Wenn Gotteshäuser das Zeitliche segnen
Erstmals seit Jahrzehnten wird im katholischen Bistum Augsburg eine Kirche abgerissen, und zwar in Füssen. Das dürfte künftig in Bayern häufiger vorkommen. Doch manchmal können die Bauten auch eine neue Zukunft haben.
Füssen/Ingolstadt Manchmal muss man Dinge hinter sich lassen und neu beginnen. Manchmal muss man zerstören, um etwas aufzubauen. Und manchmal muss man Geweihtes entweihen – und ein Gotteshaus abreißen.
Am 25. Februar geschieht dies erstmals seit Jahrzehnten im Gebiet des katholischen Bistums Augsburg. An jenem Tag wird Bischof Bertram Meier nach Füssen kommen und die 1966 geweihte Kirche „Zu den Acht Seligkeiten“profanieren, also entweihen. Danach können die Abbrucharbeiten starten.
So etwas erregt Aufmerksamkeit und löst Diskussionen aus. Weit über den Einzelfall hinaus wird die Schließung, Entweihung oder der Abriss eines Gotteshauses als Zeichen für den Zustand der gesamten Kirche gewertet. Einer Kirche, der wegen ihrer Skandale die Menschen davonlaufen, die unnötig zu werden scheint. Marode Gotteshäuser als Sinnbild für eine marode Kirche. Die Wirklichkeit aber ist vielschichtiger. Das ist in Füssen so, das ist in Ingolstadt so. Dort konnte ein Gotteshaus gerettet werden. Was der frühere Ministerpräsident Bayerns, Horst Seehofer, damit zu tun hat – später.
Zunächst zurück nach Füssen, in die Kirche „Zu den Acht Seligkeiten“, die das Bild ihres Stadtteils prägt. Zum Spatenstich im April 1963 sagt der damalige Pfarrer: „Die Kirche ist das Herz der menschlichen Wohngemeinschaft.“Eine Landschaft ohne Kirche sei wie eine Wiese ohne Blumen. In den Randgebieten würden Pfarrkirchen erbaut und Pfarreien gegründet, „damit die Menschen den Kirchturm sehen und die Glocken hören können“. Kommende Generationen würden jenen danken, die den Plan des Kirchenbaus gefördert hätten.
Die 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre sind eine Zeit der Aufbrüche und wachsender Städte. Katholische wie evangelische Gemeinden wachsen mit, und vielerorts entsteht der Bedarf für und der Wunsch nach Kirchenneubauten. Oft Betonbauten, außen ambitioniert, innen schlicht. Auch das Füssener Gotteshaus atmet den Geist seiner Entstehungszeit. Es ist die des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seinen Reformen. Die katholische Kirche öffnet sich, und wie ein „Zelt Gottes“wölbt sich das Dach des Gotteshauses über die Bankreihen, die 600 Menschen Platz bieten. Es dient auch als Garnisonskirche für die benachbarte Kaserne.
Wer heute das Wort „Betonkirche“benutzt, mitunter abschätzig, meint: völlig überdimensionierte, als wenig ansehnlich empfundene Gotteshäuser in schlechtem baulichem Zustand und mit hohem Renovierungsbedarf. Während etwa vormoderne Gotteshäuser die Jahrhunderte überdauern, befinden sich Betonkirchen häufig nach wenigen Jahrzehnten in bedenklichem Zustand. Auf dem Sichtbeton bilden
Regentropfen Schlieren, Feuchtigkeit setzt den Wänden zu, Stahlträger korrodieren, Elektrik und Heizung sind eine Herausforderung. Vor allem Betonkirchen sind zum flächendeckenden Problem geworden.
Trotzdem hängen Menschen an ihren Gotteshäusern. Füssener Katholikinnen und Katholiken werden im „Zelt Gottes“getauft und getraut, verbinden mit ihm gute und schlechte Zeiten ihres Lebens. Im Gottesdienstbesuch schlägt sich das allerdings nicht mehr nieder. Am Dreikönigstag verlieren sich 14 Besucher im morgendlichen Acht-Uhr-Gottesdienst. Zum Abendgottesdienst mit Sternsingern und Kinderchor sind es immerhin um die 130.
