Neuburger Rundschau

Schlag auf Schlag gegen die Angst

Lena ist 13, als Panikattac­ken sie heimsuchen. Aus der Not heraus beginnt sie mit dem Boxen. In einem Studio in Neuburg bekämpft sie ihre Angst – und greift jetzt an.

- Von Andreas Zidar

Es ist der zweite Schultag in der achten Klasse, als Lenas Körper zum ersten Mal Alarm schlägt. Das Herz klopft wie verrückt, die Luft bleibt weg, sie zittert von Kopf bis Fuß. Die Symptome kommen plötzlich, ohne Vorwarnung. Die damals 13-Jährige weiß nicht, was mit ihr passiert, hat Todesangst. Was die Jugendlich­e aus dem Raum Neuburg zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen kann: Körperlich ist offenbar alles in Ordnung. Doch die Panikattac­ken werden wieder kommen, immer und immer wieder. Im Nachhinein bezeichnet die Schülerin das, was sie in den folgenden Monaten und Jahren durchmacht, als „Hölle“. Heute kann die 16-Jährige voller Überzeugun­g sagen: „Mir geht es einfach nur gut.“Und sie erzählt stolz ihre Geschichte. Es ist die einer Jugendlich­en, die sich von ganz unten zurück ins Leben gekämpft hat.

Lena – die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte – und ihre Familie können sich bis heute nicht erklären, warum ihr Körper im September 2020 plötzlich anfing verrücktzu­spielen.

Nach der ersten Attacke im Klassenzim­mer, die nicht nur die 13-Jährige selbst, sondern auch Lehrer und Mitschüler­innen ratlos zurückläss­t, besucht die Jugendlich­e einen Arzt nach dem anderen. Körperlich können die Mediziner nichts finden. Doch die Anfälle kehren zurück. Als ein permanente­s Zittern hinzukommt, klappert die Familie erneut einen Arzt nach dem anderen ab, ohne Erfolg. Ein Teufelskre­is beginnt. Mitschüler­innen wenden sich ab, wollen nichts mehr mit der „Kranken“zu tun haben. Lena fühlt sich ausgegrenz­t, nicht akzeptiert, als Sonderling. Sie muss Prüfungen getrennt von der Klasse, in einem eigenen Raum oder sogar im Gang schreiben, um Mitschüler­innen nicht zu stören. So greift Lenas Verunsiche­rung immer tiefer, und die Attacken suchen sie immer regelmäßig­er heim.

Bis zu sechsmal täglich übermannt sie die Panik. Jedes Mal muss sie aus dem Klassenzim­mer eilen, in eine Tüte atmen, um sich irgendwie zu beruhigen. Die Angst vor der Angst bestimmt in diesen Monaten ihr Leben. Lena traut sich nicht mehr in den Schulbus, muss überall hingefahre­n werden. Sie zieht sich vollständi­g zurück und kommt auch zu Hause kaum noch aus ihrem Zimmer, was die Eltern ebenfalls stark belastet. Doch die Familie hält zusammen. Lena schafft im vergangene­n Jahr den Realschula­bschluss, worauf alle mächtig stolz sind. Alle wissen aber auch: So kann es nicht weitergehe­n. Die Jugendlich­e verbringt einige Wochen in einer Klinik in München. Die wirkliche Wende bringt jedoch etwas anderes.

Eine Arbeitskol­legin erzählt Lenas Mutter vom Gladiator Fightclub in der Neuburger Schrannens­traße. In ihrer Verzweiflu­ng schickt sie ihre Tochter dorthin. Trotz ständiger Panikattac­ken und komplett verlorenem Selbstbewu­sstsein zum Training in ein Boxstudio, obwohl sie zuvor nie richtig Sport gemacht hat? Die Jugendlich­e sträubt sich massiv, doch die Mutter bleibt hartnäckig – in der Hoffnung, ihrer Tochter ein neues Körpergefü­hl zu ermögliche­n.

Mit Erfolg. Lena wagt den Schritt, und von da an geht es bergauf. Trainer Yannick Schneider führt das verängstig­te Mädchen behutsam in die Welt des Boxens ein. Zu Beginn bekommt es Einzeltrai­ning. Erst nach und nach muss sich Lena dem Gruppentra­ining

stellen. Doch sie merkt schnell: Hier, zwischen Boxsäcken und Boxring, wird sie akzeptiert, wie sie ist. „Ich konnte das erste Mal offen darüber reden, dass ich Panikattac­ken habe, und niemand hat mich verurteilt.“Lena wird in die Gruppe integriert, gehört nun dazu – ein Gefühl, das sie vorher nicht kannte. „Das ist so toll“, schwärmt sie. Dazu kommt: Die 16-Jährige geht körperlich an ihre Grenzen – ein gutes Mittel gegen die Panikzustä­nde. Mit jedem Schlag in die Luft oder in die Polster des Gegenübers verpasst sie auch ihrer eigenen Angst einen Haken, mit jedem Liegestütz und jeder Schweißper­le lässt sie ihr altes Ich weiter hinter sich.

So wird aus einem Experiment eine Leidenscha­ft. Vier, fünf Mal in der Woche kommt sie ins Training, einmal war sie sogar täglich da. Ihr aktueller Coach Egzon Gashi gerät ins Schwärmen. „Sie ist häufig die Erste im Training und die Letzte, die geht.“20 Jahre Erfahrung habe

Gashi im Boxen, war selbst als Profi im Ring. „Ich habe selten jemanden gehabt, der so schnell Fortschrit­te macht.“Dabei sei eine Geschichte wie die von Lena in seinem Sport keine Ausnahme. „Viele, die kommen, sind in einer ähnlichen Situation“, berichtet der Studio-Inhaber.

Lena sehe man heute nicht mehr an, warum sie im vergangene­n Sommer vor der Türe stand. Zu selbstbewu­sst, zu zielstrebi­g gibt sie sich. Und tatsächlic­h, das Boxen hat den Zustand der Jugendlich­en deutlich verbessert. Panik komme in ihr nur noch selten auf, und dann viel schwächer als früher, erzählt sie. Ihr Fokus liegt auf einem großen Ziel, ein Box-Wettkampf gegen eine richtige Gegnerin – bislang schlägt sie nur so, dass niemand zu Schaden kommt. Trainer Egzon Gashi verspricht: Wenn Lena weiter so hart arbeitet, darf sie in diesem Jahr in den Ring steigen.

Ein Gedanke, der die 16-Jährige beflügelt. Mittlerwei­le geht sie auf die FOS in Ingolstadt. Dass sie dorthin alleine mit dem Bus fährt, ist nicht mehr der Rede wert. Später will sie mal Richterin werden, erzählt Lena. Ein hohes Ziel. Aber sie hat wieder gelernt zu träumen.

Sie trainiert für einen richtigen Boxkampf

 ?? Foto: Andreas Zidar ?? Ankämpfen gegen die Angst: Durch das Boxtrainin­g bei Egzon Gashi (links) in Neuburg bekam Lena ihre Panikattac­ken in den Griff.
Foto: Andreas Zidar Ankämpfen gegen die Angst: Durch das Boxtrainin­g bei Egzon Gashi (links) in Neuburg bekam Lena ihre Panikattac­ken in den Griff.

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