Ewald Arenz: Alte Sorten (14)
Roman von Ewald Arenz
Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgängerinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiedenheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrscht reagiert.
© 2019 DuMont Buchverlag, Köln
Sie zerrte den Sack halb über die Stange des Rads, dann packte sie Sattel und Lenker und zog den Sack mit dem Fahrrad als Hebel hoch. Atemlos hielt sie das Rad einen Augenblick im Gleichgewicht, dann begann sie, es aus dem Feld zurück auf den Weg zu schieben.
Liss rollte die Fässer in die Mitte und hob sie auf die niedrigen Gestelle. Hier im Keller war es so kühl, dass sie ein wenig fröstelte, obwohl die Sonne jetzt endgültig durchgekommen war und durch die Schütte einen breiten Balken Licht schräg in den Raum stellte. Die Flaschen in den Regalen schimmerten grün auf. Der weiche Geruch nach dem Holz der Fässer stieg einen Augenblick zart durch die feuchte Luft, als sie die Deckel abnahm, aber dann bewegte sie sich, und schon verging er. Liss richtete sich auf und atmete tief. Es gab Tage, an denen es schwerer fiel, nur auf das zu sehen, was war. Nicht zurück, nicht vor. Nur auf das, was eben war. Weil ja auch alles, was gerade war, nicht aus dem Nichts kam und nicht ins Nichts ging. Alles hatte eine Geschichte. Selbst Dinge, die sich nicht bewegten, bekamen eine Geschichte.
Was hatte das Mädchen für eine Geschichte? Sie wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, aber das ging nicht. Das Mädchen war da und mit ihm eine Geschichte. Da waren die Narben an den Beinen. Manche hatten außen Narben, manche innen. Ob sie Geschwister hatte? Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Nicht fragen. Es war immer besser, man kannte die Geschichte nicht. Jede Frage und jede Antwort spann einen Faden zwischen dem Mädchen und ihr. Wenn man von jemandem alles wusste, dann konnte man ihn an tausend Fäden halten.
Wie der Vater sie.
Sie zündete den ersten Schwefelfaden an und gab ihn in das Fass. Die Fässer waren nicht dieselben wie vor einem Jahr. Sie hatten sich mit Leben angereichert. Hefen. Bakterien. Pilzen. Es war eben nur ein Leben, das schlecht für den Wein war. Man musste es ausbrennen, wenn der Wein nicht verderben sollte.
Überall waren diese Fäden, Stricke, Bänder gewesen. Sichtbare und unsichtbare. Um einen jungen Baum, dass er gerade wachsen sollte.
Als sie einmal gefragt hatte, warum Bäume eigentlich gerade sein mussten, weil die doch auch so Früchte trugen, hatte sie zwei Nachmittage die Fugen am Straßenrand
von Unkraut freikratzen müssen. Weil es sich so gehört. Weil es so ist. Weil es nicht geht, dass alles gerade so wächst, wie es mag. Jetzt noch, nach all den Jahren, schoss wie aus dem Nichts der Hass brennend aus ihrem Magen hoch in die Kehle, und sie musste schlucken. Sie hatte die Fäden viel zu spät zerschnitten. Ein Baum wuchs nicht mehr, wie er wollte, wenn er schon groß war.
Es begann, intensiv nach Schwefel zu stinken. Sie zündete den zweiten Faden an. Es war eine verlockende Vorstellung, dass man das falsche Leben aus sich selbst ausbrennen könnte wie aus einem Fass.
Ein Schatten im Sonnenstreifen veränderte für einen Augenblick das Licht im Keller. Oben ging jemand über den Hof. Liss stieg auf eines der Regalbretter, hielt sich an einer der Stützen fest und hob sich kurz, um durch die Schütte sehen zu können. Es war Sally - sie konnte die Beine sehen und die feinen Narben an den Oberschenkeln.
Sie schob das Rad in die Scheune. Das Rad.
Das Rad war neu, als Peter sich damit im Weinberg lachend hinunterstürzte, das Haar vom Fahrtwind verweht. Der erste warme Tag in einem Frühjahr, das nach Aufbruch und Neubeginn roch. Die Sonne in seinen Haaren, als er oben auf der Kuppe in den Pedalen stand, das Rad in der Balance hielt, ohne loszufahren. Ein Augenblick, in dem man voller Lust das Glück noch hinauszögerte. Der Weinberg war noch märzleer, aber der kommende Frühling überall zu spüren, und vom Fluss herauf kam der Wind, fuhr durch Peters helle Haare, der in den Pedalen stand und Liss’ Blick auf sich spürte, die Bremse losließ und zu rollen begann. Es ging ihm nicht schnell genug. Es ging ihm nie schnell genug. Er trat kraftvoll, begann, den schmalen Weg hinabzustürzen, als wollte er unten über den Fluss fliegen. Liss folgte ihm auf ihrem Rad, lachte, wenn Weinranken sie peitschten, ließ sich mit dem Rad die steile Straße hinabfallen, Peter hinterher, der die Arme vom Lenker nahm und ausbreitete, als wollte er wirklich fliegen, und Liss schoss es für einen Moment durch den Magen, als sie das sah. Fliegen, schleuderte sie ihm einen Gedanken hinterher, nicht stürzen! Nur fliegen. Und er stürzte nicht, sondern bremste am Fuß des Berges schleudernd in einer kleinen Sandfontäne. Und fiel mitsamt dem Fahrrad in das trockene, noch vom Winter gelbe Gras, und sie musste lachen, weil solche Tage voller Wind und Sonne und Freiheit so selten waren.
Liss schwankte einen Augenblick auf dem Brett. Es war nicht gut, so zu denken. Sie stieg vom Regal. Sie holte die Wannen für die Maische und stapelte sie ineinander. Sie holte die Lesekörbe und legte sie in die Wannen. Sie holte die Rebscheren. Dann fasste sie die Wannen und wuchtete sie hoch, um sie in den Hof zu tragen. Sie waren schwer, aber das passte gerade.