Pfarrer Frank Deuring sagt: „Die Trauer über den Abriss dieser Kirche bleibt.“Gleichermaßen spricht er von einer Chance, „etwas Neues, Zukunftsgewandtes aufzubauen“. Weil der Sakralbau und der nur wenige Meter entfernte, viel zu klein gewordene Kindergarten St. Gabriel sanierungsbedürftig und die Kirche für die Gemeinde nicht zu unterhalten sind, war vor sieben Jahren die Entscheidung getroffen worden: Auf dem Gelände soll ein Begegnungszentrum mit Gottesdienstraum sowie weiteren Räumen für die Pfarreiengemeinschaft Füssen entstehen – und ein neuer Kindergarten. Auch von anderen Gebäuden trennt man sich. Zu hoch der Sanierungsstau, der Aufwand für Verwaltung, Reinigung, Unterhalt – zu gering die Auslastung. Die Konzentration auf das Begegnungszentrum sei der richtige Schritt in die Zukunft.
All das hört man nun öfter. Wie dies: „Menschen sind wichtiger als Steine.“Hieß es aus der evangelischen Landeskirche. Der Dienst an den Menschen habe Vorrang vor dem Erhalt von Immobilien. Hieß es, als das katholische Erzbistum München und Freising im vergangenen Jahr erklärte: Der Erhalt aller seiner rund 4000 seelsorglich genutzten Gebäude – darunter mehr als 3000 Kirchen und Kapellen – sei langfristig nicht finanzierbar; der Bestand müsse reduziert werden.
Die Aussichten sind alles andere als rosig: Die Zahl der Kirchenaustritte wird hoch und die der Gottesdienstteilnehmer niedrig bleiben, die Kirchensteuereinnahmen könnten massiv einbrechen, die Bausubstanz wird weiter bröckeln, die Relevanz der evangelischen und der katholischen Kirche als Institution weiter schwinden. Eine Folge werden Schließungen, Profanierungen und Abrisse von Gotteshäusern sein.
Eine Profanierung macht ein Gotteshaus zu einem „alltäglichen Gebäude“, wie es das Bistum Eichstätt formuliert. In Ingolstadt ist es an diesem Sonntag so weit, Bischof Gregor Maria Hanke feiert dann den letzten Gottesdienst in St. Monika. An dessen Ende wird – wie im Februar in Füssen
– das Allerheiligste aus dem Tabernakel genommen und das Ewige Licht gelöscht. Die erst 1986 geweihte St. Monika, viel Holz, viel Ziegelstein, soll abgerissen, das Areal an die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt GmbH vergeben und mit dem Erlös die Pfarrkirche St. Augustin saniert werden – eine marode Betonkirche, wie die Füssener ein „Zelt Gottes“, 1959 geweiht. Unklar ist die Zukunft der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Kaufering im Bistum Augsburg, ebenfalls ein Betonbau, aus den 60ern. Seit Januar ist sie geschlossen, aus statischen Gründen. Diskutiert wird über Sanierung – oder Abriss samt Neubau.
Seit dem Jahr 2000 wurden in Deutschland mehr als 500 katholische Kirchengebäude als Gottesdienstorte aufgegeben, ergab eine Recherche des Portals katholisch.de von 2017. Ende Dezember 2023 teilte die Deutsche Bischofskonferenz mit, dass in den vergangenen fünf Jahren 131 Kirchen geschlossen wurden, 126 von ihnen wurden profaniert. Die Zahlen steigen auch in Bayern, wo Entweihungen in den vergangenen Jahrzehnten eine absolute Seltenheit waren.
