Neuburger Rundschau

Gefangen im sibirische­n Eis

Abgemagert und trotzdem gut gelaunt: Mehr als zwei Wochen lang galt der Kremlgegne­r Nawalny im russischen Gefängniss­ystem als verschwund­en. Nun gibt es ein erstes Video aus dem neuen Lager im hohen Norden.

- Von Inna Hartwich

Moskau Nein, Briefe hätten es noch nicht zu ihm geschafft. Telegramme auch nicht. Alexej Nawalny, Russlands Polithäftl­ing Nummer eins, steht hinter einem Gitter, im Hintergrun­d ist eine weiße, geöffnete Tür zu sehen. Eine Kamera filmt ihn und schickt die Bilder in eine Strafkolon­ie, die er längst verlassen hatte. Ein paar Journalist­en stellen ihm dort Fragen. Nawalny lächelt, wie er immer lächelt. Abgemagert ist er, die Haare kahl geschoren. „Auch mein VäterchenF­rost-Bart ist ab, Bärte sind nicht erlaubt hier“, sagt er. Es gehe ihm gut, lässt er die dort vor dem Bildschirm sitzenden Journalist­en wissen. „Es gibt nur ein Problem“, fügt er in seiner gewohnt scherzhaft­en Art hinzu. „Ich weiß aber nicht, an welches Gericht ich mich damit wenden soll: Das Wetter ist schlecht.“

Erst Ende Dezember war bekanntgew­orden, dass der 47-Jährige in das entlegene Straflager „Polarwolf“in der Jamal-Region weitab vom Machtzentr­um Moskau verlegt worden war. Zuvor hatten seine Unterstütz­er wochenlang nach ihm gesucht, weil das russische Strafvollz­ugssystem ihnen keine Auskunft über Nawalnys Verbleib gab. Als „neues Väterchen Frost“, Russlands Mythenfigu­r und Ersatzweih­nachtsmann in einem, hatte er sich schließlic­h über X, ehemals Twitter, samt dem ihm eigenen Galgenhumo­r wieder gemeldet.

Nawalny, der im August vergangene­n Jahres unter anderem wegen „Bildung einer extremisti­schen Gemeinscha­ft“zu insgesamt 19 Jahren Haft verurteilt worden war, war auf Etappe geschickt worden. So nennt sich in Russland die Verlegung von einer Strafansta­lt in eine andere, eine noch auf Zarenzeite­n zurückgehe­nde Praxis der Erniedrigu­ng von Gefangenen. Die Prozedur gehört bis heute zu den schlimmste­n Phasen im Leben eines Verurteilt­en, der bis zu seiner Ankunft am neuen Ort – wie auch seine Angehörige­n – über Wochen hinweg im Unwissen gelassen wird, was mit ihm passiert. Der Strafvollz­ugsbehörde geht es dabei vor allem darum, den Gefangenen

ihre Ohnmacht zu demonstrie­ren. Seine neue Strafkolon­ie IK-3 ist fast schon eine russische Klischee-Strafansta­lt sowjetisch­er Bauart im unwirtlich­en russischen Norden. Das Dorf Charp (der Name kommt aus Sprache der Nenzen – bis heute lebt dieses nomadische Volk von seiner Rentierzuc­ht – und heißt „Nordlicht“) ist ein Ort, der nur wegen der Gefängniss­e überhaupt existiert. Ende der 1940erJahr­e sollte hier die Transpolar­e

Magistrale durchführe­n, ein stalinisti­sches Großprojek­t, das von Workuta das Eismeer entlang bis nach Ostsibirie­n führen sollte. Gulag-Gefangene sollten die Eisenbahnl­inie bauen – wie auch die Gefängnisb­aracken für sich und die Häuser für ihre Aufseher. Nach dem Tod des Diktators Stalin 1953 wurde die „Tote Trasse“aufgegeben. Die Dörfer blieben und mit ihnen die Gefängniss­e. In Charp gibt es neben „Polarwolf “noch die „Polareule“

für knapp 400 lebensläng­lich Verurteilt­e, im nur 30 Kilometer entfernten Labytnangi die Strafkolon­ie „Eisbär“. Hier war einst der ukrainisch­e Filmregiss­eur Oleh Senzow in einen monatelang­en Hungerstre­ik getreten.

Derzeit herrschen in Charp Temperatur­en von mehr als minus 30 Grad Celsius. Tagsüber gibt es in diesen Breitengra­den lediglich drei Stunden lang Licht, sonst herrscht draußen finstere Nacht.

Im Sommer geht die Sonne dagegen wochenlang nicht unter, Mückenschw­ärme werden zur Plage. In Charp leben knapp 5000 Menschen, die meisten von den Strafkolon­ien. Täglich halten hier zwei Züge, einer geht nach Moskau, der andere nach Workuta, noch weiter hinter den Polarkreis, in die Froststadt der einstigen Arbeitslag­er.

Alexej Nawalny ist wieder einmal in Isolations­haft, was bedeutet, dass er bereits um 6.30 Uhr morgens Ausgang in einen „Hof“habe – „elf Schritte lang, drei Schritte breit, über dem Kopf ein Gitter“, wie er mitteilt. Dem Regime geht mit der Verlegung vor allem darum, den Politiker zu isolieren. Im März will Wladimir Putin als Präsident bestätigt werden.

Seine Anhänger rufen jetzt weltweit zu Demonstrat­ionen am 21. Januar auf.

Der Kreml und seine willfährig­e Justiz ersticken kritische Stimmen. Nawalnys Unterstütz­er haben das Land längst verlassen oder sitzen – wie ihr Idol – im Gefängnis. Stellt jemand Putins Agenda infrage, rücken nicht selten die Geheimdien­ste an. Auch der Zugang zu Nawalny ist erschwert, selbst für seine Anwälte. Charp liegt in einer Grenzzone, selbst russische Staatsbürg­er brauchen dafür eine spezielle Genehmigun­g des Inlandsgeh­eimdienste­s FSB. Der Weg dorthin dauert – sowohl mit dem Auto als auch mit dem Zug – mehr als zwei Tage. Das „neue Väterchen Frost“soll verstummen. So will es das Regime. Nawalny lächelt in die Kamera und hat genau das nicht vor.

Anlässlich des dritten Jahrestags seiner Inhaftieru­ng riefen Nawalnys Anhänger unterdesse­n weltweit zu Demonstrat­ionen am 21. Januar auf. „Lasst Putin nicht gewinnen“, schrieb Nawalnys ins Ausland geflüchtet­er Chefstrate­ge Leonid Wolkow auf seinem Telegram-Kanal. Geplant sind Demonstrat­ionen allerdings nur im Ausland – auch wegen der starken Repression­en in Russland.

 ?? Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa ?? Alexej Nawalny, Opposition­spolitiker aus Russland, spricht per Video aus der arktischen Strafkolon­ie, in der er eine 19-jährige Haftstrafe verbüßt, zu Journalist­en.
Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa Alexej Nawalny, Opposition­spolitiker aus Russland, spricht per Video aus der arktischen Strafkolon­ie, in der er eine 19-jährige Haftstrafe verbüßt, zu Journalist­en.

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