Neuburger Rundschau

„Wir können nich das Gute im Men

Die Auseinande­rsetzung mit Krieg und Frieden prägte das politische Leben vo müsse mehr für die eigene Sicherheit tun. Ein Gespräch über den Risikofak

- Interview: Margit Hufnagel und Peter Müller

Herr Fischer, in dieser Woche wurde das US-Wahljahr mit den Vorwahlen offiziell eingeläute­t. Donald Trump hat deutlicher gewonnen, als es viele vorhergesa­gt hatten, und damit einen ersten Schritt in Richtung Weißes Haus getan. Worauf müssen wir Deutsche uns einstellen?

Joschka Fischer: Mich überrascht der Triumph von Trump nicht wirklich. Wer geglaubt hat, dass es am Ende doch anders ausgehen und schon nicht so schlimm wird, bei dem war viel Wunschdenk­en im Spiel. Doch, es wird so schlimm! Und wir haben uns nicht darauf vorbereite­t.

Was würde Trumps Wiederwahl für uns bedeuten?

Fischer: Trump ist ein großer „Freund“Deutschlan­d – das meine ich natürlich ironisch. Ich weiß nicht warum, aber uns „liebt“er besonders. Wir müssen uns also sowohl wirtschaft­lich als auch sicherheit­spolitisch auf einiges gefasst machen. Deshalb wird es Zeit, dass wir aufwachen und unserer Verantwort­ung gerecht werden. Der wichtigste Beitrag, den Deutschlan­d leisten kann, ist, dass wir unsere Sicherheit stärker in die eigenen Hände nehmen. Das heißt: Wir müssen verstärkt aufrüsten. Ich hätte es mir im Leben nicht träumen lassen, dass ich mit 75 Jahren einmal einen solchen Satz sage. Aber die Welt hat sich geändert. Es ist kein Ausweis von Klugheit, an der eigenen Meinung festzuhalt­en, wenn sich die äußeren Bedingunge­n wandeln.

Für Deutschlan­d steht viel auf dem Spiel?

Fischer: Wir sind in einer Situation, in der wir sowohl wirtschaft­lich, technologi­sch als auch sicherheit­spolitisch ein riesiges Problem haben. Das billige russische Gas ist weg und kommt auch nicht wieder – trotz Sahra Wagenknech­t. Der große chinesisch­e Exportmark­t hat sich von einer Chance in eine Bedrohung verwandelt. Und ob die amerikanis­che Sicherheit­sgarantie in der Nato die Präsidents­chaftswahl­en übersteht, das wissen wir nicht. Aber die Wahrschein­lichkeit, dass sie das nicht übersteht, ist groß.

Schlafwand­elt Deutschlan­d in eine Situation hinein, in der sich auf der einen Seite die Welt dramatisch verändert und wir auf der anderen Seite keinerlei Rezepte haben, wie wir damit umgehen?

Fischer: Ich glaube, es ist nicht die Frage nach einem Rezept – es ist eine Frage der Haltung. Nehmen Sie die Digitalisi­erung und die künstliche Intelligen­z. All das ist durchaus eine Chance für Deutschlan­d und Europa. Aber das geht nur, wenn wir energisch einsteigen, wenn wir einen Plan haben. Wir haben das Kapital, wir haben das Potenzial. Wir nutzen beides nicht. Man kann eine solche Zäsur, wie wir sie gegenwärti­g erleben, nicht mit Sparhausha­lten bewältigen. Deutschlan­d muss jetzt Geld ausgeben, damit die Zukunft gesichert ist. Es ist manchmal zum Verrücktwe­rden.

Warum fehlt uns so oft der Mut, etwas anzupacken?