Das Bistum Augsburg beispielsweise berichtet von bislang zwei Profanierungen – die Kirchen befanden sich in staatlichem Besitz und werden als Vortragssaal beziehungsweise für geistliche Konzerte genutzt. Eine Nutzung als Supermarkt oder Diskothek ist ausgeschlossen. Im Nachbarbistum, dem Erzbistum München und Freising, wurde erstmals seit Jahren am 30. Dezember ein Gotteshaus profaniert, St. Benedikt in Ebenhausen, 1965 geweiht, Asbest im Dach, Feuchtigkeit, Schimmel.
Drastischer sieht es bei weiteren kirchlichen Immobilien aus. „Von den rund 600 Pfarrhäusern im Bistum Würzburg werden künftig noch 150 bis 170 benötigt“, sagt ein Sprecher. Die Entwicklung in anderen Bistümern dürfte kaum anders sein. Die Kirche befindet sich im Umbruch, im Wortsinne im Umbau.
Gläubige reagieren darauf mit Unmut, Wut, Protesten. In Füssen stößt man auf gemischte Gefühle und auf Zuversicht, ergibt ein Stimmungsbild. Er freue sich auf das Neue, sagt der 30-jährige Florian Wild. Die 50-jährige Barbara Henle spricht von Wehmut. Die 81-jährige Heide Eckl, die einst im Kirchenchor sang, findet es schade, „dass die typische Kirchenarchitektur des vorigen Jahrhunderts abgerissen wird“. Traurig ist die 85-jährige Margarete Huber, die die Grundsteinlegung miterlebte: „Mir tut der Abriss im Herzen weh“, sagt sie.
In Ingolstadt überwog zunächst die Wut, als das Gerücht kursierte, die frühgotische Franziskanerkirche aus dem Jahr 1275 solle entweiht und in eine Bibliothek umgewandelt werden. Die Kapuzinermönche hatten das benachbarte Kloster im Frühjahr 2023 verlassen, es gab keine Gottesdienste mehr. Dafür eine Mahnwache. Um die 100 Menschen versammelten sich. Das Bistum Eichstätt, das sich bei dubiosen Immobiliengeschäften in den USA verzockt habe, habe jetzt kein Geld übrig für diesen „Zufluchtsort“, meinten sie.
Dass es anders kam, hat auch mit dem früheren bayerischen Ministerpräsidenten und Ingolstädter Horst Seehofer zu tun. Der initiierte einen Unterstützerkreis zum Erhalt seiner Beichtkirche aus Jugendzeiten. „Mir war klar, dass ich alles tue, damit die Kirche eine Kirche bleibt“, sagte er. Um Unterstützung gebeten hatte ihn Matthias Schickel, per SMS. Schickel war, wie er erzählt, zufällig bei der Mahnwache. Er ist stellvertretender Stadtheimatpfleger und Leiter des „Katherl“genannten Katharinen-Gymnasiums. „Es wäre ein herber Verlust für die Stadt gewesen“, sagt er, „die Franziskanerkirche ist eine der drei prägenden Gotteshäuser Ingolstadts. Sie ist wichtig für die Identität der Stadt.“
Es folgten Gespräche, Treffen, schließlich die Wiedereröffnung durch Bischof Hanke am 3. Oktober 2023. Ein Video dokumentiert die Prozession hin zu ihr, zeigt einen spürbar überwältigten, frohen Hanke. Seit jenem historischen Tag ist das Gotteshaus wieder täglich geöffnet. Die Seelsorge hat die Gemeinschaft der Vor-Oratorianer übernommen. Zu hören ist, dass die Beichtgelegenheiten vergleichsweise häufig wahrgenommen werden.
Matthias Schickel betrachtet die Franziskanerkirche als „vorläufig gerettet“. Sie müsse saniert werden, hauptsächlich das Dach und die Elektrik. Er schätzt die Kosten auf sechs, sieben Millionen Euro. Schickel, selbst Mitglied im Unterstützerkreis, klingt zuversichtlich.
Horst Seehofer rettete seine Beichtkirche in Ingolstadt.