Schlag auf Schlag gegen die Angst
Lena ist 13, als Panikattacken sie heimsuchen. Aus der Not heraus beginnt sie mit dem Boxen. In einem Studio in Neuburg bekämpft sie ihre Angst – und greift jetzt an.
Es ist der zweite Schultag in der achten Klasse, als Lenas Körper zum ersten Mal Alarm schlägt. Das Herz klopft wie verrückt, die Luft bleibt weg, sie zittert von Kopf bis Fuß. Die Symptome kommen plötzlich, ohne Vorwarnung. Die damals 13-Jährige weiß nicht, was mit ihr passiert, hat Todesangst. Was die Jugendliche aus dem Raum Neuburg zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen kann: Körperlich ist offenbar alles in Ordnung. Doch die Panikattacken werden wieder kommen, immer und immer wieder. Im Nachhinein bezeichnet die Schülerin das, was sie in den folgenden Monaten und Jahren durchmacht, als „Hölle“. Heute kann die 16-Jährige voller Überzeugung sagen: „Mir geht es einfach nur gut.“Und sie erzählt stolz ihre Geschichte. Es ist die einer Jugendlichen, die sich von ganz unten zurück ins Leben gekämpft hat.
Lena – die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte – und ihre Familie können sich bis heute nicht erklären, warum ihr Körper im September 2020 plötzlich anfing verrücktzuspielen.
Nach der ersten Attacke im Klassenzimmer, die nicht nur die 13-Jährige selbst, sondern auch Lehrer und Mitschülerinnen ratlos zurücklässt, besucht die Jugendliche einen Arzt nach dem anderen. Körperlich können die Mediziner nichts finden. Doch die Anfälle kehren zurück. Als ein permanentes Zittern hinzukommt, klappert die Familie erneut einen Arzt nach dem anderen ab, ohne Erfolg. Ein Teufelskreis beginnt. Mitschülerinnen wenden sich ab, wollen nichts mehr mit der „Kranken“zu tun haben. Lena fühlt sich ausgegrenzt, nicht akzeptiert, als Sonderling. Sie muss Prüfungen getrennt von der Klasse, in einem eigenen Raum oder sogar im Gang schreiben, um Mitschülerinnen nicht zu stören. So greift Lenas Verunsicherung immer tiefer, und die Attacken suchen sie immer regelmäßiger heim.
Bis zu sechsmal täglich übermannt sie die Panik. Jedes Mal muss sie aus dem Klassenzimmer eilen, in eine Tüte atmen, um sich irgendwie zu beruhigen. Die Angst vor der Angst bestimmt in diesen Monaten ihr Leben. Lena traut sich nicht mehr in den Schulbus, muss überall hingefahren werden. Sie zieht sich vollständig zurück und kommt auch zu Hause kaum noch aus ihrem Zimmer, was die Eltern ebenfalls stark belastet. Doch die Familie hält zusammen. Lena schafft im vergangenen Jahr den Realschulabschluss, worauf alle mächtig stolz sind. Alle wissen aber auch: So kann es nicht weitergehen. Die Jugendliche verbringt einige Wochen in einer Klinik in München. Die wirkliche Wende bringt jedoch etwas anderes.
Eine Arbeitskollegin erzählt Lenas Mutter vom Gladiator Fightclub in der Neuburger Schrannenstraße. In ihrer Verzweiflung schickt sie ihre Tochter dorthin. Trotz ständiger Panikattacken und komplett verlorenem Selbstbewusstsein zum Training in ein Boxstudio, obwohl sie zuvor nie richtig Sport gemacht hat? Die Jugendliche sträubt sich massiv, doch die Mutter bleibt hartnäckig – in der Hoffnung, ihrer Tochter ein neues Körpergefühl zu ermöglichen.
Mit Erfolg. Lena wagt den Schritt, und von da an geht es bergauf. Trainer Yannick Schneider führt das verängstigte Mädchen behutsam in die Welt des Boxens ein. Zu Beginn bekommt es Einzeltraining. Erst nach und nach muss sich Lena dem Gruppentraining
stellen. Doch sie merkt schnell: Hier, zwischen Boxsäcken und Boxring, wird sie akzeptiert, wie sie ist. „Ich konnte das erste Mal offen darüber reden, dass ich Panikattacken habe, und niemand hat mich verurteilt.“Lena wird in die Gruppe integriert, gehört nun dazu – ein Gefühl, das sie vorher nicht kannte. „Das ist so toll“, schwärmt sie. Dazu kommt: Die 16-Jährige geht körperlich an ihre Grenzen – ein gutes Mittel gegen die Panikzustände. Mit jedem Schlag in die Luft oder in die Polster des Gegenübers verpasst sie auch ihrer eigenen Angst einen Haken, mit jedem Liegestütz und jeder Schweißperle lässt sie ihr altes Ich weiter hinter sich.
So wird aus einem Experiment eine Leidenschaft. Vier, fünf Mal in der Woche kommt sie ins Training, einmal war sie sogar täglich da. Ihr aktueller Coach Egzon Gashi gerät ins Schwärmen. „Sie ist häufig die Erste im Training und die Letzte, die geht.“20 Jahre Erfahrung habe
Gashi im Boxen, war selbst als Profi im Ring. „Ich habe selten jemanden gehabt, der so schnell Fortschritte macht.“Dabei sei eine Geschichte wie die von Lena in seinem Sport keine Ausnahme. „Viele, die kommen, sind in einer ähnlichen Situation“, berichtet der Studio-Inhaber.
Lena sehe man heute nicht mehr an, warum sie im vergangenen Sommer vor der Türe stand. Zu selbstbewusst, zu zielstrebig gibt sie sich. Und tatsächlich, das Boxen hat den Zustand der Jugendlichen deutlich verbessert. Panik komme in ihr nur noch selten auf, und dann viel schwächer als früher, erzählt sie. Ihr Fokus liegt auf einem großen Ziel, ein Box-Wettkampf gegen eine richtige Gegnerin – bislang schlägt sie nur so, dass niemand zu Schaden kommt. Trainer Egzon Gashi verspricht: Wenn Lena weiter so hart arbeitet, darf sie in diesem Jahr in den Ring steigen.
Ein Gedanke, der die 16-Jährige beflügelt. Mittlerweile geht sie auf die FOS in Ingolstadt. Dass sie dorthin alleine mit dem Bus fährt, ist nicht mehr der Rede wert. Später will sie mal Richterin werden, erzählt Lena. Ein hohes Ziel. Aber sie hat wieder gelernt zu träumen.
Sie trainiert für einen richtigen Boxkampf