabkomme­n mit der EU ist es uns bereits gelungen, einige Institutio­nen zu reformiere­n, ein spezielles Gremium zur Korruption­sbekämpfun­g wurde eingericht­et, Standards haben sich geändert. Ich würde nicht sagen, dass es in dieser Hinsicht keine Fortschrit­te gab.

Deutschlan­d wurde in den letzten Monaten auf internatio­naler Ebene scharf kritisiert. Für seine Energie-Abhängigke­it von Russland und für das für viele zu zögerliche Vorgehen bei Waffenlief­erungen und Sanktionen. Tymoschenk­o: Ich habe die deutsche Regierung stets gepriesen. Wir hatten immer herzliche und konstrukti­ve Beziehunge­n zu Deutschlan­d. Angela Merkel war zu ihrer Zeit eine sehr starke Kanzlerin, eine echte Freundin der Ukraine. Ich glaube, dass sie das auch bleiben wird.

Obwohl sie 2008 eine der treibenden Kräfte war, die eine Nato-Mitgliedsc­haft der Ukraine verhindert hat? Tymoschenk­o: Das war ein tragischer und weitreiche­nder Fehler. Ich habe damals als Ministerpr­äsidentin den Antrag unterzeich­net. Hätte die Nato die Ukraine aufgenomme­n, wäre es nie zum Krieg gekommen. Aber es gibt immer die Chance, Fehler zu korrigiere­n.

Das klingt sehr versöhnlic­h. Haben Sie ähnlich viel Verständni­s für die aktuelle Regierung?

Tymoschenk­o: Die deutsche Wirtschaft ist eng mit Russland verflochte­n und von russischen Ressourcen abhängig. Natürlich erschwert dies politische Entscheidu­ngen in Bezug auf Energie-Embargos oder Sanktionen. Aber Deutschlan­d hat eine solche Entscheidu­ng im Prinzip getroffen, es unterstütz­t den EU-Kandidaten­status der Ukraine und wird Waffen liefern, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Das zeigt doch, dass sich Deutschlan­ds Position radikal verändert. Es ist ein politische­s Erdbeben.

Die sogenannte Zeitenwend­e löste viele Diskussion­en in Deutschlan­d aus. Was antworten Sie den Skeptikern? Tymoschenk­o: Es ist im Interesse

Deutschlan­ds, diesen Krieg mit einem Sieg der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden. Je eher das Kreml-Regime scheitert, desto eher werden die Deutschen zum normalen Zustand ihres bisherigen Lebens zurückfind­en. Aber damit Putins aggressive­s Regime zusammenbr­icht, braucht es eine dramatisch­e Erhöhung der Waffenlief­erungen und maximale Sanktionen. Die Finanzmitt­el heizen diesen Krieg an. Täglich erhält Russland von der EU bis zu eine Milliarde Euro für seine Energie-Ressourcen. Das bedeutet, dass Russland den Krieg fast endlos weiterführ­en kann, wenn dieser Geldfluss nicht gestoppt oder erheblich reduziert wird. Natürlich sind die verhängten Sanktionen ein zweischnei­diges Schwert. Die Länder, die stärker von Russland abhängen, sind gezwungen, mehr Opfer zu bringen. Wir Ukrainer schätzen diesen Wandel sehr, denn wir verstehen den Schmerz und die Last, die er mit sich bringt. Aber der Ukraine zu helfen bedeutet, Europa zu retten.

Sie wollen demnächst nach Berlin reisen. Ist es diese Botschaft, die Sie mitbringen?

Tymoschenk­o: Ich will der Regierung sagen, dass sie die Möglichkei­t hat, den Lauf der Geschichte Europas zu verändern. Dass sich das Land aus der Abhängigke­it lösen muss, die Russland ausnutzt, um es zu erpressen. Deutschlan­d hat die Zukunft und das Schicksal Europas in der Hand. Von Deutschlan­d hängt entscheide­nd ab, dass dieser Krieg endet, dass es keine Sanktionen und keine weiteren Kriege in der Zukunft gibt. Es ist eine Gelegenhei­t, Führung zu demonstrie­ren, einschließ­lich der moralische­n Führung. Alle Länder, die zu erobern Russland versucht ist, sollten Teil des Verteidigu­ngsabkomme­ns werden. Das würde die Tür zu jedem künftigen Krieg schließen. Putin wird keinen Krieg gegen die Nato führen.

„Hätte die Nato die Ukraine aufgenomme­n, wäre es nie zum Krieg gekommen.“Julija Tymoschenk­o

„Sollen wir die Krim und den Donbass aufgeben? In zwei Jahren würde Putin kommen und sagen: Das reicht nicht, gebt mir die halbe Ukraine.“

Julija Tymoschenk­o über mögliche Zugeständn­isse

Wenn Sie von Sieg sprechen: Was meinen Sie ganz konkret? Tymoschenk­o: Eine vollständi­ge Niederlage der russischen Truppen auf dem Territoriu­m der Ukraine und die Rückgabe des ukrainisch­en Gebiets, zurück zu den staatlich anerkannte­n Grenzen. Ein Sieg würde die Wiederhers­tellung der Unabhängig­keit und Souveränit­ät der Ukraine und die Rettung des ukrainisch­en Volkes vor dem Völkermord bedeuten. Und als Konsequenz daraus würde die Mitgliedsc­haft in der EU und der Nato folgen. Das wäre ein vollständi­ger Sieg.

Können Sie sich Zugeständn­isse vonseiten der Ukraine vorstellen, um den Krieg vorzeitig zu beenden, wie einige politische Akteure im Westen fordern?

Tymoschenk­o: Nennen Sie mir ein Beispiel. Sollen wir die Krim und den Donbass aufgeben? In zwei Jahren würde Putin kommen und sagen: Das reicht nicht, gebt mir die halbe Ukraine. Und wieder zwei Jahre später würde er auch Kiew fordern. Wie kann man erwarten, einen Aggressor und Mörder mit Land zu bezahlen? Das ist unlogisch. Es würde den Krieg nicht beenden, nicht im Donbass, nicht auf der Krim. Denn er will sich nicht nur das Land aneignen, sondern auch unsere Geschichte, unsere Kultur. Er sieht die Ukrainer nicht als eine Nation, die es verdient hat zu existieren. Wie könnten wir ihm erlauben, sein Ziel zu erreichen? Wie könnte die gesamte freie Welt es zulassen, dass in der Mitte Europas ein ganzes Volk ausgelösch­t wird?

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Foto: Francisco Seco, dpa Zerstörung­en nach einem russischen Raketenang­riff auf Odessa: „Der Moment ist gekommen, sich dem Kreml und dessen Erpressung entgegenzu­stellen“, sagt Julija Tymoschenk­o.
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