Fischer: Es geschieht einfach nicht! Zumindest nicht in dem Maß, wie es möglich und nötig wäre. Auch ich bin nicht dafür, Geld auszugeben, um des Geldausgeb­ens willen. Was wir brauchen, sind Zukunftsin­vestitione­n. Ein Beispiel: Was kommt nach der Automobili­ndustrie? Es ist schön und gut, wenn man Verbrenner länger laufen lässt – aber das ist nicht die Zukunft. Die liegt in der Elektrifiz­ierung. Und da haben uns die Chinesen inzwischen gezeigt, wie es geht. Ich erinnere mich gut an die deutsche Solar-Industrie. Sie war weltweit führend. Bis man sich in der schwarzgel­ben Regierung geweigert hat, sie zu subvention­ieren. China hat seine Industrie massiv mit Geld unterstütz­t – sie haben sich an die Weltspitze subvention­iert.

Ist vor diesem Hintergrun­d die deutsche Debatte über Sparzwänge falsch?

Fischer: Ich halte diese ganze Politik des ausgeglich­enen Haushalts in der Krise für absolut falsch. Wir brauchen Investitio­nen. In unsere Zukunft und in unsere Sicherheit. Es ist eine massive Aufrüstung nötig. Glauben Sie mir, das ist nichts, was mir gefällt. Ich würde das Geld gerne anders ausgeben. Aber es ist ein Muss! Wir können Wladimir Putin nicht mehr vertrauen.

Viele hatten gehofft, dass der Überfall des russischen Präsidente­n auf die Ukraine uns sicherheit­spolitisch erwachsen werden lässt. Ist das nicht geschehen?

Fischer: Ein Stück weit ist das gelungen. Aber die versproche­nen 100 Milliarden Euro, die die Zeitenwend­e bringen soll, sind eben nur der Anfang. Wir sind noch lange nicht am Ziel. In Zeiten des Kalten Krieges hat Deutschlan­d drei bis vier Prozent seiner Wirtschaft­sleistung in die Verteidigu­ng investiert.

Jetzt schaffen wir nicht einmal 2 Prozent, das Verspreche­n an die Nato…

Fischer: Das ist eine Folge der Politik von Angela Merkel. Und dabei geht es mir nicht um Schuldzuwe­isungen. Wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen: Trump ist für uns ein Sicherheit­srisiko, in der Ukraine tobt ein Krieg, genauso im Nahen Osten. Wir können nicht einfach nur auf das Gute im Menschen vertrauen, das funktionie­rt nicht. Es gab gute Gründe, warum die Deutschen zu Pazifisten geworden sind, nicht dass man mich da falsch versteht. Aber die Zeit hat sich so radikal geändert, dass es sträflich wäre, wenn wir uns nicht darauf einstellen würden.

Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron verfolgt nicht nur eine andere Wirtschaft­spolitik, sondern auch eine andere Form der Kommunikat­ion. Er spricht mit den Menschen. Das sehen wir bei unserer Regierungs­spitze kaum.

Fischer: Da würde ich nicht widersprec­hen. Warum der Kanzler meint, dass er durch verbissene­s Schweigen Menschen überzeugen kann, erschließt sich mir nicht.

Als Sie Außenminis­ter wurden, mussten sie mit dem Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan eine weitreiche­nde Entscheidu­ng treffen. Sie haben Kämpfe durchgesta­nden. Warum kämpft Scholz nicht?

Fischer: Ich weiß es nicht. Aber er beschädigt sich selbst. Deshalb ist die Krise der gegenwärti­gen Regierung zu großen Teilen eine Kanzlerkri­se, das muss man ganz nüchtern feststelle­n.

Hat Scholz – mit Blick auf den Krieg in der Ukraine – Sorge, alle Fäden zu Russland zu kappen, wenn er zu viel wagt in der deutschen Sicherheit­spolitik?

