„Ich rannte nur noch Noten hinterher“
Viele Lehrkräfte leiden unter den Arbeitsbedingungen an Schulen. Offenbar steigt die Zahl derer, die deswegen ihre sichere Beamtenstelle kündigen. Zwei Aussteigerinnen erzählen.
Ihre Schülerinnen und Schüler hat Carolin Schütze immer geliebt. „Sie waren das Tollste in meinem Beruf“, sagt die Frau, Mitte 40. Aber dann, nach zwei Jahrzehnten als Lehrerin, „habe ich mir die Frage gestellt, ob mein Leben wirklich so sein soll“. Die Zwänge und Vorschriften des Schulalltags, „irgendwann kam es mir vor, als hätte ich gar keine Freiheiten mehr. Ich rannte nur noch Noten hinterher“, sagt Carolin Schütze, die eigentlich anders heißt. Dazu das tägliche Beurteiltwerden durch Schülerinnen und Schüler, Eltern, Fachbetreuer und die Schulleitung. „Ich fühlte einen massiven Druck. Und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht richtig in das Schulsystem hineinpasse.“Dieses Gefühl wurde übermächtig. Schütze kündigte, gab ihr Beamtenverhältnis auf Lebenszeit auf.
Die einstige Gymnasiallehrerin aus Schwaben ist nicht die Einzige. In den Statistiken der Bundesländer steigt die Zahl derer, die freiwillig den Schuldienst quittieren. In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Jobaustritte beim pädagogischen Fachpersonal laut Bildungsministerium in zehn Jahren nahezu verdreifacht. Fast 800 Aussteiger waren es 2022. In Berlin verdoppelten sich innerhalb von fünf Jahren die Kündigungen. Was man betonen muss: In der Hauptstadt sind Lehrkräfte anders als in Bayern oft nicht verbeamtet.
Deutschlandweite Zahlen gibt es nicht, Bayern etwa dokumentiert nach Angaben des Kultusministeriums nicht systematisch, wie viele der etwa 120.000 staatlichen Lehrkräfte jährlich von sich aus einen Antrag auf Entlassung stellen. Was aber auch im Freistaat registriert wird, ist die Quote der Lehrkräfte, denen eine Dienstunfähigkeit bescheinigt wird. Eine Anfrage der Grünen im Landtag zeigte kürzlich, dass sich die Zahl der begrenzt Dienstfähigen seit 2019 mehr als verdoppelt hat – besonders hoch ist sie an Grund- und Mittelschulen, wo die Staatsregierung aufgrund eines nach wie vor anhaltenden Personalmangels den Lehrkräften mehr Unterrichtszeit verordnet hat.
„Ich glaube, wenn ich nicht gekündigt hätte, wäre ich in einen Burn-out hineingelaufen“, sagt auch Ex-Gymnasiallehrerin Schütze. Um Job und Familie unter einen Hut zu bekommen, hatte sie zuletzt Teilzeit gearbeitet. Zwei Fächer, acht Unterrichtsstunden pro Woche. „Aber ich hatte in manchen Jahren nur Oberstufenkurse. Die Vorbereitung ist dann noch intensiver und die Korrekturen noch zeitraubender. Im Vertrag steht Teilzeit, aber das ist ein Vollzeitjob.
Jeder, der behauptet, es sei anders, stand noch nie vor einer Klasse.“
Isabell Probst weiß genau, wie es sich anfühlt. 2015 hat die frühere Gymnasiallehrerin aus Nordrhein-Westfalen der Schule den Rücken gekehrt. „Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich in diesem Beruf gesund und glücklich bis zur Pension durchhalte“, sagt sie heute. Einfach eine ruhige Kugel zu schieben, Dienst nach Vorschrift zu machen, das wollte sie ihren Schülern nicht antun. „Nach einigen Jahren war ich jedoch schlichtweg nicht mehr bereit dazu, meine Arbeits- und Lebensenergie in ein System zu stecken, das ich zunehmend ablehnte.“Heute berät Probst selbstständig Lehrkräfte, die sich neu orientieren möchten.
„Es sind im wesentlichen fünf Gründe, die Lehrkräfte dazu veranlassen“, sagt Probst. „Sie kommen bei nahezu jeder und jedem in unterschiedlicher Mixtur vor.“Erstens: die psychosoziale Belastung. „Lehrkräfte haben ungefähr so viele Sozialkontakte wie eine Kassiererin an der Supermarktkasse, nur dass die nicht jeden Einzelnen bewerten muss“, sagt Probst. „Lehrer zu sein, fordert viel Präsenz und ist emotional sehr belastend.“Hinzu komme ein Gefühl der Sinnentfremdung: Durch den Personalmangel, eine Überfrachtung mit Aufgaben, hätten viele Lehrkräfte nicht das Gefühl, Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. „Sie sind weit entfernt von dem, was sie als gute Lehre empfinden.“Auch mangelnde Weiterentwicklungsmöglichkeiten und eine schlechte Führung seien Gründe, dazu individuelle Probleme.
Gleichzeitig verliert der Beruf der Lehrkraft bei jungen Menschen an Attraktivität. Die Zahl der Studienanfänger ist dem bayerischen Wissenschaftsministerium zufolge innerhalb von fünf Jahren um fast 20 Prozent gesunken. Ferner sind Bayerns Lehrkräfte überdurchschnittlich alt, wie eine neue Auswertung des Statistischen Bundesamts zeigt. Während bundesweit 36,2 Prozent der Pädagogen 50 Jahre und älter sind, liegt die Quote in Bayern mit 37,5 Prozent etwas darüber. Die Teilzeitquote ist deutlich höher als bei anderen Berufsgruppen. Im Freistaat arbeiten 45 Prozent aller Lehrkräfte auf Teilzeitbasis. Natürlich ist das ein Grund für den Personalmangel. Lehrerverbände werten es aber auch als Beweis für die hohe Belastung, die der Beruf mit sich bringt.
Berufscoach Isabell Probst und ihr Team führen jährlich etwa 1500 Erstgespräche mit wechselwilligen Lehrkräften aus allen Bundesländern. Zirka 700 werden ihre Kunden. „Etwa 60 Prozent wechseln tatsächlich den Job, die anderen 40 Prozent setzen den Wechselwunsch nicht um. Den einen wird bewusst, dass sie im Grunde doch glücklich sind mit ihrem Beruf, andere merken, dass die Hürde ihnen zu groß ist.“In welche Branchen wechseln die amtsmüden Lehrkräfte? „Viele bleiben im Bereich Schule“, sagt Probst. „Oftmals arbeiten sie weiter pädagogisch, etwa in der Lerntherapie. Oder sie wechseln ins Bildungs- und Projektmanagement, zu Fortbildungsanbietern oder in den EdTech-Sektor. Unternehmen aus diesen Bereichen stehen um den Patienten Schule herum wie lebenserhaltende Geräte“, versinnbildlicht Probst. „Aber ich hatte auch schon Lehrer, die Bestatter wurden oder einen Erlebnisbauernhof eröffnet haben.“Und doch dürfe man nicht vergessen: „Es gibt auch superviele zufriedene Lehrkräfte.“
Carolin Schütze aus Schwaben hat ihren Ausstieg nicht bereut. Auch sie ist im pädagogischen Bereich geblieben. „Mir war immer klar, dass ich weiterhin mit Kindern arbeiten möchte.“Ihre Schüler von damals vermisst sie trotzdem.
Fünf Gründe sind für den Wechsel ausschlaggebend.