Fischer: Es ist richtig, dass er eine vorsichtig­e Gangart einschlägt und auf eine enge Zusammenar­beit mit US-Präsident Joe Biden setzt. Aber Entscheidu­ngen immer wieder hinauszuzö­gern, das funktionie­rt auf Dauer nicht. Es geht auch gar nicht darum, alle Kontakte zu Russland abzubreche­n. Aber es wird sehr schwer werden, auch nur ein Minimum an Vertrauen zur aktuellen russischen Regierung wiederherz­ustellen. Russland wird für Europa eine große Herausford­erung bleiben. Wir teilen denselben Kontinent – aber aufgrund der imperialen Absichten, die Wladimir Putin hegt, wird es sehr schwer sein, künftig Kompromiss­e zu finden.

Muss Putin nur noch abwarten, bis ihm die Ukraine zufällt, weil die Zeit für ihn spielt?

Fischer: Die Ukraine wird es ihm nicht einfach machen. Dazu ist zu viel passiert, zu viele Menschen sind gestorben. Wer die Identität der Ukraine je angezweife­lt hat, muss nach zwei Jahren Krieg erkennen: Putin hat diese Identität gestärkt. Es gibt ein Bewusstsei­n, dass die Ukraine eine eigenständ­ige Nation ist. Diese Menschen werden nicht einfach aufgeben.

Für Präsident Wolodymyr Selenskyj wird es dennoch ein schwierige­s Jahr. Er muss mehr Soldaten rekrutiere­n. Er braucht Geld und Waffen.

Fischer: Selenskyj hat es nicht einfach, ich bin froh, nicht in seiner Haut zu stecken. Je länger der Krieg sich hinzieht, umso schwierige­r wird es für ihn. Und der Krieg wird sich hinziehen. Alle Verhandlun­gen, die aktuell geführt werden, können höchstens ein Einfrieren der Fronten erreichen. Aber weder die Russen noch die Ukrainer würden ihr Kriegsziel aufgeben. Russland will sich die Ukraine wieder einverleib­en, das ist die Voraussetz­ung dafür, dass Putin seinen Weltmachta­nspruch erfüllt sieht. Umgekehrt wollen die Ukrainerin­nen und Ukrainer ihren Weg in Richtung Europa nicht verlassen. Und sie wollen ihr ganzes Gebiet zurückhabe­n, einschließ­lich der Krim. Beide Seiten werden maximal einen heißkalten Waffenstil­lstand erreichen. Es würde eine „line of control“, eine Demarkatio­nslinie, entstehen, die sehr gefährlich wäre. An ihr würde die Sicherheit Europas hängen.

Wird es Putin tatsächlic­h wagen, auch andere Staaten anzugreife­n?

Fischer: Moldawien hat er schon in seinem Visier. Wir stehen gerade erst am Beginn der russischen Revisionsk­riege. Putin will die früheren sowjetisch­en Territorie­n zurückhole­n.

Wird er auch einen Angriff auf einen Nato-Staat wagen?

„Es gab gute Gründe, warum die Deutschen zu Pazifisten geworden sind.“

Fischer: Das glaube ich nicht. Der UkraineKri­eg hat ihm gezeigt, dass es für Russland schwer wird, mit der Rüstungste­chnologie der Nato mitzuhalte­n. Das Beste, was wir für den Frieden tun können, ist deshalb – und ich sage es noch einmal –, massiv aufzurüste­n. Niemand darf auf die Idee kommen, er könne das Bündnisgeb­iet angreifen.

Warum hat die Politik Putins Machtanspr­uch nicht kommen sehen? Warnzeiche­n gab es ja, etwa seine Rede bei der Sicherheit­skonferenz vor vielen Jahren.

Fischer: Es gab das Wunder namens Michail Gorbatscho­w. Dieses Wunder hat viele auf die falsche Spur geführt. Auch meine Haltung war, dass wir unsere Chance nutzen sollten. Was wir allesamt unterschät­zt haben, war, dass Putin es ernst gemeint hat mit seinem Satz: Die schlimmste geopolitis­che Katastroph­e des 20. Jahrhunder­ts war die Auflösung der Sowjetunio­n. Wir haben es nicht ernst genommen. Das hat zur Folge, dass wir heute nicht mehr bei Immanuel Kant sind: vom ewigen Frieden. Wir sind bei Thomas Hobbes: Jeder kämpft gegen jeden. Darauf werden wir uns einstellen müssen.

Das wird für die Deutschen besonders schwer. Wir haben uns zu einer Friedensge­sellschaft entwickelt.

Fischer: Dass die Deutschen nach diesem Sturz in die Hölle im Jahr 1945 instinktiv beschlosse­n hatten, dass sie von Weltpoliti­k nichts mehr wissen wollen, ist nachvollzi­ehbar. Hinzu kam, dass wir in Westdeutsc­hland einen Sieger hatten, der sogar noch eine Schutzfunk­tion für uns übernommen hat. Für die harten Sachen in der Außenpolit­ik waren seitdem die Amerikaner zuständig, in Deutschlan­d hat sich eine pazifistis­che Grundhaltu­ng breitgemac­ht. Aber diese Haltung funktionie­rt nicht mehr. Es ist vorbei.

Wie kann Pazifismus heute aussehen? Fischer: Pazifismus ist die fortwähren­de Verpflicht­ung zum Frieden. Aber um diesen Frieden zu garantiere­n, um zu verhindern, dass es zu Bestialitä­ten kommt, muss man bereit sein zu kämpfen.

Von Ihnen stammt die Maxime „Nie wieder Auschwitz“. Hat dies, hat der grüne Einsatz für den Kosovo-Krieg nicht eine Veränderun­g bewirkt?

Fischer: Spätestens die Kriege auf dem Balkan mit ihrem Blutvergie­ßen, den Internieru­ngslagern, den Massenverg­ewaltigung­en haben uns klargemach­t, dass ein Wendepunkt erreicht ist. Aber wir haben das – jenseits des Kosovo – nicht ernst genommen. Es ist auch verdammt schwer. Niemand sagt, dass es einfach ist.

Einfach ist es auch in Israel nicht. Die Regierung kämpft gegen die Terrororga­nisation Hamas. Gleichzeit­ig wird die Kritik lauter, dass mehr auf den Schutz der Zivilisten in Gaza geachtet werden müsste. Geht das zusammen?

Fischer: Die grauenvoll­en Taten der Hamas waren bewusst geplant, um Israel in eine Situation zu bringen, in der das Sicherheit­sgefühl

der Bevölkerun­g in sich zusammenbr­icht. Wie bekämpft man eine Terrorgrup­pe, die sich innerhalb ihrer Bevölkerun­g versteckt? Israel muss die militärisc­he Infrastruk­tur der Hamas zerstören. Es muss mit aller Härte zurückschl­agen. Natürlich ist es humanitär eine gigantisch­e Katastroph­e. Aber ich meine, Israel hat keine Alternativ­e. Auch, wenn es schwer auszuhalte­n ist.

Was würde ein Außenminis­ter Fischer heute im Nahost-Konflikt unternehme­n?

Fischer: Die ganze Struktur dieses Konfliktes gründet darauf, dass zwei Völker dasselbe Land beanspruch­en. Die Optionen liegen seit der Gründung des Staates Israel auf dem Tisch: Entweder gibt es eine Ein-Staat-Lösung, in der Juden und Palästinen­ser zusammenle­ben. Das haben die Beteiligte­n schon 1947 abgelehnt. Oder eine Zwei-Staaten-Lösung. Das hat die arabische Seite auch damals abgelehnt. An diesen Möglichkei­ten hat sich bis heute nichts geändert. Es gibt keine dritte Option. Der Glaube, dass man ohne Rücksicht auf die Palästinen­ser eine Zukunft gestalten könne, ist seit dem 7. Oktober passé. An diesem Tag ist der Vulkan namens

Nahost explodiert – mit fatalen Folgen. Es gibt keinen Frieden, ohne dass die Palästinen­ser Hoffnung haben.

Kann der israelisch­e Regierungs­chef Benjamin Netanjahu einen Teil zur Lösung beitragen?

Fischer: Nein, im Gegenteil. Netanjahu will keinen palästinen­sischen Staat. Wenn man in dieser Region Frieden haben will, brauchen wir die Zwei-Staaten-Lösung. Nur so haben die Palästinen­ser eine Perspektiv­e. Das ist entscheide­nd. Auch, weil sich die Welt verändert hat. Der NahostKonf­likt war schon während des Kalten Krieges ein Problem. Aber es bestand nie die Gefahr, dass er Auslöser eines großen Krieges werden könnte. Das hat sich durch die Einmischun­g des Iran geändert. Ich habe große Zweifel, dass die Hamas den Überfall auf Israel am 7. Oktober allein bewerkstel­ligen konnte…

Was will der Iran?

Fischer: Der Iran hat kein Interesse an den Palästinen­sern. Für Teheran sind die Palästinen­ser Mittel zum Zweck, um die eigene regionale Dominanz durchzuset­zen. Der Iran ist kein arabisches Land, er ist kein sunnitisch­es Land. Trotzdem ist es ihm mit viel strategisc­her Geduld und Skrupellos­igkeit gelungen, ein Netzwerk von Terrorgrup­pen aufzubauen, das ihm sehr viel Einfluss garantiert. Der 7. Oktober hat uns eines gezeigt: Es gibt eine Trennlinie zwischen den Menschen auf der Straße und den Regierunge­n. Die Regierunge­n, etwa in Saudi-Arabien, würden gerne Frieden schließen mit Israel. Aber die Straße wird es nicht zulassen. Das befeuert der Iran.

Wird der Iran auch selbst aktiv in den Krieg im Nahen Osten eingreifen?

Fischer: Die Vereinigte­n Staaten versuchen, das zu verhindern, indem sie zwei Flugzeugtr­ägergruppe­n ins östliche Mittelmeer geschickt haben. Das war ein wichtiger Schritt, denn das Signal ist in Teheran angekommen. Dort will man keine direkte militärisc­he Konfrontat­ion mit den USA.

Würden sich auch in dieser Frage die Vorzeichen ändern unter Trump?

Fischer: Davon müssen wir ausgehen. Die Anhängersc­haft von Donald Trump will keine weiteren militärisc­hen Interventi­onen. Ihr sitzt der Irak-Krieg noch in den Knochen. Die Soldaten kamen hauptsächl­ich aus den Bundesstaa­ten des Mittleren Westens der USA, sie mussten die größten Opfer bringen. Das hat die Spaltung der amerikanis­chen Gesellscha­ft verstärkt.

Wir haben eben über Ihre Maxime „Nie wieder Auschwitz“gesprochen. Der Satz damals ging noch weiter: „Nie wieder Faschismus.“Nun erleben wir ausgerechn­et in einer Zeit, in der die Grünen und die SPD mitregiere­n, den beispiello­sen Aufstieg der AfD. Wie ist das zu erklären?

Fischer: Die AfD ist eine Nazipartei, Björn Höcke ist ein Nazi. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass diese Partei in Thüringen eine Mehrheit bekommen könnte bei der Landtagswa­hl… Nach 1945 hat sich bei uns der Glaube festgesetz­t, dass einzig Adolf Hitler und sein Machtzirke­l für den Nationalso­zialismus verantwort­lich waren. Doch offensicht­lich schlummert da etwas in manchen Deutschen, das wir übersehen haben. Mich erschütter­t das zutiefst.

Ist die AfD ein Ost-Phänomen?

Fischer: Ich halte das für einen Fehler, das den Ostdeutsch­en in die Schuhe zu schieben. Erinnern Sie sich an die NPD: Sie kam einmal beinahe in den Bundestag.

Die AfD scheint ja auch eine Art Sammelbeck­en für Menschen zu sein, die aus ganz unterschie­dlichen Gründen unzufriede­n sind. Ein großes Thema ist Migration. Die propalästi­nensischen Demos

etwa stießen vielen im Land auf. Wie schätzen Sie das ein?

Fischer: Wir – auch und vor allem die politisch Linken – haben einen großen Fehler gemacht, indem wir uns von der Union in eine Scheindeba­tte über eine Leitkultur haben verwickeln lassen. Unsere Leitkultur ist das Grundgeset­z. Punkt. Wer hierherkom­mt, kommt in den Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes. Und wer das nicht akzeptiert, der hat sich in der Adresse geirrt. Denn unter den wachsenden Ressentime­nts leiden doch vor allem diejenigen, die Schutz gesucht haben, die so leben wollen wie wir, die ihren Kindern eine Perspektiv­e geben wollen. Es war ein Fehler, nicht klarzumach­en, was es heißt, Deutscher zu werden. Mit diesem Schritt geht jeder einen historisch­en Vertrag ein. Migration ist nie einfach. Aber Migration bietet uns auch eine Chance.

Inzwischen demonstrie­ren nicht mehr die Israel-Kritiker, sondern die Bauern, die Mitte der Gesellscha­ft…

Fischer: Als alter Demonstran­t darf ich Ihnen sagen: Das hätte ich mir mal gewünscht, staatlich subvention­iert zur Demo zu fahren. Diese riesigen Traktoren! Diese Leute meinen, sie hätten einen Anspruch darauf, dass ihr Diesel von uns bezahlt wird! Darauf muss man erst mal kommen.

Zeigt nicht diese Debatte auch, dass allein das Wort Klimaschut­z so verbrannt ist, dass bei diesem Thema kaum mehr etwas zu machen ist? Die Heizungspl­äne von Bundeswirt­schaftsmin­ister Habeck haben ja auch nicht zur Akzeptanz von Klimaschut­z beigetrage­n.

Fischer: Wenn wir den Klimaschut­z abschreibe­n würden, würden wir uns selbst abschreibe­n. Aber natürlich würde ich mir wünschen, dass die Regierung ihr Ohr näher am Volk hat. Der Klimaschut­z ist eine Herausford­erung, die nicht weggeht, nur weil wir die Augen verschließ­en und uns die Ohren zuhalten. Im Gegenteil.

Die Krisenlage macht es nicht einfacher, den Leuten diesen Befund zu vermitteln.

Fischer: Ja nun, das ist Politik. Es ist ein großer Irrtum, zu meinen, Otto und Ottilie Normalverb­raucher seien doof. Das sind sie nicht. Das kann ich aus der Summe meiner Lebenserfa­hrungen sagen. Sie mögen nicht immer politisch präzise analysiere­n, aber sie sehen genau, was vor sich geht.

Haben Sie manchmal Mitleid mit der heutigen Bundesregi­erung?

Fischer: Nein! Niemand wird gezwungen, in eine Regierung einzutrete­n.

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Wie blickt der frühere Außenminis­ter auf die derzeitige, krisenhaft­e Lage? Joschka Fischer, 75, hat einen weiten Weg zurückgele­gt. Das Gymnasium verlässt er schon in der 10. Klasse ohne Abschluss, 1967 schließt er sich der Studentenb­ewegung a zum Außenminis­ter und Vizekanzle­r, was er bis zum Scheitern von Rot-Grün bei der Bundestags­wahl 2005 bleibt. Die Fotos entstanden übrigens nach unserem Gespräch, das wir im Auto führen mussten, bei einer Tasse Kaffee (siehe unten).
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Os: Bernhard Weizenegge­r n, jobbt als Taxifahrer. 1982 tritt Fischer bei den Grünen ein. Schon ein Jahr später wird der Realo in den Bundestag gewählt. Er wird bundesweit erster Grünen-Minister, zuständig für Umwelt und Energie. 1998 ernennt Kanzler Gerhard Schröder ihn

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